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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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An die Kritiker des Fürsten Bismarck

sein bekundet, daß es in Fürst Vismcirck die Verkörperung des glorreichsten
Vierteljahrhunderts der deutschen Geschichte sieht, und daß er für sich allein
eine Macht ist im deutschen Leben.

Mit dieser Thatsache muß jeder rechnen, muß auch die Regierung rechnen,
die seine Erbschaft übernommen hat. Er ist nicht ein gestürzter Minister wie
andre auch, sondern er ist eben Fürst Bismarck. Und wie in der ganzen Dent-
und Empfindungsweise außergewöhnlicher Menschen immer etwas lebt, was
über das menschliche Maß hinausgeht, so auch hier. Wir wissen nicht, was
deu Fürsten bewogen hat, in der Wiener Unterredung eine so herbe Kritik
an dem "neuen Kurs" zu üben, aber wir sind überzeugt, daß er keineswegs
in einem Augenblicke der Erregung gesprochen, und daß er nicht aus Ärger
über gewisse Vevbachtuugen und Erfahrungen gehandelt hat, obwohl Erregung
und Ärger sehr erklärlich wären. In Wien Scharte sich der Adel Österreich-
Ungarns um deu Fürsten, und der russische Botschafter nahm an der Ver¬
mählungsfeier teil, aber der deutsche Botschafter sollte wenige Tage vorher
auf Urlaub gehen, und die beim Kaiser nachgesuchte Audienz wurde uach
der nicht widerlegten Angabe des Fürsten von Berlin aus hintertrieben; auch
in München war der preußische Gesandte abwesend. Wir maßen uns nicht
um, dieses Verhalten zu kritisiren, aber eine großherzige Gesinnung an leitender
Stelle war es nicht, die diese Anordnungen traf, und wenn der Fürst das
schwer empfunden haben sollte, und wenn darauf seine Äußerungen zurück¬
zuführen wären, menschlich wäre es wahrhaftig, und dem Wesen Vismarcks,
der eine tief und leidenschaftlich empfindende Natur ist, würde es auch ent¬
sprechen. Aber zunächst kann der Fürst doch wohl verlangen, daß man bei
ihm sachliche Gründe voraussetze. Freilich, gewisse Leute bestreikn ihm über¬
haupt das Recht, Kritik zu üben außerhalb des Reichstages. Es sind dieselben,
die nichts mehr fürchten, als daß er im Reichstage erscheine, dieselben, die jede
Art von Kritik an seiner Politik geübt haben und noch üben, dieselbe-u, die für
den "reinen Parlamentarismus" schwärmen. Wissen sie nicht, oder wollen sie
es hier nicht wissen, daß in Ländern, wo ihr Ideal verwirklicht ist, abgetretne
Minister die neue Regierung sofort und zwar keineswegs nur im Parlament,
sondern auch in der Presse und in Wahlreden aufs heftigste angegriffen haben,
Gladstone in England, Crispi in Italien? Wir sehen darin nichts besonders Nach¬
ahmenswertes für uns, denn unsre Verhältnisse sind andre, aber die Links¬
liberalen, deren Ideal jener Parlamentarismus ist, haben am wenigsten Grund,
sich darüber aufzuhalten, wenn Fürst Bismarck, der doch noch etwas mehr be¬
deutet, als Gladstone und Crispi. gelegentlich dasselbe thut, und sich ausdrücklich
und nachdrücklich dies Recht als das allgemeine Recht eines deutschen Staats¬
bürgers vorbehält. Und was hat er in Wien an der Geschäftsführung seines
Nachfolgers ausgesetzt? Im wesentlichen zweierlei: den Abschluß der Handels¬
verträge und das Verhalten gegenüber Rußland. Beides ist in seinem Munde


An die Kritiker des Fürsten Bismarck

sein bekundet, daß es in Fürst Vismcirck die Verkörperung des glorreichsten
Vierteljahrhunderts der deutschen Geschichte sieht, und daß er für sich allein
eine Macht ist im deutschen Leben.

Mit dieser Thatsache muß jeder rechnen, muß auch die Regierung rechnen,
die seine Erbschaft übernommen hat. Er ist nicht ein gestürzter Minister wie
andre auch, sondern er ist eben Fürst Bismarck. Und wie in der ganzen Dent-
und Empfindungsweise außergewöhnlicher Menschen immer etwas lebt, was
über das menschliche Maß hinausgeht, so auch hier. Wir wissen nicht, was
deu Fürsten bewogen hat, in der Wiener Unterredung eine so herbe Kritik
an dem „neuen Kurs" zu üben, aber wir sind überzeugt, daß er keineswegs
in einem Augenblicke der Erregung gesprochen, und daß er nicht aus Ärger
über gewisse Vevbachtuugen und Erfahrungen gehandelt hat, obwohl Erregung
und Ärger sehr erklärlich wären. In Wien Scharte sich der Adel Österreich-
Ungarns um deu Fürsten, und der russische Botschafter nahm an der Ver¬
mählungsfeier teil, aber der deutsche Botschafter sollte wenige Tage vorher
auf Urlaub gehen, und die beim Kaiser nachgesuchte Audienz wurde uach
der nicht widerlegten Angabe des Fürsten von Berlin aus hintertrieben; auch
in München war der preußische Gesandte abwesend. Wir maßen uns nicht
um, dieses Verhalten zu kritisiren, aber eine großherzige Gesinnung an leitender
Stelle war es nicht, die diese Anordnungen traf, und wenn der Fürst das
schwer empfunden haben sollte, und wenn darauf seine Äußerungen zurück¬
zuführen wären, menschlich wäre es wahrhaftig, und dem Wesen Vismarcks,
der eine tief und leidenschaftlich empfindende Natur ist, würde es auch ent¬
sprechen. Aber zunächst kann der Fürst doch wohl verlangen, daß man bei
ihm sachliche Gründe voraussetze. Freilich, gewisse Leute bestreikn ihm über¬
haupt das Recht, Kritik zu üben außerhalb des Reichstages. Es sind dieselben,
die nichts mehr fürchten, als daß er im Reichstage erscheine, dieselben, die jede
Art von Kritik an seiner Politik geübt haben und noch üben, dieselbe-u, die für
den „reinen Parlamentarismus" schwärmen. Wissen sie nicht, oder wollen sie
es hier nicht wissen, daß in Ländern, wo ihr Ideal verwirklicht ist, abgetretne
Minister die neue Regierung sofort und zwar keineswegs nur im Parlament,
sondern auch in der Presse und in Wahlreden aufs heftigste angegriffen haben,
Gladstone in England, Crispi in Italien? Wir sehen darin nichts besonders Nach¬
ahmenswertes für uns, denn unsre Verhältnisse sind andre, aber die Links¬
liberalen, deren Ideal jener Parlamentarismus ist, haben am wenigsten Grund,
sich darüber aufzuhalten, wenn Fürst Bismarck, der doch noch etwas mehr be¬
deutet, als Gladstone und Crispi. gelegentlich dasselbe thut, und sich ausdrücklich
und nachdrücklich dies Recht als das allgemeine Recht eines deutschen Staats¬
bürgers vorbehält. Und was hat er in Wien an der Geschäftsführung seines
Nachfolgers ausgesetzt? Im wesentlichen zweierlei: den Abschluß der Handels¬
verträge und das Verhalten gegenüber Rußland. Beides ist in seinem Munde


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[0058] An die Kritiker des Fürsten Bismarck sein bekundet, daß es in Fürst Vismcirck die Verkörperung des glorreichsten Vierteljahrhunderts der deutschen Geschichte sieht, und daß er für sich allein eine Macht ist im deutschen Leben. Mit dieser Thatsache muß jeder rechnen, muß auch die Regierung rechnen, die seine Erbschaft übernommen hat. Er ist nicht ein gestürzter Minister wie andre auch, sondern er ist eben Fürst Bismarck. Und wie in der ganzen Dent- und Empfindungsweise außergewöhnlicher Menschen immer etwas lebt, was über das menschliche Maß hinausgeht, so auch hier. Wir wissen nicht, was deu Fürsten bewogen hat, in der Wiener Unterredung eine so herbe Kritik an dem „neuen Kurs" zu üben, aber wir sind überzeugt, daß er keineswegs in einem Augenblicke der Erregung gesprochen, und daß er nicht aus Ärger über gewisse Vevbachtuugen und Erfahrungen gehandelt hat, obwohl Erregung und Ärger sehr erklärlich wären. In Wien Scharte sich der Adel Österreich- Ungarns um deu Fürsten, und der russische Botschafter nahm an der Ver¬ mählungsfeier teil, aber der deutsche Botschafter sollte wenige Tage vorher auf Urlaub gehen, und die beim Kaiser nachgesuchte Audienz wurde uach der nicht widerlegten Angabe des Fürsten von Berlin aus hintertrieben; auch in München war der preußische Gesandte abwesend. Wir maßen uns nicht um, dieses Verhalten zu kritisiren, aber eine großherzige Gesinnung an leitender Stelle war es nicht, die diese Anordnungen traf, und wenn der Fürst das schwer empfunden haben sollte, und wenn darauf seine Äußerungen zurück¬ zuführen wären, menschlich wäre es wahrhaftig, und dem Wesen Vismarcks, der eine tief und leidenschaftlich empfindende Natur ist, würde es auch ent¬ sprechen. Aber zunächst kann der Fürst doch wohl verlangen, daß man bei ihm sachliche Gründe voraussetze. Freilich, gewisse Leute bestreikn ihm über¬ haupt das Recht, Kritik zu üben außerhalb des Reichstages. Es sind dieselben, die nichts mehr fürchten, als daß er im Reichstage erscheine, dieselben, die jede Art von Kritik an seiner Politik geübt haben und noch üben, dieselbe-u, die für den „reinen Parlamentarismus" schwärmen. Wissen sie nicht, oder wollen sie es hier nicht wissen, daß in Ländern, wo ihr Ideal verwirklicht ist, abgetretne Minister die neue Regierung sofort und zwar keineswegs nur im Parlament, sondern auch in der Presse und in Wahlreden aufs heftigste angegriffen haben, Gladstone in England, Crispi in Italien? Wir sehen darin nichts besonders Nach¬ ahmenswertes für uns, denn unsre Verhältnisse sind andre, aber die Links¬ liberalen, deren Ideal jener Parlamentarismus ist, haben am wenigsten Grund, sich darüber aufzuhalten, wenn Fürst Bismarck, der doch noch etwas mehr be¬ deutet, als Gladstone und Crispi. gelegentlich dasselbe thut, und sich ausdrücklich und nachdrücklich dies Recht als das allgemeine Recht eines deutschen Staats¬ bürgers vorbehält. Und was hat er in Wien an der Geschäftsführung seines Nachfolgers ausgesetzt? Im wesentlichen zweierlei: den Abschluß der Handels¬ verträge und das Verhalten gegenüber Rußland. Beides ist in seinem Munde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/58>, abgerufen am 06.01.2025.