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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die deutsche Uolonialpolitik und die öffentliche Meinung

als den ureigner Willen der Gesamtheit irren, wie sich zum Beispiel Na¬
poleon III. über die wahrscheinliche Haltung der Deutschen beim Ausbruche
eines Krieges einer großen Verblendung hingegeben hatte, die er teuer bezahlen
mußte, und die sich bitter an ihm rächte. Es giebt eine falsche und eine
wahre öffentliche Meinung, wie es eine tendenziöse und eine objektive Geschicht¬
schreibung giebt. Ebenso kann man zwischen der öffentlichen Meinung des
Tages, des Jahres und der eines Geschlechts und selbst eines oder mehrerer
Jahrhunderte unterscheiden.

Wenn sich die öffentliche Meinung auch leiten, belehren, tadeln, aufklären
und ebenso irreführen, falsch unterrichten, bethören, trüben und falschen läßt,
so bewahrt sie selbst doch andrerseits, selbst wenn sie von den leitenden Kreise",
die die Gesetze machen und die Geschäfte führen, nicht objektiv richtig erkannt,
sondern subjektiv verkehrt beurteilt wird, ihren wesentlichen und mitbestimmenden
Einfluß auf die Leitung und Regelung der allgemeinen Angelegenheiten. Es
kann vorkommen, daß sie zu manchen Dingen gänzlich schweigt, oder daß sie
sich zersplittert und durch innere Uneinigkeit kühne, oder daß sie sich zu keiner
rechten Entschlossenheit durchringt, es kann aber auch sein, daß sie durch ihre
starke Strömung jeden Widerstand unmöglich macht und ihren Willen friedlich
oder mit Gewalt unweigerlich zum Gesetz erhebt.

Nachdem sich der erste deutsche Kaiser und der erste deutsche Reichskanzler
für die Erwerbung von Kolonien entschieden hatten, war die öffentliche Mei¬
nung gezwungen, zu der Kolonialpolitik Stellung zu nehmen. So wenig auch
eine so kurze Spanne Zeit wie die paar Jahre seit 1884 für das Leben einer
Nation bedeutet, wenn sie nicht durch große Ereignisse ausgefüllt ist, so kann
man doch den Versuch machen, das Ergebnis dieser Stellungnahme in kurzen
.Zügen darzulegen. Eine Erörterung, ob wir Deutschen überhaupt Kolonien
haben sollen und wollen oder nicht, wäre natürlich überflüssig, denn die Ent¬
scheidung darüber ist eben thatsächlich in sehr zustimmenden Sinne gefällt, es
handelt sich nur darum, ob die Kolonialpolitik an Gunst und Gönnern, an
Zuneigung und Beliebtheit verloren oder gewonnen hat, und welche Wünsche
in Bezug auf gewisse Punkte die öffentliche Meinung mehr oder minder deut¬
lich geäußert hat. Aber es scheint uns dabei wesentlich, besonders zu betonen,
daß wir uns nur erst, wie wir wenigstens glauben, in den Anfängen einer
deutschen Kolonialpolitik befinden, und zwar am Beginn einer, abgesehen von
den Unternehmungen des Großen Kurfürsten von Brandenburg, für Deutsch¬
land völlig neuen Lanfbcihn, daß also die deutsche öffentliche Meinung zu der
in dem geeinten Reiche eröffneten Kolonialära in einem ähnlichen Verhältnis
steht, wie etwa das englische Publikum des sechzehnten und siebzehnten und
das französische des achtzehnten Jahrhunderts zu seinen damaligen überseeischen
Anfängen vou Koloniegründungen. Freilich kann sich niemand anmaßen, zu
wissen, welchen besondern Weg nun die Geschichte der Zukunft Deutschlands


Die deutsche Uolonialpolitik und die öffentliche Meinung

als den ureigner Willen der Gesamtheit irren, wie sich zum Beispiel Na¬
poleon III. über die wahrscheinliche Haltung der Deutschen beim Ausbruche
eines Krieges einer großen Verblendung hingegeben hatte, die er teuer bezahlen
mußte, und die sich bitter an ihm rächte. Es giebt eine falsche und eine
wahre öffentliche Meinung, wie es eine tendenziöse und eine objektive Geschicht¬
schreibung giebt. Ebenso kann man zwischen der öffentlichen Meinung des
Tages, des Jahres und der eines Geschlechts und selbst eines oder mehrerer
Jahrhunderte unterscheiden.

Wenn sich die öffentliche Meinung auch leiten, belehren, tadeln, aufklären
und ebenso irreführen, falsch unterrichten, bethören, trüben und falschen läßt,
so bewahrt sie selbst doch andrerseits, selbst wenn sie von den leitenden Kreise»,
die die Gesetze machen und die Geschäfte führen, nicht objektiv richtig erkannt,
sondern subjektiv verkehrt beurteilt wird, ihren wesentlichen und mitbestimmenden
Einfluß auf die Leitung und Regelung der allgemeinen Angelegenheiten. Es
kann vorkommen, daß sie zu manchen Dingen gänzlich schweigt, oder daß sie
sich zersplittert und durch innere Uneinigkeit kühne, oder daß sie sich zu keiner
rechten Entschlossenheit durchringt, es kann aber auch sein, daß sie durch ihre
starke Strömung jeden Widerstand unmöglich macht und ihren Willen friedlich
oder mit Gewalt unweigerlich zum Gesetz erhebt.

Nachdem sich der erste deutsche Kaiser und der erste deutsche Reichskanzler
für die Erwerbung von Kolonien entschieden hatten, war die öffentliche Mei¬
nung gezwungen, zu der Kolonialpolitik Stellung zu nehmen. So wenig auch
eine so kurze Spanne Zeit wie die paar Jahre seit 1884 für das Leben einer
Nation bedeutet, wenn sie nicht durch große Ereignisse ausgefüllt ist, so kann
man doch den Versuch machen, das Ergebnis dieser Stellungnahme in kurzen
.Zügen darzulegen. Eine Erörterung, ob wir Deutschen überhaupt Kolonien
haben sollen und wollen oder nicht, wäre natürlich überflüssig, denn die Ent¬
scheidung darüber ist eben thatsächlich in sehr zustimmenden Sinne gefällt, es
handelt sich nur darum, ob die Kolonialpolitik an Gunst und Gönnern, an
Zuneigung und Beliebtheit verloren oder gewonnen hat, und welche Wünsche
in Bezug auf gewisse Punkte die öffentliche Meinung mehr oder minder deut¬
lich geäußert hat. Aber es scheint uns dabei wesentlich, besonders zu betonen,
daß wir uns nur erst, wie wir wenigstens glauben, in den Anfängen einer
deutschen Kolonialpolitik befinden, und zwar am Beginn einer, abgesehen von
den Unternehmungen des Großen Kurfürsten von Brandenburg, für Deutsch¬
land völlig neuen Lanfbcihn, daß also die deutsche öffentliche Meinung zu der
in dem geeinten Reiche eröffneten Kolonialära in einem ähnlichen Verhältnis
steht, wie etwa das englische Publikum des sechzehnten und siebzehnten und
das französische des achtzehnten Jahrhunderts zu seinen damaligen überseeischen
Anfängen vou Koloniegründungen. Freilich kann sich niemand anmaßen, zu
wissen, welchen besondern Weg nun die Geschichte der Zukunft Deutschlands


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/207>, abgerufen am 23.07.2024.