Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Dynamik sehr gehinderten niedern Volksmassen zur Gewalt greifen, da überträgt sich Grenzboten III 1892 8
Dynamik sehr gehinderten niedern Volksmassen zur Gewalt greifen, da überträgt sich Grenzboten III 1892 8
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0065" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212541"/> <fw type="header" place="top"> Dynamik</fw><lb/> <p xml:id="ID_150" prev="#ID_149" next="#ID_151"> sehr gehinderten niedern Volksmassen zur Gewalt greifen, da überträgt sich<lb/> leicht der Grimm gegen die Unterdrücker, der Neid gegen die Reichen, die<lb/> entfesselte tierische Wut gegen alles höher stehende dem menschlichen Gegner<lb/> ans dessen Besitz und zuletzt auch auf das, was, wenn es nicht sein Besitz ist,<lb/> so doch der rohen Masse geistig und sittlich zu ihm, den leitenden und<lb/> herrschenden Klassen gehörig erscheint. Instinktiv erkennt der Pöbel an, indem<lb/> er eine Bendvmesäule oder die Tuilerien zerstört, daß diese Schöpfungen der<lb/> Kunst weniger zu ihm, als zu den obern Klassen als Trägerinnen der Kultur<lb/> des ganzen Volkes gehören. Er meint, indem er gegen Kunst und Wissen<lb/> anstürmt, damit fremdes Gut zu treffen, seine Gegner in den herrschenden<lb/> Klassen zu treffen; denn es fehlt ihm das Verständnis für die allgemeine,<lb/> auch für ihn geltende Bedeutung der höchsten Kräfte und Schöpfungen der<lb/> Kultur. Die Nolksrevvlutionen haben zwei vorherrschende Veweggrüude, den<lb/> religiösen und öfter noch den nackt materiellen. Das niedre Volk erhebt sich<lb/> gegen Negierung oder Aristokratien meist aus materiellen Ursachen; es will<lb/> etwas beßres in seinem Topfe haben, als bisher darin zu finden war, die<lb/> rohe Masse wird wütend für ihren Glauben und für ihren Magen. In beiden<lb/> Fällen haben Wissen und Kunst wenig mitzureden. Denn die religiösen Ge¬<lb/> meinschaften haben sich erfahrungsmäßig zu beiden bald freundlich, bald feind¬<lb/> selig verhalten, und die hungernde Menge achtet beide gering. Der Instinkt<lb/> der Menge sieht in den Werken eines Malers so gut wie eines Professors<lb/> Gegenstände des Luxus, und indem er den Luxus berechtigterweise mit den<lb/> herrschenden Klassen in Verbindung setzt, richtet er seine Angriffe auch gegen<lb/> die Erzeugnisse der Kunst und der Wissenschaft. Noch schneller als diese fallen<lb/> andre Güter des Kulturlebens den erregten Massen zum Opfer. Recht, Ord¬<lb/> nung, Sitte, sie siud es, die in erster Linie dem materiellen Verlangen im<lb/> Wege stehen und daher von der Voltsrevolntion zuerst niedergerannt werden.<lb/> Aber der Kampf auf diesem zunächst immateriellen Boden ist doch in seinen<lb/> Wirkungen ein sehr andrer, als der gegen Werke von Kunst und Wissenschaft.<lb/> Recht, Sitte, Ordnung sind flüssig, sie wechseln stets in Form und Inhalt,<lb/> und eigentlich hört, auch in den friedlichsten Zeiten, der Kampf um sie nie<lb/> ans: die gesamte Thätigkeit von Justiz und Polizei ist eine Verteidigung gegen<lb/> die auf diesem Gebiete geschehenden Angriffe. Diese Güter können daher<lb/> ihrer Natur uach, auch nach einer gewaltsame!? Zerstörung durch eine Volks¬<lb/> erhebung, wieder hergestellt werden, und sie werden auch in der That immer,<lb/> wenn auch in geänderten Formen, wieder hergestellt infolge des Bedürfnisses<lb/> jedes Kulturvvlks, diese Grundlagen des Kulturlebens zu sichern, in welcher<lb/> Form es auch geschehen möge. Gesetz, Ordnung, Sitte erheben sich alsbald<lb/> aus dem Aschenhaufen, auch wenn er so groß ist wie der von 1794. Die<lb/> materiellen Werke der Kultur dagegen, einmal vernichtet, bleiben verloren für<lb/> alle Zeit; die von der Wild der Menge hingemordeten Menschen leben nicht</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1892 8</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0065]
Dynamik
sehr gehinderten niedern Volksmassen zur Gewalt greifen, da überträgt sich
leicht der Grimm gegen die Unterdrücker, der Neid gegen die Reichen, die
entfesselte tierische Wut gegen alles höher stehende dem menschlichen Gegner
ans dessen Besitz und zuletzt auch auf das, was, wenn es nicht sein Besitz ist,
so doch der rohen Masse geistig und sittlich zu ihm, den leitenden und
herrschenden Klassen gehörig erscheint. Instinktiv erkennt der Pöbel an, indem
er eine Bendvmesäule oder die Tuilerien zerstört, daß diese Schöpfungen der
Kunst weniger zu ihm, als zu den obern Klassen als Trägerinnen der Kultur
des ganzen Volkes gehören. Er meint, indem er gegen Kunst und Wissen
anstürmt, damit fremdes Gut zu treffen, seine Gegner in den herrschenden
Klassen zu treffen; denn es fehlt ihm das Verständnis für die allgemeine,
auch für ihn geltende Bedeutung der höchsten Kräfte und Schöpfungen der
Kultur. Die Nolksrevvlutionen haben zwei vorherrschende Veweggrüude, den
religiösen und öfter noch den nackt materiellen. Das niedre Volk erhebt sich
gegen Negierung oder Aristokratien meist aus materiellen Ursachen; es will
etwas beßres in seinem Topfe haben, als bisher darin zu finden war, die
rohe Masse wird wütend für ihren Glauben und für ihren Magen. In beiden
Fällen haben Wissen und Kunst wenig mitzureden. Denn die religiösen Ge¬
meinschaften haben sich erfahrungsmäßig zu beiden bald freundlich, bald feind¬
selig verhalten, und die hungernde Menge achtet beide gering. Der Instinkt
der Menge sieht in den Werken eines Malers so gut wie eines Professors
Gegenstände des Luxus, und indem er den Luxus berechtigterweise mit den
herrschenden Klassen in Verbindung setzt, richtet er seine Angriffe auch gegen
die Erzeugnisse der Kunst und der Wissenschaft. Noch schneller als diese fallen
andre Güter des Kulturlebens den erregten Massen zum Opfer. Recht, Ord¬
nung, Sitte, sie siud es, die in erster Linie dem materiellen Verlangen im
Wege stehen und daher von der Voltsrevolntion zuerst niedergerannt werden.
Aber der Kampf auf diesem zunächst immateriellen Boden ist doch in seinen
Wirkungen ein sehr andrer, als der gegen Werke von Kunst und Wissenschaft.
Recht, Sitte, Ordnung sind flüssig, sie wechseln stets in Form und Inhalt,
und eigentlich hört, auch in den friedlichsten Zeiten, der Kampf um sie nie
ans: die gesamte Thätigkeit von Justiz und Polizei ist eine Verteidigung gegen
die auf diesem Gebiete geschehenden Angriffe. Diese Güter können daher
ihrer Natur uach, auch nach einer gewaltsame!? Zerstörung durch eine Volks¬
erhebung, wieder hergestellt werden, und sie werden auch in der That immer,
wenn auch in geänderten Formen, wieder hergestellt infolge des Bedürfnisses
jedes Kulturvvlks, diese Grundlagen des Kulturlebens zu sichern, in welcher
Form es auch geschehen möge. Gesetz, Ordnung, Sitte erheben sich alsbald
aus dem Aschenhaufen, auch wenn er so groß ist wie der von 1794. Die
materiellen Werke der Kultur dagegen, einmal vernichtet, bleiben verloren für
alle Zeit; die von der Wild der Menge hingemordeten Menschen leben nicht
Grenzboten III 1892 8
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