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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Weltgeschichte in Hinterwinkel

Eine einzige unter den Töchtern des Dorfs, die schönste von allen, tanzte
nicht, weder mit Gemeinen noch mit Offizieren; sie saß daheim bei ihrer
Mutter und weinte. Das war die braune Ludwiue, die schone Schwester
des Lienhard Neichenbühler.

Ein Fest andrer Art fand am darauffolgenden Sonntag statt. Diesmal
wollten die guten Hamburger zeigen, daß sie nicht nur die Religion der Hinter-
winkler nicht verachteten, sondern daß sie auch selbst welche hätten, und sie
veranstalteten einen feierlichen Feldgottesdicnst, an dem nicht mir die Hinter-
winkler Truppenteile, sondern auch die sämtlicher umliegenden Dörfer teil¬
nehmen sollten.

Im Wiesenthal drüben, nicht weit von der Haselbrücke, wurden die Vor¬
bereitungen getroffen. Ich benutzte natürlich die nahe Gelegenheit und ließ
mir nichts entgehen. Am meisten bewunderte ich die Bankunst der Soldaten;
aus losgestochnen viereckigen Rasenschollen errichteten sie, die Fugen zierlich
mit Moos verkleidend, eine mächtige, fast haushohe Kanzel, zu der eine breite
Rasenstaffel emporführte.

Nun kam der Sonntag. Unser Pfarrer Bartholvmes hielt diesmal zur
größten Verwundrung seiner Pfarrkinder das Amt schon früh um sieben Uhr,
damit sich ja alles den fremden, ketzerischen Gottesdienst ansetzn könnte. Nie¬
mand in Hinterwinkel hätte dem Pfarrer so etwas zugetraut; aber auch Seine
Hochwürden waren seit der Anwesenheit der "Preußen" wie umgewandelt.
Sonst eigensinnig, knorrig, zwirbelfaserig wie Hainbuchenholz, zeigten sie sich
auf einmal geschmeidig wie schwedische Handschuhe. Derselbe Mann, der ge¬
wohnt war, sich nach niemand als nach sich selber zu richten und jedermann
lieber zum Trotz als zum Gefallen zu leben, entsprach jetzt, und sogar in
kirchlichen Angelegenheiten, den leisesten Wünschen eines fremden, noch dazu
"lutherischen" Soldaten, der ihm doch gar nichts zu befehlen hatte.

Ganz in der Nähe der Rasenkanzel stand, über einer Grenzhecke aufragend,
ein alter Weichselbaum. Und ausnahmsweise kam ich einmal nicht zu spät,
ließ ich mich nicht von andern verdrängen. Ich war sogar der erste auf dem
Venen. Dann kamen noch viele nach, alle glücklich über den vorteilhaften
Platz, mit dem kein andrer zu vergleichen war.

Unterdessen marschierten die Bataillone unter Trommeln und Pfeifen von
allen Wegrichtuugen her in unser Hinterwinkler Thal herein und schlossen sich
zusammen. Viel Volk, altes und junges, folgte ihnen unter großem Jubel.
In einem weiten, regelmüßigen Viereck, die Kapelle in der Mitte, stellten sich
die Truppen um die Kanzel herum, und hinter ihnen das Volk weithin den
grünen Plan erfüllend. Niemals hatte Hinterwinkel so viel Menschen gesehen!

Da trat aus einem der ausgeschlagnen Zelte eine hohe schwarze Gestalt,
von langem Talar umwallt, das Haupt vom schwarzen Barett bedeckt, ein
großes, schwarzes Buch in den Händen haltend, alles schwarz. Nur auf der


Weltgeschichte in Hinterwinkel

Eine einzige unter den Töchtern des Dorfs, die schönste von allen, tanzte
nicht, weder mit Gemeinen noch mit Offizieren; sie saß daheim bei ihrer
Mutter und weinte. Das war die braune Ludwiue, die schone Schwester
des Lienhard Neichenbühler.

Ein Fest andrer Art fand am darauffolgenden Sonntag statt. Diesmal
wollten die guten Hamburger zeigen, daß sie nicht nur die Religion der Hinter-
winkler nicht verachteten, sondern daß sie auch selbst welche hätten, und sie
veranstalteten einen feierlichen Feldgottesdicnst, an dem nicht mir die Hinter-
winkler Truppenteile, sondern auch die sämtlicher umliegenden Dörfer teil¬
nehmen sollten.

Im Wiesenthal drüben, nicht weit von der Haselbrücke, wurden die Vor¬
bereitungen getroffen. Ich benutzte natürlich die nahe Gelegenheit und ließ
mir nichts entgehen. Am meisten bewunderte ich die Bankunst der Soldaten;
aus losgestochnen viereckigen Rasenschollen errichteten sie, die Fugen zierlich
mit Moos verkleidend, eine mächtige, fast haushohe Kanzel, zu der eine breite
Rasenstaffel emporführte.

Nun kam der Sonntag. Unser Pfarrer Bartholvmes hielt diesmal zur
größten Verwundrung seiner Pfarrkinder das Amt schon früh um sieben Uhr,
damit sich ja alles den fremden, ketzerischen Gottesdienst ansetzn könnte. Nie¬
mand in Hinterwinkel hätte dem Pfarrer so etwas zugetraut; aber auch Seine
Hochwürden waren seit der Anwesenheit der „Preußen" wie umgewandelt.
Sonst eigensinnig, knorrig, zwirbelfaserig wie Hainbuchenholz, zeigten sie sich
auf einmal geschmeidig wie schwedische Handschuhe. Derselbe Mann, der ge¬
wohnt war, sich nach niemand als nach sich selber zu richten und jedermann
lieber zum Trotz als zum Gefallen zu leben, entsprach jetzt, und sogar in
kirchlichen Angelegenheiten, den leisesten Wünschen eines fremden, noch dazu
„lutherischen" Soldaten, der ihm doch gar nichts zu befehlen hatte.

Ganz in der Nähe der Rasenkanzel stand, über einer Grenzhecke aufragend,
ein alter Weichselbaum. Und ausnahmsweise kam ich einmal nicht zu spät,
ließ ich mich nicht von andern verdrängen. Ich war sogar der erste auf dem
Venen. Dann kamen noch viele nach, alle glücklich über den vorteilhaften
Platz, mit dem kein andrer zu vergleichen war.

Unterdessen marschierten die Bataillone unter Trommeln und Pfeifen von
allen Wegrichtuugen her in unser Hinterwinkler Thal herein und schlossen sich
zusammen. Viel Volk, altes und junges, folgte ihnen unter großem Jubel.
In einem weiten, regelmüßigen Viereck, die Kapelle in der Mitte, stellten sich
die Truppen um die Kanzel herum, und hinter ihnen das Volk weithin den
grünen Plan erfüllend. Niemals hatte Hinterwinkel so viel Menschen gesehen!

Da trat aus einem der ausgeschlagnen Zelte eine hohe schwarze Gestalt,
von langem Talar umwallt, das Haupt vom schwarzen Barett bedeckt, ein
großes, schwarzes Buch in den Händen haltend, alles schwarz. Nur auf der


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[0428] Weltgeschichte in Hinterwinkel Eine einzige unter den Töchtern des Dorfs, die schönste von allen, tanzte nicht, weder mit Gemeinen noch mit Offizieren; sie saß daheim bei ihrer Mutter und weinte. Das war die braune Ludwiue, die schone Schwester des Lienhard Neichenbühler. Ein Fest andrer Art fand am darauffolgenden Sonntag statt. Diesmal wollten die guten Hamburger zeigen, daß sie nicht nur die Religion der Hinter- winkler nicht verachteten, sondern daß sie auch selbst welche hätten, und sie veranstalteten einen feierlichen Feldgottesdicnst, an dem nicht mir die Hinter- winkler Truppenteile, sondern auch die sämtlicher umliegenden Dörfer teil¬ nehmen sollten. Im Wiesenthal drüben, nicht weit von der Haselbrücke, wurden die Vor¬ bereitungen getroffen. Ich benutzte natürlich die nahe Gelegenheit und ließ mir nichts entgehen. Am meisten bewunderte ich die Bankunst der Soldaten; aus losgestochnen viereckigen Rasenschollen errichteten sie, die Fugen zierlich mit Moos verkleidend, eine mächtige, fast haushohe Kanzel, zu der eine breite Rasenstaffel emporführte. Nun kam der Sonntag. Unser Pfarrer Bartholvmes hielt diesmal zur größten Verwundrung seiner Pfarrkinder das Amt schon früh um sieben Uhr, damit sich ja alles den fremden, ketzerischen Gottesdienst ansetzn könnte. Nie¬ mand in Hinterwinkel hätte dem Pfarrer so etwas zugetraut; aber auch Seine Hochwürden waren seit der Anwesenheit der „Preußen" wie umgewandelt. Sonst eigensinnig, knorrig, zwirbelfaserig wie Hainbuchenholz, zeigten sie sich auf einmal geschmeidig wie schwedische Handschuhe. Derselbe Mann, der ge¬ wohnt war, sich nach niemand als nach sich selber zu richten und jedermann lieber zum Trotz als zum Gefallen zu leben, entsprach jetzt, und sogar in kirchlichen Angelegenheiten, den leisesten Wünschen eines fremden, noch dazu „lutherischen" Soldaten, der ihm doch gar nichts zu befehlen hatte. Ganz in der Nähe der Rasenkanzel stand, über einer Grenzhecke aufragend, ein alter Weichselbaum. Und ausnahmsweise kam ich einmal nicht zu spät, ließ ich mich nicht von andern verdrängen. Ich war sogar der erste auf dem Venen. Dann kamen noch viele nach, alle glücklich über den vorteilhaften Platz, mit dem kein andrer zu vergleichen war. Unterdessen marschierten die Bataillone unter Trommeln und Pfeifen von allen Wegrichtuugen her in unser Hinterwinkler Thal herein und schlossen sich zusammen. Viel Volk, altes und junges, folgte ihnen unter großem Jubel. In einem weiten, regelmüßigen Viereck, die Kapelle in der Mitte, stellten sich die Truppen um die Kanzel herum, und hinter ihnen das Volk weithin den grünen Plan erfüllend. Niemals hatte Hinterwinkel so viel Menschen gesehen! Da trat aus einem der ausgeschlagnen Zelte eine hohe schwarze Gestalt, von langem Talar umwallt, das Haupt vom schwarzen Barett bedeckt, ein großes, schwarzes Buch in den Händen haltend, alles schwarz. Nur auf der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/428>, abgerufen am 08.01.2025.