Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

und der Welt zu nutze machen. Mit Leuten von dem Schlage der Pariser
Kommunarden von 1871 giebt es kein Pallirer, es muß Gewalt angewendet
oder Gewalt erlitten werden.

Man ist in Paris und anderwärts empört über die Schwäche, die Richter,
Anwalt, Geschworne und zuletzt die gesamte Regierung in und nach dem
Prozeß gegen Ravachol gezeigt haben. Mit einigem Recht, wenigstens gegen¬
über Regierung, Richter und Anwalt. Allein man darf von dem Durchschnitts¬
menschen nicht mehr als einen Dnrchschnittsmut verlangen. Der Geschworne
ist ein Durchschnittsmensch; und mau wird vergeblich erwarten, daß er seinen
Spruch thue genau nach dem Thatbestand, wenn dieser in der Rocktasche eine
Dynamitdrohung mitbringt. Das wäre eine unbillige Erwartung. Selbst
Staatsanwalt und Richter werden ihre Sicherheit einbüßen, wenn man ihnen
allein, ohne Geschworne, den Anarchisten überliefert. Bleibt es bei dem
ordentlichen Prozeßverfahren, so wird der Terrorismus der Anarchie die
Folge sein. Vielleicht führt das zu Zuständen, wie die waren, die das Vehm-
gericht schufen. Gegen das im Geheimen schleichende Verbrechen ersteht die
im Geheimen schleichende Rechtsprechung, gleichviel ob vom Staate geleitet oder
vom Bürger selbständig geübt. Und es wäre des Erwügens wert, ob nicht
die Gründung geheimer Orden zur Bekämpfung der Anarchie eine zeitgemäße
Handhabe abgeben könnte, um die Gewalt des Staats in diesem Kampfe zu
ergänzen. Die Verantwortung des Staats für die Handlungen der Dynamit¬
politiker ist so groß, daß sie ihn allzusehr gefährdet. Wenn heute das Rat¬
haus in Berlin aufflöge, würde die Stellung der Regierung dadurch etwa
nicht erschüttert werden, wie die der französischen Regierung durch die letzten
Vorgänge erschüttert worden ist? Und wäre irgend eine Negierung imstande,
vermöge des Musters aller Polizeien annähernde Sicherheit dafür zu bieten,
daß sich morgen kein Mensch in Berlin im privaten Besitz von ein paar Pfund
Dynamik oder etwas Nitroglycerin, oder wie diese interessanten Erzeugnisse
der Wissenschaft sonst heißen, befinde? Fliegt dann übermorgen eine der
großen Bierhallen, später noch einiges andre auf, so werden auch bei unsrer
guten Zucht und Ordnung die Anarchisten nicht mehr gar fern von ihrem
nächsten Ziele angelangt sein. Die beste Polizei und die stärkste Regierung
vermag, wie die Sprengstoffe gegenwärtig gehnndhabt werden, die Sicherheit
vor dem anarchistischen Massenmord und der Zerstörung im großen nicht zu
gewähren. Die rohe Gewalt der Masse, zu allen Zeiten in ihrer Erregung
gefährlich, wird durch diese Waffen so sehr gesteigert, daß die Waffe ihr um
jeden Preis entwunden werden muß. Denn an Erregung wird es der Masse
heute nie fehlen, dank den andern Erfindungen, durch die auch die wahn¬
witzigsten Gedanken, die leidenschaftlichsten Unternehmungen nach unbegrenzten
Fernen in sehr kurzer Zeit und auf große Mengen ihre Wirkung ausüben können

(Schluß folgt)


und der Welt zu nutze machen. Mit Leuten von dem Schlage der Pariser
Kommunarden von 1871 giebt es kein Pallirer, es muß Gewalt angewendet
oder Gewalt erlitten werden.

Man ist in Paris und anderwärts empört über die Schwäche, die Richter,
Anwalt, Geschworne und zuletzt die gesamte Regierung in und nach dem
Prozeß gegen Ravachol gezeigt haben. Mit einigem Recht, wenigstens gegen¬
über Regierung, Richter und Anwalt. Allein man darf von dem Durchschnitts¬
menschen nicht mehr als einen Dnrchschnittsmut verlangen. Der Geschworne
ist ein Durchschnittsmensch; und mau wird vergeblich erwarten, daß er seinen
Spruch thue genau nach dem Thatbestand, wenn dieser in der Rocktasche eine
Dynamitdrohung mitbringt. Das wäre eine unbillige Erwartung. Selbst
Staatsanwalt und Richter werden ihre Sicherheit einbüßen, wenn man ihnen
allein, ohne Geschworne, den Anarchisten überliefert. Bleibt es bei dem
ordentlichen Prozeßverfahren, so wird der Terrorismus der Anarchie die
Folge sein. Vielleicht führt das zu Zuständen, wie die waren, die das Vehm-
gericht schufen. Gegen das im Geheimen schleichende Verbrechen ersteht die
im Geheimen schleichende Rechtsprechung, gleichviel ob vom Staate geleitet oder
vom Bürger selbständig geübt. Und es wäre des Erwügens wert, ob nicht
die Gründung geheimer Orden zur Bekämpfung der Anarchie eine zeitgemäße
Handhabe abgeben könnte, um die Gewalt des Staats in diesem Kampfe zu
ergänzen. Die Verantwortung des Staats für die Handlungen der Dynamit¬
politiker ist so groß, daß sie ihn allzusehr gefährdet. Wenn heute das Rat¬
haus in Berlin aufflöge, würde die Stellung der Regierung dadurch etwa
nicht erschüttert werden, wie die der französischen Regierung durch die letzten
Vorgänge erschüttert worden ist? Und wäre irgend eine Negierung imstande,
vermöge des Musters aller Polizeien annähernde Sicherheit dafür zu bieten,
daß sich morgen kein Mensch in Berlin im privaten Besitz von ein paar Pfund
Dynamik oder etwas Nitroglycerin, oder wie diese interessanten Erzeugnisse
der Wissenschaft sonst heißen, befinde? Fliegt dann übermorgen eine der
großen Bierhallen, später noch einiges andre auf, so werden auch bei unsrer
guten Zucht und Ordnung die Anarchisten nicht mehr gar fern von ihrem
nächsten Ziele angelangt sein. Die beste Polizei und die stärkste Regierung
vermag, wie die Sprengstoffe gegenwärtig gehnndhabt werden, die Sicherheit
vor dem anarchistischen Massenmord und der Zerstörung im großen nicht zu
gewähren. Die rohe Gewalt der Masse, zu allen Zeiten in ihrer Erregung
gefährlich, wird durch diese Waffen so sehr gesteigert, daß die Waffe ihr um
jeden Preis entwunden werden muß. Denn an Erregung wird es der Masse
heute nie fehlen, dank den andern Erfindungen, durch die auch die wahn¬
witzigsten Gedanken, die leidenschaftlichsten Unternehmungen nach unbegrenzten
Fernen in sehr kurzer Zeit und auf große Mengen ihre Wirkung ausüben können

(Schluß folgt)


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212546"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_159" prev="#ID_158"> und der Welt zu nutze machen. Mit Leuten von dem Schlage der Pariser<lb/>
Kommunarden von 1871 giebt es kein Pallirer, es muß Gewalt angewendet<lb/>
oder Gewalt erlitten werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_160"> Man ist in Paris und anderwärts empört über die Schwäche, die Richter,<lb/>
Anwalt, Geschworne und zuletzt die gesamte Regierung in und nach dem<lb/>
Prozeß gegen Ravachol gezeigt haben. Mit einigem Recht, wenigstens gegen¬<lb/>
über Regierung, Richter und Anwalt. Allein man darf von dem Durchschnitts¬<lb/>
menschen nicht mehr als einen Dnrchschnittsmut verlangen. Der Geschworne<lb/>
ist ein Durchschnittsmensch; und mau wird vergeblich erwarten, daß er seinen<lb/>
Spruch thue genau nach dem Thatbestand, wenn dieser in der Rocktasche eine<lb/>
Dynamitdrohung mitbringt. Das wäre eine unbillige Erwartung. Selbst<lb/>
Staatsanwalt und Richter werden ihre Sicherheit einbüßen, wenn man ihnen<lb/>
allein, ohne Geschworne, den Anarchisten überliefert. Bleibt es bei dem<lb/>
ordentlichen Prozeßverfahren, so wird der Terrorismus der Anarchie die<lb/>
Folge sein. Vielleicht führt das zu Zuständen, wie die waren, die das Vehm-<lb/>
gericht schufen. Gegen das im Geheimen schleichende Verbrechen ersteht die<lb/>
im Geheimen schleichende Rechtsprechung, gleichviel ob vom Staate geleitet oder<lb/>
vom Bürger selbständig geübt. Und es wäre des Erwügens wert, ob nicht<lb/>
die Gründung geheimer Orden zur Bekämpfung der Anarchie eine zeitgemäße<lb/>
Handhabe abgeben könnte, um die Gewalt des Staats in diesem Kampfe zu<lb/>
ergänzen. Die Verantwortung des Staats für die Handlungen der Dynamit¬<lb/>
politiker ist so groß, daß sie ihn allzusehr gefährdet. Wenn heute das Rat¬<lb/>
haus in Berlin aufflöge, würde die Stellung der Regierung dadurch etwa<lb/>
nicht erschüttert werden, wie die der französischen Regierung durch die letzten<lb/>
Vorgänge erschüttert worden ist? Und wäre irgend eine Negierung imstande,<lb/>
vermöge des Musters aller Polizeien annähernde Sicherheit dafür zu bieten,<lb/>
daß sich morgen kein Mensch in Berlin im privaten Besitz von ein paar Pfund<lb/>
Dynamik oder etwas Nitroglycerin, oder wie diese interessanten Erzeugnisse<lb/>
der Wissenschaft sonst heißen, befinde? Fliegt dann übermorgen eine der<lb/>
großen Bierhallen, später noch einiges andre auf, so werden auch bei unsrer<lb/>
guten Zucht und Ordnung die Anarchisten nicht mehr gar fern von ihrem<lb/>
nächsten Ziele angelangt sein. Die beste Polizei und die stärkste Regierung<lb/>
vermag, wie die Sprengstoffe gegenwärtig gehnndhabt werden, die Sicherheit<lb/>
vor dem anarchistischen Massenmord und der Zerstörung im großen nicht zu<lb/>
gewähren. Die rohe Gewalt der Masse, zu allen Zeiten in ihrer Erregung<lb/>
gefährlich, wird durch diese Waffen so sehr gesteigert, daß die Waffe ihr um<lb/>
jeden Preis entwunden werden muß. Denn an Erregung wird es der Masse<lb/>
heute nie fehlen, dank den andern Erfindungen, durch die auch die wahn¬<lb/>
witzigsten Gedanken, die leidenschaftlichsten Unternehmungen nach unbegrenzten<lb/>
Fernen in sehr kurzer Zeit und auf große Mengen ihre Wirkung ausüben können</p><lb/>
          <p xml:id="ID_161"> (Schluß folgt)</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0070] und der Welt zu nutze machen. Mit Leuten von dem Schlage der Pariser Kommunarden von 1871 giebt es kein Pallirer, es muß Gewalt angewendet oder Gewalt erlitten werden. Man ist in Paris und anderwärts empört über die Schwäche, die Richter, Anwalt, Geschworne und zuletzt die gesamte Regierung in und nach dem Prozeß gegen Ravachol gezeigt haben. Mit einigem Recht, wenigstens gegen¬ über Regierung, Richter und Anwalt. Allein man darf von dem Durchschnitts¬ menschen nicht mehr als einen Dnrchschnittsmut verlangen. Der Geschworne ist ein Durchschnittsmensch; und mau wird vergeblich erwarten, daß er seinen Spruch thue genau nach dem Thatbestand, wenn dieser in der Rocktasche eine Dynamitdrohung mitbringt. Das wäre eine unbillige Erwartung. Selbst Staatsanwalt und Richter werden ihre Sicherheit einbüßen, wenn man ihnen allein, ohne Geschworne, den Anarchisten überliefert. Bleibt es bei dem ordentlichen Prozeßverfahren, so wird der Terrorismus der Anarchie die Folge sein. Vielleicht führt das zu Zuständen, wie die waren, die das Vehm- gericht schufen. Gegen das im Geheimen schleichende Verbrechen ersteht die im Geheimen schleichende Rechtsprechung, gleichviel ob vom Staate geleitet oder vom Bürger selbständig geübt. Und es wäre des Erwügens wert, ob nicht die Gründung geheimer Orden zur Bekämpfung der Anarchie eine zeitgemäße Handhabe abgeben könnte, um die Gewalt des Staats in diesem Kampfe zu ergänzen. Die Verantwortung des Staats für die Handlungen der Dynamit¬ politiker ist so groß, daß sie ihn allzusehr gefährdet. Wenn heute das Rat¬ haus in Berlin aufflöge, würde die Stellung der Regierung dadurch etwa nicht erschüttert werden, wie die der französischen Regierung durch die letzten Vorgänge erschüttert worden ist? Und wäre irgend eine Negierung imstande, vermöge des Musters aller Polizeien annähernde Sicherheit dafür zu bieten, daß sich morgen kein Mensch in Berlin im privaten Besitz von ein paar Pfund Dynamik oder etwas Nitroglycerin, oder wie diese interessanten Erzeugnisse der Wissenschaft sonst heißen, befinde? Fliegt dann übermorgen eine der großen Bierhallen, später noch einiges andre auf, so werden auch bei unsrer guten Zucht und Ordnung die Anarchisten nicht mehr gar fern von ihrem nächsten Ziele angelangt sein. Die beste Polizei und die stärkste Regierung vermag, wie die Sprengstoffe gegenwärtig gehnndhabt werden, die Sicherheit vor dem anarchistischen Massenmord und der Zerstörung im großen nicht zu gewähren. Die rohe Gewalt der Masse, zu allen Zeiten in ihrer Erregung gefährlich, wird durch diese Waffen so sehr gesteigert, daß die Waffe ihr um jeden Preis entwunden werden muß. Denn an Erregung wird es der Masse heute nie fehlen, dank den andern Erfindungen, durch die auch die wahn¬ witzigsten Gedanken, die leidenschaftlichsten Unternehmungen nach unbegrenzten Fernen in sehr kurzer Zeit und auf große Mengen ihre Wirkung ausüben können (Schluß folgt)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/70
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/70>, abgerufen am 06.01.2025.