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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Weltgeschichte in Hinterwinkel

auch eine Habichtsnase wie Friedrich der Große, und das Rollen seiner Augen
erinnert mich heute ebenfalls an die guten und schlechten Bilder, die ich seit¬
dem vom alten Fritz gesehn habe.

Inzwischen rief der Nußhäher drüben immerfort sein: Komm her, komm
her! Und ich dachte, wie schön es sein müßte, wirklich hinzukommen. Aber
auch uoch andres dachte ich, darunter Dinge, die mir bis zu dieser Stunde
noch niemals eingefallen waren.

Von den zwei Dirnen, denen ich die Strvhbänder vorlegte, hieß die eine
Cölestine Bächle. Sie war gerade kein himmlisches Wesen, wie man nach
ihrem Namen glauben sollte, aber sie war doch ein sehr hübsches Mädchen
und strotzend von Gesundheit und Kraft. Der Hitze wegen hatte sie ihre Jacke
abgelegt, und ihr rotes Mieder hatte sich mit seinen Achselhaltern unversehens
aufgehenkt und hing über die Hüften herunter. Das grobleinene Hemd ging
zwar bis zum Hals empor und war dort mit Bändern zugeknüpft; aber durch
den klaffenden Spalt schimmerten Formen, auf die ich jetzt zum erstenmale in
meinem Leben aufmerksam wurde.

Erwachsene hübsche Mädchen hatte ich schon lange gern gesehn, aber ich
sah immer nur das Gesicht an ihnen, die zarte Hautfarbe, die feinen Lippen,
die schöngereihteu weißen Zühue, die leuchtenden Augen oder wodurch sonst
ein Gesicht schön wird. Nie war mein Blick bis unter das Kinn gegangen.
Nur einmal, etwa mit acht oder neun Jahren, hatte ich eine Vauerntochter,
die in ihrem Hause meinem Vater bei der Schneiderei half, gefragt, warum
ihre Brust so bausche. Sie lachte und sagte, sie hätte sich Lumpen vorgestopft,
um nicht zu frieren. Es war aber im Juli und ein so heißer Tag, daß mir
ihre Erklärung wenig einleuchtete. Sie sollte mich einmal die Lumpen sehn
lassen, meinte ich und wollte mit der Hand zugreifen, um selber zu unter¬
suchen. Aber die Dirne lachte noch mehr und klopfte mich mit der Schere
gehörig auf die Finger. Damit war meine Neugierde in diesem Punkte auf
lange geheilt.

Nun kam es über mich wie ein Schreck. Wenn Cölestine, gegen mich
gekehrt, sich zu Boden bückte, so klaffte der Spalt ihres groben Hemdes weit
aus einander, ich sah nicht nur Formen, sondern auch schimmernde Farbe. Mein
Erschrecken stieg auf den höchsten Grad und raubte mir fast alle Besinnung.
Meine Strohbünder legten sich immer spitzwinkliger, bildeten immer kühnere
Kurven. Ich verstand mich selber nicht mehr. Mein Zustand war der selt¬
samste von der Welt. Vieles mischte sich darein, auch jenes rätselhafte Gefühl,
das man Scham nennt. Sie mochte sogar das stärkste in mir sein. Ich
schlug die Augen nieder, und das Blut stieg mir nach dem Kopfe; eine Ver¬
wirrung kam über mich, wie von einem leichten Schwindel.

Damals kam mir kein Gedanke, daß Cölestine von dem, was in mir vor¬
ging, eine Vermutung haben könne. Aber wenn ich mir heute vorstelle, wie


Weltgeschichte in Hinterwinkel

auch eine Habichtsnase wie Friedrich der Große, und das Rollen seiner Augen
erinnert mich heute ebenfalls an die guten und schlechten Bilder, die ich seit¬
dem vom alten Fritz gesehn habe.

Inzwischen rief der Nußhäher drüben immerfort sein: Komm her, komm
her! Und ich dachte, wie schön es sein müßte, wirklich hinzukommen. Aber
auch uoch andres dachte ich, darunter Dinge, die mir bis zu dieser Stunde
noch niemals eingefallen waren.

Von den zwei Dirnen, denen ich die Strvhbänder vorlegte, hieß die eine
Cölestine Bächle. Sie war gerade kein himmlisches Wesen, wie man nach
ihrem Namen glauben sollte, aber sie war doch ein sehr hübsches Mädchen
und strotzend von Gesundheit und Kraft. Der Hitze wegen hatte sie ihre Jacke
abgelegt, und ihr rotes Mieder hatte sich mit seinen Achselhaltern unversehens
aufgehenkt und hing über die Hüften herunter. Das grobleinene Hemd ging
zwar bis zum Hals empor und war dort mit Bändern zugeknüpft; aber durch
den klaffenden Spalt schimmerten Formen, auf die ich jetzt zum erstenmale in
meinem Leben aufmerksam wurde.

Erwachsene hübsche Mädchen hatte ich schon lange gern gesehn, aber ich
sah immer nur das Gesicht an ihnen, die zarte Hautfarbe, die feinen Lippen,
die schöngereihteu weißen Zühue, die leuchtenden Augen oder wodurch sonst
ein Gesicht schön wird. Nie war mein Blick bis unter das Kinn gegangen.
Nur einmal, etwa mit acht oder neun Jahren, hatte ich eine Vauerntochter,
die in ihrem Hause meinem Vater bei der Schneiderei half, gefragt, warum
ihre Brust so bausche. Sie lachte und sagte, sie hätte sich Lumpen vorgestopft,
um nicht zu frieren. Es war aber im Juli und ein so heißer Tag, daß mir
ihre Erklärung wenig einleuchtete. Sie sollte mich einmal die Lumpen sehn
lassen, meinte ich und wollte mit der Hand zugreifen, um selber zu unter¬
suchen. Aber die Dirne lachte noch mehr und klopfte mich mit der Schere
gehörig auf die Finger. Damit war meine Neugierde in diesem Punkte auf
lange geheilt.

Nun kam es über mich wie ein Schreck. Wenn Cölestine, gegen mich
gekehrt, sich zu Boden bückte, so klaffte der Spalt ihres groben Hemdes weit
aus einander, ich sah nicht nur Formen, sondern auch schimmernde Farbe. Mein
Erschrecken stieg auf den höchsten Grad und raubte mir fast alle Besinnung.
Meine Strohbünder legten sich immer spitzwinkliger, bildeten immer kühnere
Kurven. Ich verstand mich selber nicht mehr. Mein Zustand war der selt¬
samste von der Welt. Vieles mischte sich darein, auch jenes rätselhafte Gefühl,
das man Scham nennt. Sie mochte sogar das stärkste in mir sein. Ich
schlug die Augen nieder, und das Blut stieg mir nach dem Kopfe; eine Ver¬
wirrung kam über mich, wie von einem leichten Schwindel.

Damals kam mir kein Gedanke, daß Cölestine von dem, was in mir vor¬
ging, eine Vermutung haben könne. Aber wenn ich mir heute vorstelle, wie


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[0378] Weltgeschichte in Hinterwinkel auch eine Habichtsnase wie Friedrich der Große, und das Rollen seiner Augen erinnert mich heute ebenfalls an die guten und schlechten Bilder, die ich seit¬ dem vom alten Fritz gesehn habe. Inzwischen rief der Nußhäher drüben immerfort sein: Komm her, komm her! Und ich dachte, wie schön es sein müßte, wirklich hinzukommen. Aber auch uoch andres dachte ich, darunter Dinge, die mir bis zu dieser Stunde noch niemals eingefallen waren. Von den zwei Dirnen, denen ich die Strvhbänder vorlegte, hieß die eine Cölestine Bächle. Sie war gerade kein himmlisches Wesen, wie man nach ihrem Namen glauben sollte, aber sie war doch ein sehr hübsches Mädchen und strotzend von Gesundheit und Kraft. Der Hitze wegen hatte sie ihre Jacke abgelegt, und ihr rotes Mieder hatte sich mit seinen Achselhaltern unversehens aufgehenkt und hing über die Hüften herunter. Das grobleinene Hemd ging zwar bis zum Hals empor und war dort mit Bändern zugeknüpft; aber durch den klaffenden Spalt schimmerten Formen, auf die ich jetzt zum erstenmale in meinem Leben aufmerksam wurde. Erwachsene hübsche Mädchen hatte ich schon lange gern gesehn, aber ich sah immer nur das Gesicht an ihnen, die zarte Hautfarbe, die feinen Lippen, die schöngereihteu weißen Zühue, die leuchtenden Augen oder wodurch sonst ein Gesicht schön wird. Nie war mein Blick bis unter das Kinn gegangen. Nur einmal, etwa mit acht oder neun Jahren, hatte ich eine Vauerntochter, die in ihrem Hause meinem Vater bei der Schneiderei half, gefragt, warum ihre Brust so bausche. Sie lachte und sagte, sie hätte sich Lumpen vorgestopft, um nicht zu frieren. Es war aber im Juli und ein so heißer Tag, daß mir ihre Erklärung wenig einleuchtete. Sie sollte mich einmal die Lumpen sehn lassen, meinte ich und wollte mit der Hand zugreifen, um selber zu unter¬ suchen. Aber die Dirne lachte noch mehr und klopfte mich mit der Schere gehörig auf die Finger. Damit war meine Neugierde in diesem Punkte auf lange geheilt. Nun kam es über mich wie ein Schreck. Wenn Cölestine, gegen mich gekehrt, sich zu Boden bückte, so klaffte der Spalt ihres groben Hemdes weit aus einander, ich sah nicht nur Formen, sondern auch schimmernde Farbe. Mein Erschrecken stieg auf den höchsten Grad und raubte mir fast alle Besinnung. Meine Strohbünder legten sich immer spitzwinkliger, bildeten immer kühnere Kurven. Ich verstand mich selber nicht mehr. Mein Zustand war der selt¬ samste von der Welt. Vieles mischte sich darein, auch jenes rätselhafte Gefühl, das man Scham nennt. Sie mochte sogar das stärkste in mir sein. Ich schlug die Augen nieder, und das Blut stieg mir nach dem Kopfe; eine Ver¬ wirrung kam über mich, wie von einem leichten Schwindel. Damals kam mir kein Gedanke, daß Cölestine von dem, was in mir vor¬ ging, eine Vermutung haben könne. Aber wenn ich mir heute vorstelle, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/378>, abgerufen am 08.01.2025.