Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.der Ostseeprovinzen, so kann man doch nicht umhin, sich ein wenig zu wundern. Ferdinand Walter wurde 1801 zu Wolmar als ein Sohn des dortigen *) Bischof Dr. Ferdinand Walter, weil. Generalsuperintendcnt von Livland,
Seine Laudtagspredigten und sein Lebenslauf. Nach Briefen und Aufzeichnungen, Leipzig, Duncker und Humblot, 1891. der Ostseeprovinzen, so kann man doch nicht umhin, sich ein wenig zu wundern. Ferdinand Walter wurde 1801 zu Wolmar als ein Sohn des dortigen *) Bischof Dr. Ferdinand Walter, weil. Generalsuperintendcnt von Livland,
Seine Laudtagspredigten und sein Lebenslauf. Nach Briefen und Aufzeichnungen, Leipzig, Duncker und Humblot, 1891. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0267" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212743"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_869" prev="#ID_868"> der Ostseeprovinzen, so kann man doch nicht umhin, sich ein wenig zu wundern.<lb/> Wie sie anders sein könnten, dürfte freilich niemand anzugeben vermögen, und<lb/> daß ihr Untergang beschlossen scheint, bleibt für den evangelischen Deutschen<lb/> etwas Schreckliches. Die Lebensarbeit des Bischofs Walter war der Aufgabe<lb/> gewidmet, ihnen eine neue Zukunft zu erschließen. Daß er zuletzt den rus¬<lb/> sischen Feinden der evangelischen Deutschen weichen mußte, war eine böse Vor¬<lb/> bedeutung sür die Zukunft seines Landes. Wie schlimm sich diese gestalten<lb/> würde, hat er freilich nicht geahnt. Ehe wir auf seine kirchenpolitischen Kämpfe<lb/> und auf die eigentümlichen Verhältnisse des Landes, die sie enthüllen, einen<lb/> Blick werfen, wollen wir vorher nach einem vor kurzem erschienenen Buche/')<lb/> dessen Verfasser sich nicht nennt und auch durch kein Zeichen verrät, eine flüch¬<lb/> tige Lebensskizze entwerfen; der Mann gehört zu den Persönlichkeiten, mit<lb/> denen sich zu beschäftigen die Mühe lohnt.</p><lb/> <p xml:id="ID_870" next="#ID_871"> Ferdinand Walter wurde 1801 zu Wolmar als ein Sohn des dortigen<lb/> Kreisarztes geboren. Er widmete sich dem Universitätsstudium gleich seinen<lb/> fünf Brüdern, von denen mehrere im jugendlichen Alter starben. Ferdinand<lb/> war ein kerngesunder, derber, starker Knabe von leidenschaftlicher Heftigkeit, die<lb/> aber bloß der Ausdruck der Kraft war, „nicht einer besondern Reizbarkeit der<lb/> Nerven; von diesen mochte er auch später nie etwas hören." Auf der Uni¬<lb/> versität Dorpat ein fröhlicher Bursche, aber dabei fleißiger Student und eifriger<lb/> Kantianer, zeigte er sich dann in Abo schou als freien Denker und selbstciudigeu<lb/> Charakter. Seine Gradualdissertation ^.et x8!illnum 86iZuuäurn eourrliöilllirius<lb/> wollte der theologischen Fakultät gar uicht gefallen. Man fragte ihn: „Kennen<lb/> Herr Kandidat unsre Konstitutionen?" Ja, soviel ich ihrer bedarf. „Kennen Sie<lb/> die L?ontL88lo ^.ug'v.8t.Ang. und (üoneillum, Up8g.lLN8ö, an welche Sie durch jene<lb/> versprochen haben, Ihr Leben lang zu hängen?" Die Promotion unterblieb.<lb/> Drei Jahre verbrachte er als Hauslehrer auf einem Landgute, wo sich sein<lb/> Beruf zum Seelsorger durch lebhaftes Juteresse sür die Bauern äußerte. Es<lb/> liegt, schreibt er von dort, „ein eigner Reiz für den Gelehrten darin, über das<lb/> Leben und Treiben und über die speziellsten Einzelheiten des Landmanns solche<lb/> Aufschlüsse zu bekomme:?, die ihm eine ganz neue Seite vom Leben der Mensch¬<lb/> heit aufdecken. Die Kenntnis des Lebens einer Dorfgemeinde hat eine weit<lb/> herrlichere und ergötzlichere Seite, als man ahnen mag." Nach Ablauf der<lb/> drei Jahre begab er sich auf Reisen. Schweden hatte er schon früher kennen<lb/> lernen; nun besuchte er Dänemark, durchwanderte dann Deutschland, schwelgte<lb/> im Genuß der Naturschönheiten Tirols, der Schweiz und des Rheinlands<lb/> und ließ sich endlich in Berlin nieder, wo er Landsleute fand und Hegel eifrig<lb/> hörte. Er arbeitete rüstig und gewissenhaft, vielleicht übermäßig, ging aber</p><lb/> <note xml:id="FID_21" place="foot"> *) Bischof Dr. Ferdinand Walter, weil. Generalsuperintendcnt von Livland,<lb/> Seine Laudtagspredigten und sein Lebenslauf. Nach Briefen und Aufzeichnungen, Leipzig,<lb/> Duncker und Humblot, 1891.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0267]
der Ostseeprovinzen, so kann man doch nicht umhin, sich ein wenig zu wundern.
Wie sie anders sein könnten, dürfte freilich niemand anzugeben vermögen, und
daß ihr Untergang beschlossen scheint, bleibt für den evangelischen Deutschen
etwas Schreckliches. Die Lebensarbeit des Bischofs Walter war der Aufgabe
gewidmet, ihnen eine neue Zukunft zu erschließen. Daß er zuletzt den rus¬
sischen Feinden der evangelischen Deutschen weichen mußte, war eine böse Vor¬
bedeutung sür die Zukunft seines Landes. Wie schlimm sich diese gestalten
würde, hat er freilich nicht geahnt. Ehe wir auf seine kirchenpolitischen Kämpfe
und auf die eigentümlichen Verhältnisse des Landes, die sie enthüllen, einen
Blick werfen, wollen wir vorher nach einem vor kurzem erschienenen Buche/')
dessen Verfasser sich nicht nennt und auch durch kein Zeichen verrät, eine flüch¬
tige Lebensskizze entwerfen; der Mann gehört zu den Persönlichkeiten, mit
denen sich zu beschäftigen die Mühe lohnt.
Ferdinand Walter wurde 1801 zu Wolmar als ein Sohn des dortigen
Kreisarztes geboren. Er widmete sich dem Universitätsstudium gleich seinen
fünf Brüdern, von denen mehrere im jugendlichen Alter starben. Ferdinand
war ein kerngesunder, derber, starker Knabe von leidenschaftlicher Heftigkeit, die
aber bloß der Ausdruck der Kraft war, „nicht einer besondern Reizbarkeit der
Nerven; von diesen mochte er auch später nie etwas hören." Auf der Uni¬
versität Dorpat ein fröhlicher Bursche, aber dabei fleißiger Student und eifriger
Kantianer, zeigte er sich dann in Abo schou als freien Denker und selbstciudigeu
Charakter. Seine Gradualdissertation ^.et x8!illnum 86iZuuäurn eourrliöilllirius
wollte der theologischen Fakultät gar uicht gefallen. Man fragte ihn: „Kennen
Herr Kandidat unsre Konstitutionen?" Ja, soviel ich ihrer bedarf. „Kennen Sie
die L?ontL88lo ^.ug'v.8t.Ang. und (üoneillum, Up8g.lLN8ö, an welche Sie durch jene
versprochen haben, Ihr Leben lang zu hängen?" Die Promotion unterblieb.
Drei Jahre verbrachte er als Hauslehrer auf einem Landgute, wo sich sein
Beruf zum Seelsorger durch lebhaftes Juteresse sür die Bauern äußerte. Es
liegt, schreibt er von dort, „ein eigner Reiz für den Gelehrten darin, über das
Leben und Treiben und über die speziellsten Einzelheiten des Landmanns solche
Aufschlüsse zu bekomme:?, die ihm eine ganz neue Seite vom Leben der Mensch¬
heit aufdecken. Die Kenntnis des Lebens einer Dorfgemeinde hat eine weit
herrlichere und ergötzlichere Seite, als man ahnen mag." Nach Ablauf der
drei Jahre begab er sich auf Reisen. Schweden hatte er schon früher kennen
lernen; nun besuchte er Dänemark, durchwanderte dann Deutschland, schwelgte
im Genuß der Naturschönheiten Tirols, der Schweiz und des Rheinlands
und ließ sich endlich in Berlin nieder, wo er Landsleute fand und Hegel eifrig
hörte. Er arbeitete rüstig und gewissenhaft, vielleicht übermäßig, ging aber
*) Bischof Dr. Ferdinand Walter, weil. Generalsuperintendcnt von Livland,
Seine Laudtagspredigten und sein Lebenslauf. Nach Briefen und Aufzeichnungen, Leipzig,
Duncker und Humblot, 1891.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |