Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Die Reise ins Kloster Reisegefährten einen zerbrochnen Käsig mit einem lebendigen Kanarienweibchen Ehe wir uns aber noch darüber geeinigt hatten, was wir uns alles Dies war schon an und für sich ein so großes Ereignis, daß wir gegen Die Reise ins Kloster Reisegefährten einen zerbrochnen Käsig mit einem lebendigen Kanarienweibchen Ehe wir uns aber noch darüber geeinigt hatten, was wir uns alles Dies war schon an und für sich ein so großes Ereignis, daß wir gegen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0568" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213044"/> <fw type="header" place="top"> Die Reise ins Kloster</fw><lb/> <p xml:id="ID_1878" prev="#ID_1877"> Reisegefährten einen zerbrochnen Käsig mit einem lebendigen Kanarienweibchen<lb/> geschenkt. Es war ein liebes Tier, das nicht nur fortwährend piepste, es<lb/> sollte auch in seinen Mußestunden mit großer UnVerdrossenheit Eier legen.<lb/> Man wird also begreifen, wie ich mich freute, einen solchen Schatz mein eigen<lb/> zu nennen, und wie die verschiedensten Pläne mein Hirn durchkreuzten. Noch<lb/> war ich nicht ganz entschieden, ob ich den Kanarienvogel für mich selbst zähmen<lb/> oder ob ich ihn der Taute im Kloster mitbringen oder ob ich eine Hecke an¬<lb/> legen sollte; da kam das Schicksal in Gestalt zahlreicher Angehörigen und verbot<lb/> mir die Annahme des Geschenks. Die Leute sagten nicht bloß, daß wir schon<lb/> genug solch dummes Getier hätten, sie behaupteten auch, daß dieses alte Weibchen<lb/> ein wertloser Besitz sei, mit dem man keine Hecke anlegen könne. Kurz,<lb/> Heinrich mußte deu Vogel seiner Besitzerin wiederbringen, und ich weinte sehr.<lb/> Zugleich beschlichen mein Herz in Betreff der weißen Mänse so schlimme<lb/> Ahnungen, daß ich beschloß, keinem Menschen etwas von ihnen zu sagen. Sie<lb/> wurden mit einer Semmel in meine kleine Umhängetasche gepackt, und ich<lb/> bohrte ein paar Löcher ins Leder, damit sie Luft bekommen könnten. Unter<lb/> diesen Vorbereitungen war es sehr spät geworden, und so konnte man mich<lb/> kaum erwecken, als die Reise nun vor sich gehn sollte. Der Abschied von<lb/> den Meinen aber wurde Jürgen und mir sehr leicht; wir dachten mir an das<lb/> bevorstehende Neue und fuhren, nachdem alle Müdigkeit abgeschüttelt war,<lb/> seelenvergnügt davon. Seid nur recht artig! vermahnte uns Mutter noch,<lb/> und wir lächelten mit großer Selbstgerechtigkeit. Wenn wir wollten, konnten<lb/> wir unheimlich artig fein — die alten Damen sollten sich wundern! Gro߬<lb/> vater schenkte uns sogar noch Reisegeld, eine Gabe, die uns in Entzücken ver¬<lb/> setzte und die kühnsten Pläne in uns aufsteigen ließ.</p><lb/> <p xml:id="ID_1879"> Ehe wir uns aber noch darüber geeinigt hatten, was wir uns alles<lb/> kaufen wollten, und ob mau wohl an einem Tage für zwei Bankthaler Bon¬<lb/> bons essen könnte, ohne krank zu werden, waren wir schon am Sünde; Ricks<lb/> setzte uus über, und nun befanden wir uns in Holstein.</p><lb/> <p xml:id="ID_1880" next="#ID_1881"> Dies war schon an und für sich ein so großes Ereignis, daß wir gegen<lb/> unsre Gewohnheit ganz still wurden und unserm Vater folgten, der dem Führ¬<lb/> hause zuschritt. Denn auch auf der holsteinischen Seite befand sich ein Fähr¬<lb/> haus, das von einem Manne bewohnt war, der in dem Rufe unglaublicher<lb/> Grobheit stand. Alle Reisenden, die unsre Insel besuchen wollten, empfing<lb/> er mit den entsetzlichsten Borwürfen über die Bermesfenheit ihres Unternehmens.<lb/> Auch sollte er sich mit Vorliebe den reisenden Damen in einem sehr wenig<lb/> vorschriftsmüßigen Anzüge zeigen, besonders wenn sich die Post verspätete und<lb/> sie in der Nacht ankamen. Wir hatten in dieser Beziehung schon die inter¬<lb/> essantesten Geschichten von ihm gehört und hegten schon lange den leidenschaft¬<lb/> lichen Wunsch, ihn kennen zu lernen. Da war es denn eine rechte Enttäuschung<lb/> für uns, den Fährpächter in ganz anständiger Kleidung aus seinem Hanse</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0568]
Die Reise ins Kloster
Reisegefährten einen zerbrochnen Käsig mit einem lebendigen Kanarienweibchen
geschenkt. Es war ein liebes Tier, das nicht nur fortwährend piepste, es
sollte auch in seinen Mußestunden mit großer UnVerdrossenheit Eier legen.
Man wird also begreifen, wie ich mich freute, einen solchen Schatz mein eigen
zu nennen, und wie die verschiedensten Pläne mein Hirn durchkreuzten. Noch
war ich nicht ganz entschieden, ob ich den Kanarienvogel für mich selbst zähmen
oder ob ich ihn der Taute im Kloster mitbringen oder ob ich eine Hecke an¬
legen sollte; da kam das Schicksal in Gestalt zahlreicher Angehörigen und verbot
mir die Annahme des Geschenks. Die Leute sagten nicht bloß, daß wir schon
genug solch dummes Getier hätten, sie behaupteten auch, daß dieses alte Weibchen
ein wertloser Besitz sei, mit dem man keine Hecke anlegen könne. Kurz,
Heinrich mußte deu Vogel seiner Besitzerin wiederbringen, und ich weinte sehr.
Zugleich beschlichen mein Herz in Betreff der weißen Mänse so schlimme
Ahnungen, daß ich beschloß, keinem Menschen etwas von ihnen zu sagen. Sie
wurden mit einer Semmel in meine kleine Umhängetasche gepackt, und ich
bohrte ein paar Löcher ins Leder, damit sie Luft bekommen könnten. Unter
diesen Vorbereitungen war es sehr spät geworden, und so konnte man mich
kaum erwecken, als die Reise nun vor sich gehn sollte. Der Abschied von
den Meinen aber wurde Jürgen und mir sehr leicht; wir dachten mir an das
bevorstehende Neue und fuhren, nachdem alle Müdigkeit abgeschüttelt war,
seelenvergnügt davon. Seid nur recht artig! vermahnte uns Mutter noch,
und wir lächelten mit großer Selbstgerechtigkeit. Wenn wir wollten, konnten
wir unheimlich artig fein — die alten Damen sollten sich wundern! Gro߬
vater schenkte uns sogar noch Reisegeld, eine Gabe, die uns in Entzücken ver¬
setzte und die kühnsten Pläne in uns aufsteigen ließ.
Ehe wir uns aber noch darüber geeinigt hatten, was wir uns alles
kaufen wollten, und ob mau wohl an einem Tage für zwei Bankthaler Bon¬
bons essen könnte, ohne krank zu werden, waren wir schon am Sünde; Ricks
setzte uus über, und nun befanden wir uns in Holstein.
Dies war schon an und für sich ein so großes Ereignis, daß wir gegen
unsre Gewohnheit ganz still wurden und unserm Vater folgten, der dem Führ¬
hause zuschritt. Denn auch auf der holsteinischen Seite befand sich ein Fähr¬
haus, das von einem Manne bewohnt war, der in dem Rufe unglaublicher
Grobheit stand. Alle Reisenden, die unsre Insel besuchen wollten, empfing
er mit den entsetzlichsten Borwürfen über die Bermesfenheit ihres Unternehmens.
Auch sollte er sich mit Vorliebe den reisenden Damen in einem sehr wenig
vorschriftsmüßigen Anzüge zeigen, besonders wenn sich die Post verspätete und
sie in der Nacht ankamen. Wir hatten in dieser Beziehung schon die inter¬
essantesten Geschichten von ihm gehört und hegten schon lange den leidenschaft¬
lichen Wunsch, ihn kennen zu lernen. Da war es denn eine rechte Enttäuschung
für uns, den Fährpächter in ganz anständiger Kleidung aus seinem Hanse
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