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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Man kann sich wohl fragen, wie lange das frivole Spiel so weitergehen
wird. Denn ein frivoles Spiel ist es ohne Zweifel. Die Franzosen brauchen
sich nnr aufrichtig und öffentlich zu jenem Frankfurter Frieden zu be¬
kennen, den sie in Wirklichkeit zu respektiren entschlossen sind, um den Alp
zu bannen, der auf der Welt lastet und die Völker nur mit halber Kraft an
die ernsten Aufgaben hinantreteu läßt, die ihnen die sozialen, wirtschaftliche,,
und idealen Bedürfnisse der Zeit stellen. Ein frivoles Spiel, denn es ist die
Moral des 5Mo8 mein8 >"z äciluM, die hier in praktische Politik umgesetzt wird;
Väter, die sich den ruhigen Genuß ihrer Stellung erkaufen, indem sie Leben
und Zukunft des heranwachsenden Geschlechts preisgeben, wenn dieses nicht
gleich frivol ist und schließlich den Enkeln die Entscheidung zuschiebt. Viel¬
leicht wäre das "och das beste!

Aber wenn einst die Geschichte zu Gericht sitzen wird über die völkischen
Roßtäuscher, die heute die Welt betrüge", wird sich ein Räukespiel enthüllen,
das seinesgleichen kaum je gehabt hat, wie es jedenfalls zu keiner Zeit durch
so kleinliche, so ganz egoistische Beweggründe in Szene gesetzt worden ist.
Die Leser wundern sich vielleicht, daß wir in diesem Anlaß nur vou fran¬
zösischer, nicht von russischer Schuld reden. Der Grund liegt eigentlich auf
der Hand: Rußland gegenüber läßt sich mit den Begriffen abendländischer
Moral nicht rechnen. Die Russen stehen trotz des Firnisses europäischer oder
sagen wir französischer Kultur, mit dem ihre Wortführer die angebornen Züge
verdecken, ganz außerhalb des Kreises der Gesittung, der die übrigen Völker
und Staaten Europas in höherm Sinne doch als eine Familie erscheinen
läßt. Wie ihnen unser Christentum "Nichtchristentum" ist - das ist der
technische Ausdruck, mit dem das russische Volk jeden Katholiken oder Pro¬
testanten bezeichnet --, so ist ihnen unser Recht Unrecht, denn wie ein russisches
Sprichwort sagt: Was dem Deutschen gesund ist, das ist den, Russen Gift.
Der Deutsche aber ist hier nur eine andre Bezeichnung für den Nichtrussen.
1806 und 1812 nahmen die Franzosen, die angeblichen Freunde von heute,
genau dieselbe Stelle im russischen Volksbewußtsein ein.

Also wozu mit ihnen rechten? Es ist, als redete man zu ihnen in
fremden Zungen. Das Land geht aus den Fugen, das Volk ist an sich irre
geworden, weil man ihn, genommen hat, wozu eine tausendjährige Ge¬
schichte erzog: jene Gleichheit in der Knechtschaft, die der schärfste Gegensatz
ist zu dem abendländischen Begriff, der die Gleichheit sucht in der Gleichheit
im Recht und in der gleichen Achtung der Menschenwürde an jedem Einzelnen,
kurz in den Früchten moderner Humanität, die zu den ewigen Errungenschaften
der idealen Theoretiker der Konstituante gehören. Alle diese Ideen haben in
der russischen Volksseele keinen Raum gefunden.

Was von Rußland droht, ist eine Politik der Verzweiflung, des politischen
Nihilismus, der in jeder Wandlung des Bestehenden eine Erlösung steht aus


Man kann sich wohl fragen, wie lange das frivole Spiel so weitergehen
wird. Denn ein frivoles Spiel ist es ohne Zweifel. Die Franzosen brauchen
sich nnr aufrichtig und öffentlich zu jenem Frankfurter Frieden zu be¬
kennen, den sie in Wirklichkeit zu respektiren entschlossen sind, um den Alp
zu bannen, der auf der Welt lastet und die Völker nur mit halber Kraft an
die ernsten Aufgaben hinantreteu läßt, die ihnen die sozialen, wirtschaftliche,,
und idealen Bedürfnisse der Zeit stellen. Ein frivoles Spiel, denn es ist die
Moral des 5Mo8 mein8 >«z äciluM, die hier in praktische Politik umgesetzt wird;
Väter, die sich den ruhigen Genuß ihrer Stellung erkaufen, indem sie Leben
und Zukunft des heranwachsenden Geschlechts preisgeben, wenn dieses nicht
gleich frivol ist und schließlich den Enkeln die Entscheidung zuschiebt. Viel¬
leicht wäre das »och das beste!

Aber wenn einst die Geschichte zu Gericht sitzen wird über die völkischen
Roßtäuscher, die heute die Welt betrüge», wird sich ein Räukespiel enthüllen,
das seinesgleichen kaum je gehabt hat, wie es jedenfalls zu keiner Zeit durch
so kleinliche, so ganz egoistische Beweggründe in Szene gesetzt worden ist.
Die Leser wundern sich vielleicht, daß wir in diesem Anlaß nur vou fran¬
zösischer, nicht von russischer Schuld reden. Der Grund liegt eigentlich auf
der Hand: Rußland gegenüber läßt sich mit den Begriffen abendländischer
Moral nicht rechnen. Die Russen stehen trotz des Firnisses europäischer oder
sagen wir französischer Kultur, mit dem ihre Wortführer die angebornen Züge
verdecken, ganz außerhalb des Kreises der Gesittung, der die übrigen Völker
und Staaten Europas in höherm Sinne doch als eine Familie erscheinen
läßt. Wie ihnen unser Christentum „Nichtchristentum" ist - das ist der
technische Ausdruck, mit dem das russische Volk jeden Katholiken oder Pro¬
testanten bezeichnet —, so ist ihnen unser Recht Unrecht, denn wie ein russisches
Sprichwort sagt: Was dem Deutschen gesund ist, das ist den, Russen Gift.
Der Deutsche aber ist hier nur eine andre Bezeichnung für den Nichtrussen.
1806 und 1812 nahmen die Franzosen, die angeblichen Freunde von heute,
genau dieselbe Stelle im russischen Volksbewußtsein ein.

Also wozu mit ihnen rechten? Es ist, als redete man zu ihnen in
fremden Zungen. Das Land geht aus den Fugen, das Volk ist an sich irre
geworden, weil man ihn, genommen hat, wozu eine tausendjährige Ge¬
schichte erzog: jene Gleichheit in der Knechtschaft, die der schärfste Gegensatz
ist zu dem abendländischen Begriff, der die Gleichheit sucht in der Gleichheit
im Recht und in der gleichen Achtung der Menschenwürde an jedem Einzelnen,
kurz in den Früchten moderner Humanität, die zu den ewigen Errungenschaften
der idealen Theoretiker der Konstituante gehören. Alle diese Ideen haben in
der russischen Volksseele keinen Raum gefunden.

Was von Rußland droht, ist eine Politik der Verzweiflung, des politischen
Nihilismus, der in jeder Wandlung des Bestehenden eine Erlösung steht aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/54>, abgerufen am 06.01.2025.