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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Weltgeschichte in Hinterwinkel

Daß der Vater selber nahe an drittehalb Jahre in der gottlosen Stadt
gelebt hatte und trotzdem ein guter katholischer Christ geblieben war, wurde
dabei nicht in Erwägung gezogen. Ich selber dachte nicht daran, diesen
Beweisgrund anzuführen, ich war schnell eingeschüchtert, besonders durch
die Thränen der Mutter, die eine Gewalt über mich hatten wie nichts auf
der Welt.

So zogen die Hamburger ab, ich sah ihnen betrübt nach, und von neuem
begann nun eine gemeine, nüchterne Werkeltagszeit. Ich fühlte ihre Ödigkeit
schon voraus und fing gar bald an, mir heimlich die bittersten Vorwürfe zu
machen, daß ich die dargebotne Hilfe nicht keck ergriffen hatte. Nun, da ich
die Möglichkeit dazu für immer abgeschnitten sah, schmerzte es mich von Tag
zu Tage mehr, daß ich mir durch Feigheit und Unentschlossenheit die einzige
Gelegenheit hatte entgehn lassen, wie ich fest glaubte, mein Glück zu machen,
und zur Verwirklichung meiner Träume einen ersten vielversprechenden Schritt
zu thun. Ich wurde zornig gegen mich selber.

Auch meinem Vater grollte ich im geheimen. Er selber war mit fünf¬
zehn Jahren in die Fremde gezogen, frei, ohne Bevormundung, und hatte
seinen Weg selbst bestimmt, und gegen mich zeigte er sich so engherzig und
behandelte mich wie ein Kind!

Wenn ich gar an den Cyprien dachte, wurde ich wütend. Und ich mußte
immer an ihn denken, an ihn, der viel weniger als ich, der nnr ein Bettelbnb
dens dem kleinen Dörfle gewesen war und nichts gelernt hatte, der die Odyssee
uicht auswendig wußte, keine Ahnung hatte, was uuzusg, sei, der weder die
Glocke von Schiller deklamiren noch fünf Instrumente spielen konnte, und der
nun in goldnen Lichtern funkelte wie der Erzengel Gabriel. Es war zum
Tvllwerden.

Und ich hielt es zuletzt auch uicht mehr aus, ich faßte einen kühnen
Plan. Noch immer konnte ich ja die rettende Hand aus Hamburg ergreifen.
^>es setzte mich also hin, droben in einer Bodenkammer, im geheimsten Winkel
des Hauses, und schrieb einen Brief an den Kapellmeister Franke nach Ham¬
burg. Ich Hütte mir sein Anerbieten überlegt und sei bereit, ihm zu folgen;
er möge mir nur raten, wie ich mein Vorhaben ins Werk setzen könne. Acht
Tage arbeitete ich an diesem schriftlichen Aufsatz.

Als ich aber im Begriff stand, meine Epistel auf die Post zu geben,
Zögerte ich von neuem. Ich konnte einerseits nicht recht an einen Erfolg
glauben, andrerseits fürchtete ich mich vor dem Erfolg. Ich fühlte, daß ich
dann nicht mehr zurückweichen dürfte. Aber würde ich anch wirklich den Mut
finden, Vater und Mutter zu verlassen, um Frau Musika anzuhangen? Ich
wollte noch einmal warten bis zum andern Tage.

^ Dieser andre Tag war ein Sonntag, und er brachte für Hinterwinkel ein
Ereignis, das nicht nur das ganze Dorf in Aufruhr versetzte, sondern auch


Grenzboten III 1892 5,4
Weltgeschichte in Hinterwinkel

Daß der Vater selber nahe an drittehalb Jahre in der gottlosen Stadt
gelebt hatte und trotzdem ein guter katholischer Christ geblieben war, wurde
dabei nicht in Erwägung gezogen. Ich selber dachte nicht daran, diesen
Beweisgrund anzuführen, ich war schnell eingeschüchtert, besonders durch
die Thränen der Mutter, die eine Gewalt über mich hatten wie nichts auf
der Welt.

So zogen die Hamburger ab, ich sah ihnen betrübt nach, und von neuem
begann nun eine gemeine, nüchterne Werkeltagszeit. Ich fühlte ihre Ödigkeit
schon voraus und fing gar bald an, mir heimlich die bittersten Vorwürfe zu
machen, daß ich die dargebotne Hilfe nicht keck ergriffen hatte. Nun, da ich
die Möglichkeit dazu für immer abgeschnitten sah, schmerzte es mich von Tag
zu Tage mehr, daß ich mir durch Feigheit und Unentschlossenheit die einzige
Gelegenheit hatte entgehn lassen, wie ich fest glaubte, mein Glück zu machen,
und zur Verwirklichung meiner Träume einen ersten vielversprechenden Schritt
zu thun. Ich wurde zornig gegen mich selber.

Auch meinem Vater grollte ich im geheimen. Er selber war mit fünf¬
zehn Jahren in die Fremde gezogen, frei, ohne Bevormundung, und hatte
seinen Weg selbst bestimmt, und gegen mich zeigte er sich so engherzig und
behandelte mich wie ein Kind!

Wenn ich gar an den Cyprien dachte, wurde ich wütend. Und ich mußte
immer an ihn denken, an ihn, der viel weniger als ich, der nnr ein Bettelbnb
dens dem kleinen Dörfle gewesen war und nichts gelernt hatte, der die Odyssee
uicht auswendig wußte, keine Ahnung hatte, was uuzusg, sei, der weder die
Glocke von Schiller deklamiren noch fünf Instrumente spielen konnte, und der
nun in goldnen Lichtern funkelte wie der Erzengel Gabriel. Es war zum
Tvllwerden.

Und ich hielt es zuletzt auch uicht mehr aus, ich faßte einen kühnen
Plan. Noch immer konnte ich ja die rettende Hand aus Hamburg ergreifen.
^>es setzte mich also hin, droben in einer Bodenkammer, im geheimsten Winkel
des Hauses, und schrieb einen Brief an den Kapellmeister Franke nach Ham¬
burg. Ich Hütte mir sein Anerbieten überlegt und sei bereit, ihm zu folgen;
er möge mir nur raten, wie ich mein Vorhaben ins Werk setzen könne. Acht
Tage arbeitete ich an diesem schriftlichen Aufsatz.

Als ich aber im Begriff stand, meine Epistel auf die Post zu geben,
Zögerte ich von neuem. Ich konnte einerseits nicht recht an einen Erfolg
glauben, andrerseits fürchtete ich mich vor dem Erfolg. Ich fühlte, daß ich
dann nicht mehr zurückweichen dürfte. Aber würde ich anch wirklich den Mut
finden, Vater und Mutter zu verlassen, um Frau Musika anzuhangen? Ich
wollte noch einmal warten bis zum andern Tage.

^ Dieser andre Tag war ein Sonntag, und er brachte für Hinterwinkel ein
Ereignis, das nicht nur das ganze Dorf in Aufruhr versetzte, sondern auch


Grenzboten III 1892 5,4
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[0433] Weltgeschichte in Hinterwinkel Daß der Vater selber nahe an drittehalb Jahre in der gottlosen Stadt gelebt hatte und trotzdem ein guter katholischer Christ geblieben war, wurde dabei nicht in Erwägung gezogen. Ich selber dachte nicht daran, diesen Beweisgrund anzuführen, ich war schnell eingeschüchtert, besonders durch die Thränen der Mutter, die eine Gewalt über mich hatten wie nichts auf der Welt. So zogen die Hamburger ab, ich sah ihnen betrübt nach, und von neuem begann nun eine gemeine, nüchterne Werkeltagszeit. Ich fühlte ihre Ödigkeit schon voraus und fing gar bald an, mir heimlich die bittersten Vorwürfe zu machen, daß ich die dargebotne Hilfe nicht keck ergriffen hatte. Nun, da ich die Möglichkeit dazu für immer abgeschnitten sah, schmerzte es mich von Tag zu Tage mehr, daß ich mir durch Feigheit und Unentschlossenheit die einzige Gelegenheit hatte entgehn lassen, wie ich fest glaubte, mein Glück zu machen, und zur Verwirklichung meiner Träume einen ersten vielversprechenden Schritt zu thun. Ich wurde zornig gegen mich selber. Auch meinem Vater grollte ich im geheimen. Er selber war mit fünf¬ zehn Jahren in die Fremde gezogen, frei, ohne Bevormundung, und hatte seinen Weg selbst bestimmt, und gegen mich zeigte er sich so engherzig und behandelte mich wie ein Kind! Wenn ich gar an den Cyprien dachte, wurde ich wütend. Und ich mußte immer an ihn denken, an ihn, der viel weniger als ich, der nnr ein Bettelbnb dens dem kleinen Dörfle gewesen war und nichts gelernt hatte, der die Odyssee uicht auswendig wußte, keine Ahnung hatte, was uuzusg, sei, der weder die Glocke von Schiller deklamiren noch fünf Instrumente spielen konnte, und der nun in goldnen Lichtern funkelte wie der Erzengel Gabriel. Es war zum Tvllwerden. Und ich hielt es zuletzt auch uicht mehr aus, ich faßte einen kühnen Plan. Noch immer konnte ich ja die rettende Hand aus Hamburg ergreifen. ^>es setzte mich also hin, droben in einer Bodenkammer, im geheimsten Winkel des Hauses, und schrieb einen Brief an den Kapellmeister Franke nach Ham¬ burg. Ich Hütte mir sein Anerbieten überlegt und sei bereit, ihm zu folgen; er möge mir nur raten, wie ich mein Vorhaben ins Werk setzen könne. Acht Tage arbeitete ich an diesem schriftlichen Aufsatz. Als ich aber im Begriff stand, meine Epistel auf die Post zu geben, Zögerte ich von neuem. Ich konnte einerseits nicht recht an einen Erfolg glauben, andrerseits fürchtete ich mich vor dem Erfolg. Ich fühlte, daß ich dann nicht mehr zurückweichen dürfte. Aber würde ich anch wirklich den Mut finden, Vater und Mutter zu verlassen, um Frau Musika anzuhangen? Ich wollte noch einmal warten bis zum andern Tage. ^ Dieser andre Tag war ein Sonntag, und er brachte für Hinterwinkel ein Ereignis, das nicht nur das ganze Dorf in Aufruhr versetzte, sondern auch Grenzboten III 1892 5,4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/433>, abgerufen am 08.01.2025.