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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Aber nun lasse man einmal Frau Berthn von Suttuer mit einem General
darüber disputiren, ob jeuer Massenmord erlaubt sei, den man Krieg nennt,
oder einen Kommerzienrat mit einem Sozialdemokraten über die Frage, ob es
einem Soldaten unter Umständen erlaubt oder gar Pflicht für ihn sei, auf
seinen Landsmann, ans seinen Bruder oder Vater zu schießen; wann werdeu die
Parteien einig werden? Daß es nicht schön sei, wenn ein Weib -- vom Manne
wollen wir gar nicht reden -- die Ehe bricht, darüber sind zwar die Modernen so
ziemlich einig, mit Ausnahme der "Modernen." Aber ehe man die Ehe bricht,
muß mau erst eine schließen, und das hängt doch anch einigermaßen mit der
Moral zusammen. Da lehrt nun der alte Fichte, daß es Pflicht für jeden
Mann sei, sich zu verheiraten, daß keine Rücksicht, namentlich keine asketische
Schrulle ihn von dieser Pflicht entbinden könne, und daß er eine schwere
Sünde begehe, wenn er dnrch eigne Schuld ledig bleibe. Fichte bildet sich,
nebenbei bemerkt, zwar ein, er habe diese Sittenregel, gleich allen andern, mit
mathematischer Folgerichtigkeit aus seinem ersten Lehrsatz abgeleitet: "Ich
finde mich selbst, als mich selbst, nur wollend," allein wenn er nicht von
Hans aus lutherischer Theologe gewesen wäre, so würde er wohl aus jenem
Satze ganz andre Folgerungen herausgespvnneu haben. Der katholische Mönch
glaubt sich durch einen heroischen Akt über die gewöhnliche Sittlichkeit er¬
hoben zu haben und würde es für eine schreckliche Sünde ansehn, wenn er,
etwa um die Versuchungen zur Unkeuschheit loszuwerden, heiraten wollte.
Der Malthusianer endlich hält es für eine große Sünde, Kinder in die Welt
zu setzen, für die beim großen Gastmahl der Gesellschaft kein Platz mehr frei
ist, und wie sich diese Ansicht im Leben des Engländers geltend macht, das
ließe sich durch Thatsachen und Aussprüche erhärten, die jede Engländerin
pflichtgemäß für äußerst ÄivLicur^ erklären müßte. Auch die Lüge wird bei
den Kulturvölkern allgemein verurteilt. Aber während Fichte will, daß man
sich lieber totschlagen lasse, als durch eine Notlüge rette, behauptet Schopen¬
hauer, . schon wer eine indiskrete Frage stelle, verdiene keine andre Antwort
als eine Lüge, und Alexander von Humboldt meint, die Wahrheit sei man
nur solchen Personen schuldig, die man achte. Wir brauchen also nicht bis
zu den Botokuden hinüber und zu den alten Indern zurückzugehen, um uns
davon zu überzeuge", wie kindlich die Vorstellung von der "einen" Moral
ist, wenn damit etwas andres gemeint sein soll, als jene Einheit der natür¬
lichen Anlage, die das Seelenleben des Menschen im allgemeinen zeigt, und
die am einmütigsten der Logik zugestanden wird, obwohl nichts in der Welt
verschiedner sein kann als die Meinungen der Menschen, die doch alle auf
keine andre Weise zustande kommen, als durch Vegriffbildung, Urteile und
Schlüsse.

Die pathetische Gegenüberstellung der einen unfehlbaren Moral und der
vielen sehr fehlbaren Religionen ist im Schnlstreit erfunden worden, und seit-


Grenzboteu IV 189S 14

Aber nun lasse man einmal Frau Berthn von Suttuer mit einem General
darüber disputiren, ob jeuer Massenmord erlaubt sei, den man Krieg nennt,
oder einen Kommerzienrat mit einem Sozialdemokraten über die Frage, ob es
einem Soldaten unter Umständen erlaubt oder gar Pflicht für ihn sei, auf
seinen Landsmann, ans seinen Bruder oder Vater zu schießen; wann werdeu die
Parteien einig werden? Daß es nicht schön sei, wenn ein Weib — vom Manne
wollen wir gar nicht reden — die Ehe bricht, darüber sind zwar die Modernen so
ziemlich einig, mit Ausnahme der „Modernen." Aber ehe man die Ehe bricht,
muß mau erst eine schließen, und das hängt doch anch einigermaßen mit der
Moral zusammen. Da lehrt nun der alte Fichte, daß es Pflicht für jeden
Mann sei, sich zu verheiraten, daß keine Rücksicht, namentlich keine asketische
Schrulle ihn von dieser Pflicht entbinden könne, und daß er eine schwere
Sünde begehe, wenn er dnrch eigne Schuld ledig bleibe. Fichte bildet sich,
nebenbei bemerkt, zwar ein, er habe diese Sittenregel, gleich allen andern, mit
mathematischer Folgerichtigkeit aus seinem ersten Lehrsatz abgeleitet: „Ich
finde mich selbst, als mich selbst, nur wollend," allein wenn er nicht von
Hans aus lutherischer Theologe gewesen wäre, so würde er wohl aus jenem
Satze ganz andre Folgerungen herausgespvnneu haben. Der katholische Mönch
glaubt sich durch einen heroischen Akt über die gewöhnliche Sittlichkeit er¬
hoben zu haben und würde es für eine schreckliche Sünde ansehn, wenn er,
etwa um die Versuchungen zur Unkeuschheit loszuwerden, heiraten wollte.
Der Malthusianer endlich hält es für eine große Sünde, Kinder in die Welt
zu setzen, für die beim großen Gastmahl der Gesellschaft kein Platz mehr frei
ist, und wie sich diese Ansicht im Leben des Engländers geltend macht, das
ließe sich durch Thatsachen und Aussprüche erhärten, die jede Engländerin
pflichtgemäß für äußerst ÄivLicur^ erklären müßte. Auch die Lüge wird bei
den Kulturvölkern allgemein verurteilt. Aber während Fichte will, daß man
sich lieber totschlagen lasse, als durch eine Notlüge rette, behauptet Schopen¬
hauer, . schon wer eine indiskrete Frage stelle, verdiene keine andre Antwort
als eine Lüge, und Alexander von Humboldt meint, die Wahrheit sei man
nur solchen Personen schuldig, die man achte. Wir brauchen also nicht bis
zu den Botokuden hinüber und zu den alten Indern zurückzugehen, um uns
davon zu überzeuge», wie kindlich die Vorstellung von der „einen" Moral
ist, wenn damit etwas andres gemeint sein soll, als jene Einheit der natür¬
lichen Anlage, die das Seelenleben des Menschen im allgemeinen zeigt, und
die am einmütigsten der Logik zugestanden wird, obwohl nichts in der Welt
verschiedner sein kann als die Meinungen der Menschen, die doch alle auf
keine andre Weise zustande kommen, als durch Vegriffbildung, Urteile und
Schlüsse.

Die pathetische Gegenüberstellung der einen unfehlbaren Moral und der
vielen sehr fehlbaren Religionen ist im Schnlstreit erfunden worden, und seit-


Grenzboteu IV 189S 14
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/113>, abgerufen am 22.12.2024.