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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die Judenfrage eine ethische Frage

Kukis wollen in San Franzisko gewiß keinen besondern Staat gründen und
werden trotzdem gehaßt, einfach deshalb, weil sie wegen ihrer geringen Be¬
dürfnisse imstande sind, billiger zu arbeiten. Die chinesische Frage in Kali¬
fornien ist deshalb eine Nassenfrage. Aber auch in diesem Sinne ist es die
jüdische Frage in Europa nicht. Während das ungezügelte, sich überhastende
amerikanische Wirtschaftsleben in jedem Konkurrenten einen Feind sieht, der
mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft werden muß, wird der jü¬
dische Handwerker trotz seiner Bedürfnislosigkeit und der Billigkeit seiner Ar¬
beit lange nicht so gehaßt, wie der jüdische Wucherer oder Börsianer. Im
Gegenteil: während er sich einen Teil seiner Konkurrenten zu Gegnern macht,
was übrigens selbstverständlich ist, gewinnt er häusig das Gros der Bevöl¬
kerung, dem seine Arbeit von Vorteil ist, und damit ist er ihrer Sympathie
und Unterstützung sicher.

Die Judenfrage ist also auch keine Ncisfenfrage. Noch viel weniger aber
ist sie eine Brotfrage. Die Juden, die die meisten flüssigen Kapitalien be¬
sitzen und in ihren wissenschaftlichen Überzeugungen sehr radikal sind, weil der
Radikalismus den Vorzug hat, auf absehbare Zeit ein ungefährliches Ideal
zu bleiben, kommen sehr gern darauf zu sprechen, daß die "Judenhetze," wie
sie den Antisemitismus zu nennen belieben, der verirrte Kampf gegen das
Privateigentum sei, und der österreichische Abgeordnete Kronawetter, übrigens
kein Jude, hat diese landläufige Meinung in die geistreichen Worte gekleidet:
"Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls." Wahrhaftig,
wäre der revolutionäre Sozialismus berechtigt, wäre die materielle Gleich¬
berechtigung aller, die Befriedigung aller nach ihren Bedürfnissen ausführbar
und in nächster Zeit zu erwarten, dann könnte man ja seine ganze Kraft der
großen Aufgabe widmen, das soziale Leben vom Grund aus neu zu gestalten
und brauchte sie nicht auf Einzelerscheinungen der Korruption zu zersplittern.
Wenn die souveräne Macht des mobilen Kapitals durch eine soziale Revolution
gebrochen wird, gegen die die französische Revolution ein Kinderspiel gewesen
ist, wenn diese Revolution mit Börsen- und Wucherunweseu wie mit Privat¬
eigentum überhaupt endgiltig aufräumt, dann hat der Antisemitismus aller¬
dings nicht die geringste Berechtigung, dann wird er überhaupt nicht mehr
sein oder gar nicht ernst genommen werden können. Ist aber eine soziale
Umwälzung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, dann verschieben die, die
sich durch ihre Schematisirung der Judenfrage als Teil der sozialen Frage
überhaupt den Anstrich von Wissenschaftliche zu geben versuchen, in Wahr¬
heit die Lösung der Judenfrage auf eine vollkommen ungewisse und jedenfalls
sehr ferne Zukunft, die sie gern in den schillerndsten Worten ausmalen, um
sich dafür der süßen Gegenwart mit ihrem wirtschaftlichen Egoismus und
ihrem Genußleben zu versichern. So wird selbst der träumerische Sozialismus,
der eigentlich nichts andres als die Verkörperung der göttlichen Lehren Christi


Die Judenfrage eine ethische Frage

Kukis wollen in San Franzisko gewiß keinen besondern Staat gründen und
werden trotzdem gehaßt, einfach deshalb, weil sie wegen ihrer geringen Be¬
dürfnisse imstande sind, billiger zu arbeiten. Die chinesische Frage in Kali¬
fornien ist deshalb eine Nassenfrage. Aber auch in diesem Sinne ist es die
jüdische Frage in Europa nicht. Während das ungezügelte, sich überhastende
amerikanische Wirtschaftsleben in jedem Konkurrenten einen Feind sieht, der
mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft werden muß, wird der jü¬
dische Handwerker trotz seiner Bedürfnislosigkeit und der Billigkeit seiner Ar¬
beit lange nicht so gehaßt, wie der jüdische Wucherer oder Börsianer. Im
Gegenteil: während er sich einen Teil seiner Konkurrenten zu Gegnern macht,
was übrigens selbstverständlich ist, gewinnt er häusig das Gros der Bevöl¬
kerung, dem seine Arbeit von Vorteil ist, und damit ist er ihrer Sympathie
und Unterstützung sicher.

Die Judenfrage ist also auch keine Ncisfenfrage. Noch viel weniger aber
ist sie eine Brotfrage. Die Juden, die die meisten flüssigen Kapitalien be¬
sitzen und in ihren wissenschaftlichen Überzeugungen sehr radikal sind, weil der
Radikalismus den Vorzug hat, auf absehbare Zeit ein ungefährliches Ideal
zu bleiben, kommen sehr gern darauf zu sprechen, daß die „Judenhetze," wie
sie den Antisemitismus zu nennen belieben, der verirrte Kampf gegen das
Privateigentum sei, und der österreichische Abgeordnete Kronawetter, übrigens
kein Jude, hat diese landläufige Meinung in die geistreichen Worte gekleidet:
„Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls." Wahrhaftig,
wäre der revolutionäre Sozialismus berechtigt, wäre die materielle Gleich¬
berechtigung aller, die Befriedigung aller nach ihren Bedürfnissen ausführbar
und in nächster Zeit zu erwarten, dann könnte man ja seine ganze Kraft der
großen Aufgabe widmen, das soziale Leben vom Grund aus neu zu gestalten
und brauchte sie nicht auf Einzelerscheinungen der Korruption zu zersplittern.
Wenn die souveräne Macht des mobilen Kapitals durch eine soziale Revolution
gebrochen wird, gegen die die französische Revolution ein Kinderspiel gewesen
ist, wenn diese Revolution mit Börsen- und Wucherunweseu wie mit Privat¬
eigentum überhaupt endgiltig aufräumt, dann hat der Antisemitismus aller¬
dings nicht die geringste Berechtigung, dann wird er überhaupt nicht mehr
sein oder gar nicht ernst genommen werden können. Ist aber eine soziale
Umwälzung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, dann verschieben die, die
sich durch ihre Schematisirung der Judenfrage als Teil der sozialen Frage
überhaupt den Anstrich von Wissenschaftliche zu geben versuchen, in Wahr¬
heit die Lösung der Judenfrage auf eine vollkommen ungewisse und jedenfalls
sehr ferne Zukunft, die sie gern in den schillerndsten Worten ausmalen, um
sich dafür der süßen Gegenwart mit ihrem wirtschaftlichen Egoismus und
ihrem Genußleben zu versichern. So wird selbst der träumerische Sozialismus,
der eigentlich nichts andres als die Verkörperung der göttlichen Lehren Christi


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[0454] Die Judenfrage eine ethische Frage Kukis wollen in San Franzisko gewiß keinen besondern Staat gründen und werden trotzdem gehaßt, einfach deshalb, weil sie wegen ihrer geringen Be¬ dürfnisse imstande sind, billiger zu arbeiten. Die chinesische Frage in Kali¬ fornien ist deshalb eine Nassenfrage. Aber auch in diesem Sinne ist es die jüdische Frage in Europa nicht. Während das ungezügelte, sich überhastende amerikanische Wirtschaftsleben in jedem Konkurrenten einen Feind sieht, der mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft werden muß, wird der jü¬ dische Handwerker trotz seiner Bedürfnislosigkeit und der Billigkeit seiner Ar¬ beit lange nicht so gehaßt, wie der jüdische Wucherer oder Börsianer. Im Gegenteil: während er sich einen Teil seiner Konkurrenten zu Gegnern macht, was übrigens selbstverständlich ist, gewinnt er häusig das Gros der Bevöl¬ kerung, dem seine Arbeit von Vorteil ist, und damit ist er ihrer Sympathie und Unterstützung sicher. Die Judenfrage ist also auch keine Ncisfenfrage. Noch viel weniger aber ist sie eine Brotfrage. Die Juden, die die meisten flüssigen Kapitalien be¬ sitzen und in ihren wissenschaftlichen Überzeugungen sehr radikal sind, weil der Radikalismus den Vorzug hat, auf absehbare Zeit ein ungefährliches Ideal zu bleiben, kommen sehr gern darauf zu sprechen, daß die „Judenhetze," wie sie den Antisemitismus zu nennen belieben, der verirrte Kampf gegen das Privateigentum sei, und der österreichische Abgeordnete Kronawetter, übrigens kein Jude, hat diese landläufige Meinung in die geistreichen Worte gekleidet: „Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls." Wahrhaftig, wäre der revolutionäre Sozialismus berechtigt, wäre die materielle Gleich¬ berechtigung aller, die Befriedigung aller nach ihren Bedürfnissen ausführbar und in nächster Zeit zu erwarten, dann könnte man ja seine ganze Kraft der großen Aufgabe widmen, das soziale Leben vom Grund aus neu zu gestalten und brauchte sie nicht auf Einzelerscheinungen der Korruption zu zersplittern. Wenn die souveräne Macht des mobilen Kapitals durch eine soziale Revolution gebrochen wird, gegen die die französische Revolution ein Kinderspiel gewesen ist, wenn diese Revolution mit Börsen- und Wucherunweseu wie mit Privat¬ eigentum überhaupt endgiltig aufräumt, dann hat der Antisemitismus aller¬ dings nicht die geringste Berechtigung, dann wird er überhaupt nicht mehr sein oder gar nicht ernst genommen werden können. Ist aber eine soziale Umwälzung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, dann verschieben die, die sich durch ihre Schematisirung der Judenfrage als Teil der sozialen Frage überhaupt den Anstrich von Wissenschaftliche zu geben versuchen, in Wahr¬ heit die Lösung der Judenfrage auf eine vollkommen ungewisse und jedenfalls sehr ferne Zukunft, die sie gern in den schillerndsten Worten ausmalen, um sich dafür der süßen Gegenwart mit ihrem wirtschaftlichen Egoismus und ihrem Genußleben zu versichern. So wird selbst der träumerische Sozialismus, der eigentlich nichts andres als die Verkörperung der göttlichen Lehren Christi

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/454>, abgerufen am 08.01.2025.