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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Dynamik

die Revolution, die Anarchie greifen ihre Gegner mit diesen so einfachen und
fo verderblichen Waffen an.

Die Gefährlichkeit dieser Sprengstoffe und besonders ihrer Anwendung
durch jeden einzelnen gegen unersetzliche Schöpfungen der Kultur und gegen
große Menschenmengen, schon diese Möglichkeit müßte uns zu schleunigen
Mitteln der Vorbeugung greisen lassen. Nun kommt aber hinzu, daß sich
große Verbindungen von Menschen zusammengefunden haben, die der Kultur¬
welt offen mit diesen neuen Waffen entgegentreten.

Unsre neuere Kultur zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Bewegung
von großen Massen befördert. Auf den wesentlichsten Gebieten des gesell¬
schaftlichen Lebens ist diese Wirkung im großen bezeichnend sür unsre Zeit:
so in der Produktion, im Verkehr, in der Litteratur, in der Kunst, im Kriegs¬
wesen, in der Politik -- jede Bewegung, jedes Schaffen, jedes Unternehmen
geht gleich ins Massenhafte, und jeder neue Gedanke -- wenn auch nen nur
für uns Lebende -- trifft alsbald den Geist von Millionen, er wirkt heute
rund um den Erdball, während ihm gestern, während vor tausend Jahren, als
er in Rom, in Alexandrien schon einmal gedacht wurde, die Mauern der
Stadt, die Ufer des Mittelmeers zur Grenze der Wirkung wurden. Zu allen
Zeiten hat der einzelne nach Besserung seines Lebenszustandes, haben die
untern Volksklassen nach Mehrung von Besitz, Recht, Macht gestrebt, haben
sich die obern Klassen verteidigen müssen gegen dieses Andrängen, das sie in
ihrem Besitz, ihrem Recht, ihrer Macht einengte, bedrohte. Und je höher die
Kultur eines Volkes war, um so sicherer und heftiger traten diese Kämpfe
ein und wurden wieder im Verhältnis zur Kulturhöhc zerstörend. Denn
überall wird die Kultur namentlich von den obern Volksklassen getragen und
vertreten, und der gegen diese Klassen gerichtete Angriff trifft zugleich die von
ihnen gehüteten Schöpfungen des Kulturlebens. Selbst so verderbte Herrscher¬
klassen wie die des kaiserlichen Roms oder Frankreichs im vorigen Jahr¬
hundert oder Englands unter Jakob dem Ersten waren doch die Inhaber
und Trüger der Kultur ihres Landes, und als sie gestürzt wurden, rissen sie
eine Menge von Schöpfungen hohen Geistes und langer Arbeit mit in ihren
Fall. Die Moral wandelt eben ihre eignen Wege, oder vielmehr die Kultur,
das materielle und geistige Schaffen des Volks, ist in ihrem Gange nicht ge¬
bunden an gut und böse, an moralischen Auf- oder Niedergang. Sie ist es
so wenig, daß viele der erhabensten Denkmäler der Vergangenheit ihr Ent¬
stehen gerade Geschlechtern verdanken, die durch das Sinken der sittlichen Kraft
bezeichnet werdeu. Die Wunder des kaiserlichen Roms, die Schöpfungen des
Cinquecento, der Louvre zu Paris, ja die Werke eiues Horaz, Ovid, Moliöre,
Shakespeare, sie alle sproßten keineswegs auf einem Boden empor, der durch
die sittliche Größe seiner Bewohner glänzte.

Wo aber die in ihrem berechtigten Streben nach Besserung ihrer Lage allzu


Dynamik

die Revolution, die Anarchie greifen ihre Gegner mit diesen so einfachen und
fo verderblichen Waffen an.

Die Gefährlichkeit dieser Sprengstoffe und besonders ihrer Anwendung
durch jeden einzelnen gegen unersetzliche Schöpfungen der Kultur und gegen
große Menschenmengen, schon diese Möglichkeit müßte uns zu schleunigen
Mitteln der Vorbeugung greisen lassen. Nun kommt aber hinzu, daß sich
große Verbindungen von Menschen zusammengefunden haben, die der Kultur¬
welt offen mit diesen neuen Waffen entgegentreten.

Unsre neuere Kultur zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Bewegung
von großen Massen befördert. Auf den wesentlichsten Gebieten des gesell¬
schaftlichen Lebens ist diese Wirkung im großen bezeichnend sür unsre Zeit:
so in der Produktion, im Verkehr, in der Litteratur, in der Kunst, im Kriegs¬
wesen, in der Politik — jede Bewegung, jedes Schaffen, jedes Unternehmen
geht gleich ins Massenhafte, und jeder neue Gedanke — wenn auch nen nur
für uns Lebende — trifft alsbald den Geist von Millionen, er wirkt heute
rund um den Erdball, während ihm gestern, während vor tausend Jahren, als
er in Rom, in Alexandrien schon einmal gedacht wurde, die Mauern der
Stadt, die Ufer des Mittelmeers zur Grenze der Wirkung wurden. Zu allen
Zeiten hat der einzelne nach Besserung seines Lebenszustandes, haben die
untern Volksklassen nach Mehrung von Besitz, Recht, Macht gestrebt, haben
sich die obern Klassen verteidigen müssen gegen dieses Andrängen, das sie in
ihrem Besitz, ihrem Recht, ihrer Macht einengte, bedrohte. Und je höher die
Kultur eines Volkes war, um so sicherer und heftiger traten diese Kämpfe
ein und wurden wieder im Verhältnis zur Kulturhöhc zerstörend. Denn
überall wird die Kultur namentlich von den obern Volksklassen getragen und
vertreten, und der gegen diese Klassen gerichtete Angriff trifft zugleich die von
ihnen gehüteten Schöpfungen des Kulturlebens. Selbst so verderbte Herrscher¬
klassen wie die des kaiserlichen Roms oder Frankreichs im vorigen Jahr¬
hundert oder Englands unter Jakob dem Ersten waren doch die Inhaber
und Trüger der Kultur ihres Landes, und als sie gestürzt wurden, rissen sie
eine Menge von Schöpfungen hohen Geistes und langer Arbeit mit in ihren
Fall. Die Moral wandelt eben ihre eignen Wege, oder vielmehr die Kultur,
das materielle und geistige Schaffen des Volks, ist in ihrem Gange nicht ge¬
bunden an gut und böse, an moralischen Auf- oder Niedergang. Sie ist es
so wenig, daß viele der erhabensten Denkmäler der Vergangenheit ihr Ent¬
stehen gerade Geschlechtern verdanken, die durch das Sinken der sittlichen Kraft
bezeichnet werdeu. Die Wunder des kaiserlichen Roms, die Schöpfungen des
Cinquecento, der Louvre zu Paris, ja die Werke eiues Horaz, Ovid, Moliöre,
Shakespeare, sie alle sproßten keineswegs auf einem Boden empor, der durch
die sittliche Größe seiner Bewohner glänzte.

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[0064] Dynamik die Revolution, die Anarchie greifen ihre Gegner mit diesen so einfachen und fo verderblichen Waffen an. Die Gefährlichkeit dieser Sprengstoffe und besonders ihrer Anwendung durch jeden einzelnen gegen unersetzliche Schöpfungen der Kultur und gegen große Menschenmengen, schon diese Möglichkeit müßte uns zu schleunigen Mitteln der Vorbeugung greisen lassen. Nun kommt aber hinzu, daß sich große Verbindungen von Menschen zusammengefunden haben, die der Kultur¬ welt offen mit diesen neuen Waffen entgegentreten. Unsre neuere Kultur zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Bewegung von großen Massen befördert. Auf den wesentlichsten Gebieten des gesell¬ schaftlichen Lebens ist diese Wirkung im großen bezeichnend sür unsre Zeit: so in der Produktion, im Verkehr, in der Litteratur, in der Kunst, im Kriegs¬ wesen, in der Politik — jede Bewegung, jedes Schaffen, jedes Unternehmen geht gleich ins Massenhafte, und jeder neue Gedanke — wenn auch nen nur für uns Lebende — trifft alsbald den Geist von Millionen, er wirkt heute rund um den Erdball, während ihm gestern, während vor tausend Jahren, als er in Rom, in Alexandrien schon einmal gedacht wurde, die Mauern der Stadt, die Ufer des Mittelmeers zur Grenze der Wirkung wurden. Zu allen Zeiten hat der einzelne nach Besserung seines Lebenszustandes, haben die untern Volksklassen nach Mehrung von Besitz, Recht, Macht gestrebt, haben sich die obern Klassen verteidigen müssen gegen dieses Andrängen, das sie in ihrem Besitz, ihrem Recht, ihrer Macht einengte, bedrohte. Und je höher die Kultur eines Volkes war, um so sicherer und heftiger traten diese Kämpfe ein und wurden wieder im Verhältnis zur Kulturhöhc zerstörend. Denn überall wird die Kultur namentlich von den obern Volksklassen getragen und vertreten, und der gegen diese Klassen gerichtete Angriff trifft zugleich die von ihnen gehüteten Schöpfungen des Kulturlebens. Selbst so verderbte Herrscher¬ klassen wie die des kaiserlichen Roms oder Frankreichs im vorigen Jahr¬ hundert oder Englands unter Jakob dem Ersten waren doch die Inhaber und Trüger der Kultur ihres Landes, und als sie gestürzt wurden, rissen sie eine Menge von Schöpfungen hohen Geistes und langer Arbeit mit in ihren Fall. Die Moral wandelt eben ihre eignen Wege, oder vielmehr die Kultur, das materielle und geistige Schaffen des Volks, ist in ihrem Gange nicht ge¬ bunden an gut und böse, an moralischen Auf- oder Niedergang. Sie ist es so wenig, daß viele der erhabensten Denkmäler der Vergangenheit ihr Ent¬ stehen gerade Geschlechtern verdanken, die durch das Sinken der sittlichen Kraft bezeichnet werdeu. Die Wunder des kaiserlichen Roms, die Schöpfungen des Cinquecento, der Louvre zu Paris, ja die Werke eiues Horaz, Ovid, Moliöre, Shakespeare, sie alle sproßten keineswegs auf einem Boden empor, der durch die sittliche Größe seiner Bewohner glänzte. Wo aber die in ihrem berechtigten Streben nach Besserung ihrer Lage allzu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/64>, abgerufen am 08.01.2025.