Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Bischof Walter und des Predigers sah. Nachdem er sich selbst und die widerstreitenden Seiten Die Seelsorge übte er in jenem großen Stil, der nur dort möglich ist, Bischof Walter und des Predigers sah. Nachdem er sich selbst und die widerstreitenden Seiten Die Seelsorge übte er in jenem großen Stil, der nur dort möglich ist, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0269" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212745"/> <fw type="header" place="top"> Bischof Walter</fw><lb/> <p xml:id="ID_873" prev="#ID_872"> und des Predigers sah. Nachdem er sich selbst und die widerstreitenden Seiten<lb/> seines Wesens mit dieser Liebe überwunden und das Wort: so viel einer liebt,<lb/> so viel lebt er, nicht nur unter sein Bild, sondern unter jeden Tag seines<lb/> Lebens geschrieben hatte, gab es keinen Widerstand mehr gegen die hinreißende<lb/> Gewalt seines Wesens. Wenn seine ernst gefurchte Stirn sich einmal glättete,<lb/> wenn sich um den sonst zusammengekniffneu strengen Mund ein freundliches<lb/> Lächeln zog, wenn seine tiefe, häufig rauhe Stimme weiche und warme Akkorde<lb/> erklingen ließ, so trug er den Sieg davon, einerlei, ob ein müder, stumpfer<lb/> Bauernknecht, ein aufgeblasener, wohlhabender Pächter oder ein frecher Junker<lb/> ihm gegenüber stand. Diese Überlegenheit seiner Natur, die mit unermüd¬<lb/> licher Treue in der Arbeit und großartiger Opfcrbcreitschaft im Wohlthun<lb/> Hand in Hemd ging, hatte Walteren j bereits während seiner Neuermühleuer<lb/> Amtsjahre eine Ausnahmestellung erworben; staunend erzählte das Landvolk<lb/> der Nachbarschaft von dem jungen Prediger, vor dem kein Ansehen der Person<lb/> galt, der allen mit dem gleichen imposanten Ernste und der gleichen Brüder¬<lb/> lichkeit begegnete."</p><lb/> <p xml:id="ID_874" next="#ID_875"> Die Seelsorge übte er in jenem großen Stil, der nur dort möglich ist,<lb/> wo der Pfarrer in feiner Amtsführung weder durch „konstitutionelle" Ein¬<lb/> richtungen noch durch büreaukratische Einmischung und Aufsicht eingeschränkt<lb/> und gestört wird. Er ward allen alles. Seine kleine deutsche Stadtgemeinde<lb/> führte er in das höhere deutsche Geistesleben ein. Jeden Mittwoch nachmittag<lb/> hielt er von drei bis vier eine Katechese für die Stadtkinder ab. Daran schloß<lb/> sich von vier bis fünf eine Bibelstunde für die Erwachsenen, und dann be¬<lb/> gleiteten ihn zwanzig bis dreißig Personen hinaus auf den Pfarrhof, einen<lb/> weitläufigen, ländlichen Herrensitz vor der Stadt, wo mit ihnen „schwere Lek¬<lb/> türe," auch philosophische, getrieben ward. „Auch gehaltvolle Schriften, welche<lb/> die Zeit augenblicklich bewegten, wie das Leben Jesu von Strauß in den<lb/> dreißiger Jahren, lernte man hier gemeinsam kennen, und mancher Gefahr, die<lb/> sie für den einzelnen haben konnte, ward durch den Austausch der Meinungen<lb/> vorgebeugt." Die Besorgung der achttausend Seelen starken und in ein¬<lb/> zelnen Höfen über einen Kreis von drei Meilen Durchmesser zerstreuten Land¬<lb/> gemeinde war in der Weise, wie sie Walter betrieb, nur bei strengster Zeit¬<lb/> einteilung und vollständiger Ausnutzung einer gewaltigen Arbeitskraft möglich.<lb/> Abgesehn von den Zeiten ansteckender Krankheiten, wo er unglaubliches leistete,<lb/> kostete es auch schon unter gewöhnlichen Umstünden sehr viel Zeit, mit allen<lb/> Kirchkindern die persönliche Verbindung zu unterhalten, die Kranken zu be¬<lb/> suchen, für die entfernt wohnenden, wie er es that, Hausgottesdieuste abzu¬<lb/> halten. Für die rechte Art zu predigen hat er selbst sorgfältige Anweisungen<lb/> ausgearbeitet. Das freilich, wodurch er hauptsächlich wirkte, kaun mit keiner<lb/> Anweisung eingetrichtert werden: das Vermögen, „den Inhalt der Predigt<lb/> ohne Nest in eine persönliche Handlung umzusetzen." Selbstverständlich nahm</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0269]
Bischof Walter
und des Predigers sah. Nachdem er sich selbst und die widerstreitenden Seiten
seines Wesens mit dieser Liebe überwunden und das Wort: so viel einer liebt,
so viel lebt er, nicht nur unter sein Bild, sondern unter jeden Tag seines
Lebens geschrieben hatte, gab es keinen Widerstand mehr gegen die hinreißende
Gewalt seines Wesens. Wenn seine ernst gefurchte Stirn sich einmal glättete,
wenn sich um den sonst zusammengekniffneu strengen Mund ein freundliches
Lächeln zog, wenn seine tiefe, häufig rauhe Stimme weiche und warme Akkorde
erklingen ließ, so trug er den Sieg davon, einerlei, ob ein müder, stumpfer
Bauernknecht, ein aufgeblasener, wohlhabender Pächter oder ein frecher Junker
ihm gegenüber stand. Diese Überlegenheit seiner Natur, die mit unermüd¬
licher Treue in der Arbeit und großartiger Opfcrbcreitschaft im Wohlthun
Hand in Hemd ging, hatte Walteren j bereits während seiner Neuermühleuer
Amtsjahre eine Ausnahmestellung erworben; staunend erzählte das Landvolk
der Nachbarschaft von dem jungen Prediger, vor dem kein Ansehen der Person
galt, der allen mit dem gleichen imposanten Ernste und der gleichen Brüder¬
lichkeit begegnete."
Die Seelsorge übte er in jenem großen Stil, der nur dort möglich ist,
wo der Pfarrer in feiner Amtsführung weder durch „konstitutionelle" Ein¬
richtungen noch durch büreaukratische Einmischung und Aufsicht eingeschränkt
und gestört wird. Er ward allen alles. Seine kleine deutsche Stadtgemeinde
führte er in das höhere deutsche Geistesleben ein. Jeden Mittwoch nachmittag
hielt er von drei bis vier eine Katechese für die Stadtkinder ab. Daran schloß
sich von vier bis fünf eine Bibelstunde für die Erwachsenen, und dann be¬
gleiteten ihn zwanzig bis dreißig Personen hinaus auf den Pfarrhof, einen
weitläufigen, ländlichen Herrensitz vor der Stadt, wo mit ihnen „schwere Lek¬
türe," auch philosophische, getrieben ward. „Auch gehaltvolle Schriften, welche
die Zeit augenblicklich bewegten, wie das Leben Jesu von Strauß in den
dreißiger Jahren, lernte man hier gemeinsam kennen, und mancher Gefahr, die
sie für den einzelnen haben konnte, ward durch den Austausch der Meinungen
vorgebeugt." Die Besorgung der achttausend Seelen starken und in ein¬
zelnen Höfen über einen Kreis von drei Meilen Durchmesser zerstreuten Land¬
gemeinde war in der Weise, wie sie Walter betrieb, nur bei strengster Zeit¬
einteilung und vollständiger Ausnutzung einer gewaltigen Arbeitskraft möglich.
Abgesehn von den Zeiten ansteckender Krankheiten, wo er unglaubliches leistete,
kostete es auch schon unter gewöhnlichen Umstünden sehr viel Zeit, mit allen
Kirchkindern die persönliche Verbindung zu unterhalten, die Kranken zu be¬
suchen, für die entfernt wohnenden, wie er es that, Hausgottesdieuste abzu¬
halten. Für die rechte Art zu predigen hat er selbst sorgfältige Anweisungen
ausgearbeitet. Das freilich, wodurch er hauptsächlich wirkte, kaun mit keiner
Anweisung eingetrichtert werden: das Vermögen, „den Inhalt der Predigt
ohne Nest in eine persönliche Handlung umzusetzen." Selbstverständlich nahm
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |