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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Allerdings scheint es, als ob in der That besser für die Kenntnis der
neuesten deutschen Geschichte gesorgt werden müßte, da zahllose Zeitungen
offenbar von Menschen geschrieben werden, die gar nicht wissen, was sich in
den ersten zwei Dritteilen unsers Jahrhunderts zugetragen hat. Sie wissen
nichts von der Sammluug, Stählung und Erhebung des Volks zwischen Jena
und Jena, zwischen der Zertrümmerung Preußens und der unseligen That
Sands. Nichts von der Unterdrückung, Lähmung, Zerrüttung des National¬
bewußtseins in den folgenden Jahrzehnten. Nichts von den planlosen Anläufen
und dem regelmäßigen Zurückschrecken vor dem Sprunge Friedrich Wilhelms
des Vierten. Nichts von dessen unheilvollen Versvhnungsversucheu mit Polen
und Ultramontanen. Nichts von den Demütigungen Preußens in der deutschen,
der holsteinischen, der Neuenburger Angelegenheit und der beleidigenden Art
der Zulassung der fünften Großmacht zum Pariser Kongreß. Wüßten sie von
alledem das geringste, erinnerten sie sich noch, wie Nikolaus, Palmerston und
Louis Napoleon die Welt regierten, sie konnten nicht die Stirn haben, sich
anzustellen, als sähen sie die Unterschiede und Nhulichkeiteu nicht in der Welt-
stellung Deutschlands bis 1864, bis 1882 und seitdem. Mau müßte selbst
so naiv sein wie die norddeutsche Allgemeine Zeitung und Konsorten, wollte
mau ihre Frage nach Beweisen für die Verändrung unsrer Beziehungen zum
Auslande durch Aufzählung der Thatsachen beantworten, die leider jedes Kind
kennt. Lesen denn die Berliner Artikelschreiber und ihre Auftraggeber keine
fremden Zeitungen? Machen sie keine Reisen? Das höhnische Lächeln unsrer
grimmigsten Feinde, der Schmerz und Zorn unsrer aufrichtigsten Freunde
könnten sie aufklären. Und welcher unglückliche Einfall, die neue Wendung
in der Stellung zu Polen durch die Erinnerung daran, daß Bismarck einst
den Grafen Ledochowski empfohlen habe, entschuldigen zu wollen! Wenn
Bismarck von dem Manne besser dachte, als er verdiente -- muß ihm denn
gerade ein Fehlgriff nachgemacht werden, da man sich so ängstlich hütet, ihn,
in seinen Meisterzügen zum Vorbilde zu nehmen?

Aber schlimmer als dieses ganze ekle Treiben bis hinab zu dem von
"demokratischen" Lakaien dem Berliner Pöbel freundlich erteilten Winke, an
dem Schöpfer des deutschen Reichs sein Mütchen zu kühlen, viel schlimmer als
alles das siud die ebenso kleinlichen als wilden Ausbrüche persönlichen Hasses
und -- muß man nicht glauben: persönlicher Furcht! Wer Wagenseils Ge¬
schichte gefallener Staatsmänner durchblättert, schaudert bei der Erinnerung,
zu welchen Unthaten sich politische Leidenschaft, Neid, Nachsucht, Undankbarkeit
und Schwäche so oft verbündet haben. Die Gegenwart ist "humaner." Man
blendet, rädert, meuchelt die Helden und Staatslenker nicht mehr, die ihre
ganze Lebenskraft für das Wohl ihres Landes eingesetzt und dabei Privat¬
interessen und Privatempfindlichkciten verletzt hatten. Aber ist es wirklich
würdiger, für einen Bismarck die berüchtigten Worte Schuleuburgs, daß Ruhe


Allerdings scheint es, als ob in der That besser für die Kenntnis der
neuesten deutschen Geschichte gesorgt werden müßte, da zahllose Zeitungen
offenbar von Menschen geschrieben werden, die gar nicht wissen, was sich in
den ersten zwei Dritteilen unsers Jahrhunderts zugetragen hat. Sie wissen
nichts von der Sammluug, Stählung und Erhebung des Volks zwischen Jena
und Jena, zwischen der Zertrümmerung Preußens und der unseligen That
Sands. Nichts von der Unterdrückung, Lähmung, Zerrüttung des National¬
bewußtseins in den folgenden Jahrzehnten. Nichts von den planlosen Anläufen
und dem regelmäßigen Zurückschrecken vor dem Sprunge Friedrich Wilhelms
des Vierten. Nichts von dessen unheilvollen Versvhnungsversucheu mit Polen
und Ultramontanen. Nichts von den Demütigungen Preußens in der deutschen,
der holsteinischen, der Neuenburger Angelegenheit und der beleidigenden Art
der Zulassung der fünften Großmacht zum Pariser Kongreß. Wüßten sie von
alledem das geringste, erinnerten sie sich noch, wie Nikolaus, Palmerston und
Louis Napoleon die Welt regierten, sie konnten nicht die Stirn haben, sich
anzustellen, als sähen sie die Unterschiede und Nhulichkeiteu nicht in der Welt-
stellung Deutschlands bis 1864, bis 1882 und seitdem. Mau müßte selbst
so naiv sein wie die norddeutsche Allgemeine Zeitung und Konsorten, wollte
mau ihre Frage nach Beweisen für die Verändrung unsrer Beziehungen zum
Auslande durch Aufzählung der Thatsachen beantworten, die leider jedes Kind
kennt. Lesen denn die Berliner Artikelschreiber und ihre Auftraggeber keine
fremden Zeitungen? Machen sie keine Reisen? Das höhnische Lächeln unsrer
grimmigsten Feinde, der Schmerz und Zorn unsrer aufrichtigsten Freunde
könnten sie aufklären. Und welcher unglückliche Einfall, die neue Wendung
in der Stellung zu Polen durch die Erinnerung daran, daß Bismarck einst
den Grafen Ledochowski empfohlen habe, entschuldigen zu wollen! Wenn
Bismarck von dem Manne besser dachte, als er verdiente — muß ihm denn
gerade ein Fehlgriff nachgemacht werden, da man sich so ängstlich hütet, ihn,
in seinen Meisterzügen zum Vorbilde zu nehmen?

Aber schlimmer als dieses ganze ekle Treiben bis hinab zu dem von
„demokratischen" Lakaien dem Berliner Pöbel freundlich erteilten Winke, an
dem Schöpfer des deutschen Reichs sein Mütchen zu kühlen, viel schlimmer als
alles das siud die ebenso kleinlichen als wilden Ausbrüche persönlichen Hasses
und — muß man nicht glauben: persönlicher Furcht! Wer Wagenseils Ge¬
schichte gefallener Staatsmänner durchblättert, schaudert bei der Erinnerung,
zu welchen Unthaten sich politische Leidenschaft, Neid, Nachsucht, Undankbarkeit
und Schwäche so oft verbündet haben. Die Gegenwart ist „humaner." Man
blendet, rädert, meuchelt die Helden und Staatslenker nicht mehr, die ihre
ganze Lebenskraft für das Wohl ihres Landes eingesetzt und dabei Privat¬
interessen und Privatempfindlichkciten verletzt hatten. Aber ist es wirklich
würdiger, für einen Bismarck die berüchtigten Worte Schuleuburgs, daß Ruhe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/298>, abgerufen am 06.01.2025.