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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Auf der Rundfahrt

maßen über die Natur zu beklagen hat. Die nachfolgenden Bosheiten sind
daher nur zu dem Zwecke geschrieben, den Grenzboten eine Reihe geharnischter
Proteste von den "Eingebornen" der betroffnen Orte und damit ein richtiges
Bild der Lage einzutragen.

Wer Berlin seit den Gründerjahren nicht gesehn hat und es erst in
diesem Jahre wieder besucht, der erkennt es, ich meine nicht die Physiognomie
seines Gemäuers, sondern seiner Bewohner, kaum wieder. Wo ist die aus-
gelaßne Menge geblieben, die auf den glänzenden Ballfesten der Demimonde
schwelgte und jubelte, die den übermütigen Zauberpossen und unzweideutigen
Tingeltangelwitzen Beifall zuwieherte? Überall geht es hübsch anständig, ge¬
setzt und langweilig zu, die Volksgarten, in denen sonst kein Apfel zur Erde
konnte, vermag selbst der große Tierbändiger Valley mit seiner Löwendrehlade
nicht mehr zu füllen, und die Unterlippen der verdroßnen Kellner hängen
Parallel mit ihren schäbigen Frackschößen herab. Sogar die Bestien des zoolo¬
gischen Gartens schauen ganz trübselig drein, nicht zu reden davon, daß viele
Käfige und Umzäunungen leer, die übrigen nur mit wenigen, kleinen und rup¬
piger Exemplaren versehn sind. Auch die Krokodile, Affen und Medusen des
Herrn Hermes werden immer spärlicher, kleiner und fauler.

Diese ernste Stille wäre ja nun äußerst erfreulich, wenn man sie als ein
Zeichen innerlicher Sammlung, als einen Vorboten sittlicher Wiedergeburt und
großer Thaten deuten konnte. Allein das dürfen wir Wohl kaum. Die auf¬
richtige und tiefe Teilnahme, die beinahe rührend kindliche Freude, mit der ein
vieltausendköpfiges, aus allen Bevölternngsklassen Hamburgs gemischtes Publi¬
kum allabendlich im Zirkus Renz die Späße des dummen Angust begleitet,
läßt weder vou einer Änderung des Geschmacks noch von einer Vertiefung des
Gemüts beim deutschen Michel etwas erkennen; und was wäre wohl in den
letzten Jahren vorgefallen, das uns berechtigte, die heutigen Berliner für
idealer zu halten als die heutigen Hamburger? Es ist lediglich der elende
Geschäftsgang, infolgedessen die Berliner die Kopfe hängen, und das hört mau
auch von jedem, den man drum fragt. Anderwärts giebt sich diese "schwere
Not der Zeit," über die man sich mit schlechten Witzen hinwegsetzen, aber die
man nicht leugnen kann, auf andre Weise kund. In Danzig steht von den
Speichern, die sich an der Mottlau hinziehen, die Hälfte leer; man fängt an,
sie zu Proletarierwohnungen umzubauen. In Zoppot sah man -- im Juli
und beim schönsten Wetter! -- an nicht wenig Häusern die Tafel mit "Woh¬
nungen zu vermieten" hängen, und in Breslauer Hotels bekam man für zwei
Mark ein Zimmer, das vor vier Jahren vier Mark kostete. Der vielbeklagten


Telegramms verlesen habe. Der Staatsanwalt bemerkte dagegen, zum richtig lesen gehöre
nicht mehr Zeit als zum falsch lesen. Wäre es nicht im Interesse der Sicherheit der Rei¬
senden zu raten, daß den Eisenbahndirektoren und Staatsanwälten eine Borlesung über Psucho-
mctrie gehalten würde?
Auf der Rundfahrt

maßen über die Natur zu beklagen hat. Die nachfolgenden Bosheiten sind
daher nur zu dem Zwecke geschrieben, den Grenzboten eine Reihe geharnischter
Proteste von den „Eingebornen" der betroffnen Orte und damit ein richtiges
Bild der Lage einzutragen.

Wer Berlin seit den Gründerjahren nicht gesehn hat und es erst in
diesem Jahre wieder besucht, der erkennt es, ich meine nicht die Physiognomie
seines Gemäuers, sondern seiner Bewohner, kaum wieder. Wo ist die aus-
gelaßne Menge geblieben, die auf den glänzenden Ballfesten der Demimonde
schwelgte und jubelte, die den übermütigen Zauberpossen und unzweideutigen
Tingeltangelwitzen Beifall zuwieherte? Überall geht es hübsch anständig, ge¬
setzt und langweilig zu, die Volksgarten, in denen sonst kein Apfel zur Erde
konnte, vermag selbst der große Tierbändiger Valley mit seiner Löwendrehlade
nicht mehr zu füllen, und die Unterlippen der verdroßnen Kellner hängen
Parallel mit ihren schäbigen Frackschößen herab. Sogar die Bestien des zoolo¬
gischen Gartens schauen ganz trübselig drein, nicht zu reden davon, daß viele
Käfige und Umzäunungen leer, die übrigen nur mit wenigen, kleinen und rup¬
piger Exemplaren versehn sind. Auch die Krokodile, Affen und Medusen des
Herrn Hermes werden immer spärlicher, kleiner und fauler.

Diese ernste Stille wäre ja nun äußerst erfreulich, wenn man sie als ein
Zeichen innerlicher Sammlung, als einen Vorboten sittlicher Wiedergeburt und
großer Thaten deuten konnte. Allein das dürfen wir Wohl kaum. Die auf¬
richtige und tiefe Teilnahme, die beinahe rührend kindliche Freude, mit der ein
vieltausendköpfiges, aus allen Bevölternngsklassen Hamburgs gemischtes Publi¬
kum allabendlich im Zirkus Renz die Späße des dummen Angust begleitet,
läßt weder vou einer Änderung des Geschmacks noch von einer Vertiefung des
Gemüts beim deutschen Michel etwas erkennen; und was wäre wohl in den
letzten Jahren vorgefallen, das uns berechtigte, die heutigen Berliner für
idealer zu halten als die heutigen Hamburger? Es ist lediglich der elende
Geschäftsgang, infolgedessen die Berliner die Kopfe hängen, und das hört mau
auch von jedem, den man drum fragt. Anderwärts giebt sich diese „schwere
Not der Zeit," über die man sich mit schlechten Witzen hinwegsetzen, aber die
man nicht leugnen kann, auf andre Weise kund. In Danzig steht von den
Speichern, die sich an der Mottlau hinziehen, die Hälfte leer; man fängt an,
sie zu Proletarierwohnungen umzubauen. In Zoppot sah man — im Juli
und beim schönsten Wetter! — an nicht wenig Häusern die Tafel mit „Woh¬
nungen zu vermieten" hängen, und in Breslauer Hotels bekam man für zwei
Mark ein Zimmer, das vor vier Jahren vier Mark kostete. Der vielbeklagten


Telegramms verlesen habe. Der Staatsanwalt bemerkte dagegen, zum richtig lesen gehöre
nicht mehr Zeit als zum falsch lesen. Wäre es nicht im Interesse der Sicherheit der Rei¬
senden zu raten, daß den Eisenbahndirektoren und Staatsanwälten eine Borlesung über Psucho-
mctrie gehalten würde?
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/421>, abgerufen am 06.01.2025.