Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die deutsche Aolonialpolitik und die öffentliche Meinung

läßt. Wie man weiß, beiß es einen Willen giebt, ohne daß man sagen kann,
was der Wille eigentlich ist, so giebt es auch eine öffentliche Meinung, aber
wie soll man sie beschreiben und den Begriff bestimmen? Was ist sie denn?

Die Frage ist um so schwieriger zu beantworten, wenn sie überhaupt
erschöpfend beantwortet werden kann, als sich die öffentliche Meinung aus
einer Mischung verschiedner Stosse zusammensetzt: das ganze Geistesleben eines
Volkes trügt zu ihrer Bildung bei, also die mündliche Unterhaltung daheim
und auf Reisen, zu Hause und im Gastzimmer, der Unterricht, die Predigt
und die öffentliche Rede, der Inhalt der Zeitungen und Zeitschriften, die
Äußerungen und Beschlüsse der Parteien und die Beratungen der Parlamente,
die Entschließungen und Anordnungen der Behörden. Es gehört auch alles
dazu, was das Volk als Gesamtheit an dunkeln Ahnungen und Empfindungen
hat, ohne sich dessen recht bewußt zu werden, was es instinktiv erstrebt und
begehrt, ohne es mit aller Deutlichkeit als seine Meinung vorschreiben zu
können. Die öffentliche Meinung besteht also Wohl aus einer Reihe von be¬
rechenbaren Bestandteilen, aber es tritt etwas wechselndes und manchmal
höchstens annähernd festzustellendes unberechenbares hinzu.

Es ist eine Kunst, die nur großen staatsmännischen Naturen gegeben ist,
der öffentlichen Meinung "an den Puls zu fühlen," ihr die Diagnose zu
stellen und ihr die richtigen Mittel zur Gesundung und Erstarkung zu ver¬
ordnen. Fürst Bismarck war ein Meister dieser Kunst, ihr Ausfluß ist auch
unsre deutsche Kolonialpolitik geworden. Eine einzelne Persönlichkeit kann die
öffentliche Meinung, uuter der wir also keineswegs nur den Willen der Mehr¬
heit in demokratischen Sinne, das heißt mit Rücksicht auf die Abstimmung,
verstehen, in dem Grade beherrschen, daß sie sich seinem überlegnen
Geiste willig unterordnet, sodaß gewissermaßen der Geist dieses einen die
öffentliche Meinung ist, und ebenso kann die Regierung im ganzen oder auch
eine Partei oder eine parlamentarische Mehrheit oder Minderheit oder selbst
eine Zeitung oder Zeitschrift die Führung haben, übernehmen oder an sich
reißen. Die öffentliche Meinung kann sich ihrem Wesen nach entweder vor
den Augen aller Welt oder in der Stille und im Verborgnen lenken und re¬
gieren lassen; es können auch gewisse leitende Kreise in dem Glauben befangen
sein, die Zügel in der Hand zu haben, während sie sie in Wirklichkeit längst
an andre abgegeben haben. Nur die Wahrheit kann auf die Dauer ihre
Macht und ihr Ansetzn behaupten, aber vorübergehend können auch Lug und
Trug den Sieg davontragen, und in gewissen einzelnen Fragen, die das ganze
Volk angehen, kann durch eine geschickte Agitation "eine" öffentliche Meinung
"gemacht" werden. Die öffentliche Meinung, aber eben nur die unechte, die
künstlich aufgebauschte, die Talmimeinung, gerät dadurch in Mißachtung, daß
sie als Parteischlagwort, als Blend- und Spiegelwerk ausgenutzt wird. Aus¬
länder können sich leichter als Inländer über die wahre öffentliche Meinung


Die deutsche Aolonialpolitik und die öffentliche Meinung

läßt. Wie man weiß, beiß es einen Willen giebt, ohne daß man sagen kann,
was der Wille eigentlich ist, so giebt es auch eine öffentliche Meinung, aber
wie soll man sie beschreiben und den Begriff bestimmen? Was ist sie denn?

Die Frage ist um so schwieriger zu beantworten, wenn sie überhaupt
erschöpfend beantwortet werden kann, als sich die öffentliche Meinung aus
einer Mischung verschiedner Stosse zusammensetzt: das ganze Geistesleben eines
Volkes trügt zu ihrer Bildung bei, also die mündliche Unterhaltung daheim
und auf Reisen, zu Hause und im Gastzimmer, der Unterricht, die Predigt
und die öffentliche Rede, der Inhalt der Zeitungen und Zeitschriften, die
Äußerungen und Beschlüsse der Parteien und die Beratungen der Parlamente,
die Entschließungen und Anordnungen der Behörden. Es gehört auch alles
dazu, was das Volk als Gesamtheit an dunkeln Ahnungen und Empfindungen
hat, ohne sich dessen recht bewußt zu werden, was es instinktiv erstrebt und
begehrt, ohne es mit aller Deutlichkeit als seine Meinung vorschreiben zu
können. Die öffentliche Meinung besteht also Wohl aus einer Reihe von be¬
rechenbaren Bestandteilen, aber es tritt etwas wechselndes und manchmal
höchstens annähernd festzustellendes unberechenbares hinzu.

Es ist eine Kunst, die nur großen staatsmännischen Naturen gegeben ist,
der öffentlichen Meinung „an den Puls zu fühlen," ihr die Diagnose zu
stellen und ihr die richtigen Mittel zur Gesundung und Erstarkung zu ver¬
ordnen. Fürst Bismarck war ein Meister dieser Kunst, ihr Ausfluß ist auch
unsre deutsche Kolonialpolitik geworden. Eine einzelne Persönlichkeit kann die
öffentliche Meinung, uuter der wir also keineswegs nur den Willen der Mehr¬
heit in demokratischen Sinne, das heißt mit Rücksicht auf die Abstimmung,
verstehen, in dem Grade beherrschen, daß sie sich seinem überlegnen
Geiste willig unterordnet, sodaß gewissermaßen der Geist dieses einen die
öffentliche Meinung ist, und ebenso kann die Regierung im ganzen oder auch
eine Partei oder eine parlamentarische Mehrheit oder Minderheit oder selbst
eine Zeitung oder Zeitschrift die Führung haben, übernehmen oder an sich
reißen. Die öffentliche Meinung kann sich ihrem Wesen nach entweder vor
den Augen aller Welt oder in der Stille und im Verborgnen lenken und re¬
gieren lassen; es können auch gewisse leitende Kreise in dem Glauben befangen
sein, die Zügel in der Hand zu haben, während sie sie in Wirklichkeit längst
an andre abgegeben haben. Nur die Wahrheit kann auf die Dauer ihre
Macht und ihr Ansetzn behaupten, aber vorübergehend können auch Lug und
Trug den Sieg davontragen, und in gewissen einzelnen Fragen, die das ganze
Volk angehen, kann durch eine geschickte Agitation „eine" öffentliche Meinung
„gemacht" werden. Die öffentliche Meinung, aber eben nur die unechte, die
künstlich aufgebauschte, die Talmimeinung, gerät dadurch in Mißachtung, daß
sie als Parteischlagwort, als Blend- und Spiegelwerk ausgenutzt wird. Aus¬
länder können sich leichter als Inländer über die wahre öffentliche Meinung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0206" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213320"/>
          <fw type="header" place="top"> Die deutsche Aolonialpolitik und die öffentliche Meinung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_613" prev="#ID_612"> läßt. Wie man weiß, beiß es einen Willen giebt, ohne daß man sagen kann,<lb/>
was der Wille eigentlich ist, so giebt es auch eine öffentliche Meinung, aber<lb/>
wie soll man sie beschreiben und den Begriff bestimmen? Was ist sie denn?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_614"> Die Frage ist um so schwieriger zu beantworten, wenn sie überhaupt<lb/>
erschöpfend beantwortet werden kann, als sich die öffentliche Meinung aus<lb/>
einer Mischung verschiedner Stosse zusammensetzt: das ganze Geistesleben eines<lb/>
Volkes trügt zu ihrer Bildung bei, also die mündliche Unterhaltung daheim<lb/>
und auf Reisen, zu Hause und im Gastzimmer, der Unterricht, die Predigt<lb/>
und die öffentliche Rede, der Inhalt der Zeitungen und Zeitschriften, die<lb/>
Äußerungen und Beschlüsse der Parteien und die Beratungen der Parlamente,<lb/>
die Entschließungen und Anordnungen der Behörden. Es gehört auch alles<lb/>
dazu, was das Volk als Gesamtheit an dunkeln Ahnungen und Empfindungen<lb/>
hat, ohne sich dessen recht bewußt zu werden, was es instinktiv erstrebt und<lb/>
begehrt, ohne es mit aller Deutlichkeit als seine Meinung vorschreiben zu<lb/>
können. Die öffentliche Meinung besteht also Wohl aus einer Reihe von be¬<lb/>
rechenbaren Bestandteilen, aber es tritt etwas wechselndes und manchmal<lb/>
höchstens annähernd festzustellendes unberechenbares hinzu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_615" next="#ID_616"> Es ist eine Kunst, die nur großen staatsmännischen Naturen gegeben ist,<lb/>
der öffentlichen Meinung &#x201E;an den Puls zu fühlen," ihr die Diagnose zu<lb/>
stellen und ihr die richtigen Mittel zur Gesundung und Erstarkung zu ver¬<lb/>
ordnen. Fürst Bismarck war ein Meister dieser Kunst, ihr Ausfluß ist auch<lb/>
unsre deutsche Kolonialpolitik geworden. Eine einzelne Persönlichkeit kann die<lb/>
öffentliche Meinung, uuter der wir also keineswegs nur den Willen der Mehr¬<lb/>
heit in demokratischen Sinne, das heißt mit Rücksicht auf die Abstimmung,<lb/>
verstehen, in dem Grade beherrschen, daß sie sich seinem überlegnen<lb/>
Geiste willig unterordnet, sodaß gewissermaßen der Geist dieses einen die<lb/>
öffentliche Meinung ist, und ebenso kann die Regierung im ganzen oder auch<lb/>
eine Partei oder eine parlamentarische Mehrheit oder Minderheit oder selbst<lb/>
eine Zeitung oder Zeitschrift die Führung haben, übernehmen oder an sich<lb/>
reißen. Die öffentliche Meinung kann sich ihrem Wesen nach entweder vor<lb/>
den Augen aller Welt oder in der Stille und im Verborgnen lenken und re¬<lb/>
gieren lassen; es können auch gewisse leitende Kreise in dem Glauben befangen<lb/>
sein, die Zügel in der Hand zu haben, während sie sie in Wirklichkeit längst<lb/>
an andre abgegeben haben. Nur die Wahrheit kann auf die Dauer ihre<lb/>
Macht und ihr Ansetzn behaupten, aber vorübergehend können auch Lug und<lb/>
Trug den Sieg davontragen, und in gewissen einzelnen Fragen, die das ganze<lb/>
Volk angehen, kann durch eine geschickte Agitation &#x201E;eine" öffentliche Meinung<lb/>
&#x201E;gemacht" werden. Die öffentliche Meinung, aber eben nur die unechte, die<lb/>
künstlich aufgebauschte, die Talmimeinung, gerät dadurch in Mißachtung, daß<lb/>
sie als Parteischlagwort, als Blend- und Spiegelwerk ausgenutzt wird. Aus¬<lb/>
länder können sich leichter als Inländer über die wahre öffentliche Meinung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0206] Die deutsche Aolonialpolitik und die öffentliche Meinung läßt. Wie man weiß, beiß es einen Willen giebt, ohne daß man sagen kann, was der Wille eigentlich ist, so giebt es auch eine öffentliche Meinung, aber wie soll man sie beschreiben und den Begriff bestimmen? Was ist sie denn? Die Frage ist um so schwieriger zu beantworten, wenn sie überhaupt erschöpfend beantwortet werden kann, als sich die öffentliche Meinung aus einer Mischung verschiedner Stosse zusammensetzt: das ganze Geistesleben eines Volkes trügt zu ihrer Bildung bei, also die mündliche Unterhaltung daheim und auf Reisen, zu Hause und im Gastzimmer, der Unterricht, die Predigt und die öffentliche Rede, der Inhalt der Zeitungen und Zeitschriften, die Äußerungen und Beschlüsse der Parteien und die Beratungen der Parlamente, die Entschließungen und Anordnungen der Behörden. Es gehört auch alles dazu, was das Volk als Gesamtheit an dunkeln Ahnungen und Empfindungen hat, ohne sich dessen recht bewußt zu werden, was es instinktiv erstrebt und begehrt, ohne es mit aller Deutlichkeit als seine Meinung vorschreiben zu können. Die öffentliche Meinung besteht also Wohl aus einer Reihe von be¬ rechenbaren Bestandteilen, aber es tritt etwas wechselndes und manchmal höchstens annähernd festzustellendes unberechenbares hinzu. Es ist eine Kunst, die nur großen staatsmännischen Naturen gegeben ist, der öffentlichen Meinung „an den Puls zu fühlen," ihr die Diagnose zu stellen und ihr die richtigen Mittel zur Gesundung und Erstarkung zu ver¬ ordnen. Fürst Bismarck war ein Meister dieser Kunst, ihr Ausfluß ist auch unsre deutsche Kolonialpolitik geworden. Eine einzelne Persönlichkeit kann die öffentliche Meinung, uuter der wir also keineswegs nur den Willen der Mehr¬ heit in demokratischen Sinne, das heißt mit Rücksicht auf die Abstimmung, verstehen, in dem Grade beherrschen, daß sie sich seinem überlegnen Geiste willig unterordnet, sodaß gewissermaßen der Geist dieses einen die öffentliche Meinung ist, und ebenso kann die Regierung im ganzen oder auch eine Partei oder eine parlamentarische Mehrheit oder Minderheit oder selbst eine Zeitung oder Zeitschrift die Führung haben, übernehmen oder an sich reißen. Die öffentliche Meinung kann sich ihrem Wesen nach entweder vor den Augen aller Welt oder in der Stille und im Verborgnen lenken und re¬ gieren lassen; es können auch gewisse leitende Kreise in dem Glauben befangen sein, die Zügel in der Hand zu haben, während sie sie in Wirklichkeit längst an andre abgegeben haben. Nur die Wahrheit kann auf die Dauer ihre Macht und ihr Ansetzn behaupten, aber vorübergehend können auch Lug und Trug den Sieg davontragen, und in gewissen einzelnen Fragen, die das ganze Volk angehen, kann durch eine geschickte Agitation „eine" öffentliche Meinung „gemacht" werden. Die öffentliche Meinung, aber eben nur die unechte, die künstlich aufgebauschte, die Talmimeinung, gerät dadurch in Mißachtung, daß sie als Parteischlagwort, als Blend- und Spiegelwerk ausgenutzt wird. Aus¬ länder können sich leichter als Inländer über die wahre öffentliche Meinung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/206
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/206>, abgerufen am 03.07.2024.