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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Vhne Ideale

bleiben will, der kann gar nicht für irgendwelche Beschränkung der wirtschaft¬
lichen Freiheit des einzelnen eintreten, der muß die wirtschaftlichen Verhältnisse
dein "freien Spiel der Kräfte," dem wechselnden Verhältnis zwischen Angebot
und Nachfrage überlassen, Schon die annähernde Verwirklichung dieses Ideals,
wie sie in dem "glücklichen" England eingetreten ist, hat unermeßliches Unheil
über die Welt gebracht. Sie hat die ganze nlteOrganisation derArbeit zerstört, ohne
eine neue an die Stelle zu setzen, sie hat die arbeitende Gesellschaft in lauter
Einzelwesen aufgelöst, die sich zur weitaus größern Hälfte der Freiheit er¬
freuen, zu hungern, und zur andern sehr viel kleinern Hälfte der angenehmem
Freiheit, sich von der Arbeit der andern zu bereichern; es hat den in dieser
unvollkommenen Welt nun einmal unvermeidlichen Gegensatz zwischen reich
und arm furchtbar gesteigert und die arbeitende Menschheit in zwei schroff ge¬
trennte Kasten, die Arbeitgeber und die Arbeiter oder, wie man jetzt sagt,
"Arbeitnehmer," geschieden. Und da sollen wir in andern Ländern, wo dies
"Ideal" noch nicht so vollständig verwirklicht ist, wie in England, es noch
als ein Ideal gelten lassen und seine Verwirklichung erstreben? Das könnte
nur die Selbstsucht oder der Unverstand wollen. Für Unbefangne ist dieses
Ideal abgethan und tot.

Der religiöse Liberalismus endlich ist das Kind jener deistischen "Auf-
klärung" des vorigen Jahrhunderts, die den Unterschied der Konfessionen und
Religionen als eine" überwuuduen Standpunkt betrachtete und nur noch an
den Begriffen Gott, Tugend, Unsterblichkeit festhielt. Die edelste poetische
Verkörperung dieser Anschauungen ist bekanntlich Lessings "Nathan," und
unsre ganze klassische Litteratur steht auf diesem Standpunkte. Sie wollte
damit eine Aristokratie der Bildung schaffe", die sich aus Bekennern oder viel¬
mehr Augehörigen der verschiednen Konfessionen zusammensetzte und die reine
Humanität als das Ideal des gebildeten Mannes feierte, und hat sie ge¬
schaffen. Ihr verdanken wir Deutschen, daß die konfessionellen Gegensätze,
unter denen wir mehr gelitten haben als jedes andre Volk, zurücktraten, und
daß der nationale Gedanke möglich wurde. Aber jene ganze Richtung hat
doch übersehen, daß sie schlechterdings nur für eine kleine Minderheit brauchbar
war, der die wirkliche Not des Lebens fern lag. Für die materielle und sitt¬
liche Not der Massen hat sie wenig Sinn gehabt, und wer dürfte hente be¬
haupten, daß die Anschauungen unsrer klassischen Dichter ins Volk gedrungen
seien? Im vollen Sinne des Wortes volkstümlich ist diese Litteratur niemals
gewesen, sie wollte es nicht sein, und sie wird es nie sein. Wenn nur die
Mehrzahl der Gebildete,? "och jene Ideale wirklich hätte! Aber sie sind weit
entfernt davon. Der religiöse Liberalismus unsrer Tage ist zwar ein Ab¬
kömmling jener Aufklärung, aber ein recht entarteter Sprößling. Er hat mit
keiner Mutter nur noch die Gleichgültigkeit gegen den positiven Glauben, aber
seineswegs mehr ihre Ideale gemein, er ist pessimistisch und materialistisch,


Vhne Ideale

bleiben will, der kann gar nicht für irgendwelche Beschränkung der wirtschaft¬
lichen Freiheit des einzelnen eintreten, der muß die wirtschaftlichen Verhältnisse
dein „freien Spiel der Kräfte," dem wechselnden Verhältnis zwischen Angebot
und Nachfrage überlassen, Schon die annähernde Verwirklichung dieses Ideals,
wie sie in dem „glücklichen" England eingetreten ist, hat unermeßliches Unheil
über die Welt gebracht. Sie hat die ganze nlteOrganisation derArbeit zerstört, ohne
eine neue an die Stelle zu setzen, sie hat die arbeitende Gesellschaft in lauter
Einzelwesen aufgelöst, die sich zur weitaus größern Hälfte der Freiheit er¬
freuen, zu hungern, und zur andern sehr viel kleinern Hälfte der angenehmem
Freiheit, sich von der Arbeit der andern zu bereichern; es hat den in dieser
unvollkommenen Welt nun einmal unvermeidlichen Gegensatz zwischen reich
und arm furchtbar gesteigert und die arbeitende Menschheit in zwei schroff ge¬
trennte Kasten, die Arbeitgeber und die Arbeiter oder, wie man jetzt sagt,
„Arbeitnehmer," geschieden. Und da sollen wir in andern Ländern, wo dies
„Ideal" noch nicht so vollständig verwirklicht ist, wie in England, es noch
als ein Ideal gelten lassen und seine Verwirklichung erstreben? Das könnte
nur die Selbstsucht oder der Unverstand wollen. Für Unbefangne ist dieses
Ideal abgethan und tot.

Der religiöse Liberalismus endlich ist das Kind jener deistischen „Auf-
klärung" des vorigen Jahrhunderts, die den Unterschied der Konfessionen und
Religionen als eine» überwuuduen Standpunkt betrachtete und nur noch an
den Begriffen Gott, Tugend, Unsterblichkeit festhielt. Die edelste poetische
Verkörperung dieser Anschauungen ist bekanntlich Lessings „Nathan," und
unsre ganze klassische Litteratur steht auf diesem Standpunkte. Sie wollte
damit eine Aristokratie der Bildung schaffe», die sich aus Bekennern oder viel¬
mehr Augehörigen der verschiednen Konfessionen zusammensetzte und die reine
Humanität als das Ideal des gebildeten Mannes feierte, und hat sie ge¬
schaffen. Ihr verdanken wir Deutschen, daß die konfessionellen Gegensätze,
unter denen wir mehr gelitten haben als jedes andre Volk, zurücktraten, und
daß der nationale Gedanke möglich wurde. Aber jene ganze Richtung hat
doch übersehen, daß sie schlechterdings nur für eine kleine Minderheit brauchbar
war, der die wirkliche Not des Lebens fern lag. Für die materielle und sitt¬
liche Not der Massen hat sie wenig Sinn gehabt, und wer dürfte hente be¬
haupten, daß die Anschauungen unsrer klassischen Dichter ins Volk gedrungen
seien? Im vollen Sinne des Wortes volkstümlich ist diese Litteratur niemals
gewesen, sie wollte es nicht sein, und sie wird es nie sein. Wenn nur die
Mehrzahl der Gebildete,? »och jene Ideale wirklich hätte! Aber sie sind weit
entfernt davon. Der religiöse Liberalismus unsrer Tage ist zwar ein Ab¬
kömmling jener Aufklärung, aber ein recht entarteter Sprößling. Er hat mit
keiner Mutter nur noch die Gleichgültigkeit gegen den positiven Glauben, aber
seineswegs mehr ihre Ideale gemein, er ist pessimistisch und materialistisch,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/15>, abgerufen am 06.01.2025.