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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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arten zu beruhigen. Dem Herrn Professor, sagte ich, ist etwas unwohl ge¬
worden, es ist aber durchaus nicht schlimm, liebes Fräulein, es hat keine
Gefahr. Es scheint mir am ratsamsten, der Herr Vater geht gleich zu Bette.
Man wird ihm dabei wohl etwas behilflich sein müssen.

O wie entsetzlich! rief sie und drückte das Taschentuch gegen die Augen.
Denken Sie nur, gerade heute ist unser Mädchen ausgegangen, weil der Vater
nicht zu Hause war; und nun bin ich mutterseelenallein! Dn lieber Himmel,
was fange ich nur mit dem kranken Vater an?

Der Alte stand mit gesenktem Kopf und geschloßnen Augen da, nur zu¬
weilen zuckte es in ihm, wie ein schlummerndes und träumendes Gefühl ver¬
letzter Menschenwürde.

Ich bot dem lieben Kinde meine Hilfe an, und nachdem wir dem macht¬
losen und doch eigensinnigen Alten den Frack ausgezogen hatten, brachten wir
ihn, so gut es ging, auf sein Bett.

Als ich mich von Fräulein Marie verabschieden wollte, bat sie mich in¬
ständig, sie doch nicht zu verlassen. Vielleicht würde es mit dem Vater
schlimmer, und dann müßte der Arzt geholt werden, und sie habe niemand
zu schicken, denn das Mädchen sei sicher zu Tauze. So saßen wir denu beide
still und eingeschüchtert vor dem Bette des von dem Schillerseste uieder-
geworfnen Professors. Aus dein Nebenzimmer hörte man das gedämpfte ein¬
förmige Ticken einer Wanduhr, sonst war alles still.

Der Professor schlief anfangs ruhig. Aber bald bewegte er sich lebhaft;
die Bettwärme schien noch einmal alle wildeu Geister in dem Schillerschwärmer
wachzurufen. Es dauerte nicht lange, und er schwamm wieder in einem Meere
von Sprüchen und Sentenzen aus Schillers Dramen und Balladen. Er war
fabelhaft darin beschlagen, aber er warf in seinen Deklamationen die Zitate
so wirr durch einander, daß einem zu Mute war, als hätte man ein Kaleido¬
skop vor den Augen.

Wir hörten anfangs traurig und ängstlich zu. Aber allmählich kam
über uns dieselbe Stimmung wie über den Konzertbesucher, der ein Potpourri
oder musikalische Wandelbilder hört und glücklich ist, wenn er weiß, daß
dieses aus Robert dem Teufel und jeues aus der schönen blauen Donum stammt.
Wir lebten schließlich ganz in den Schillerphantasien des Professors. Wir
paßten genau auf. Das einemal sagte Marie ganz leise zu mir: Das ist
aus der Klage der Ceres; ich nickte und fand für das nächste als Quelle den
Kampf mit dem Drachen, und während so der Alte im Bette sein unerschöpf¬
liches Füllhorn ausschüttete, flüsterten wir uns beständig die Titel der Gedichte
zu und nickten vergnügt, wenn es stimmte. Nur einmal waren wir nicht einig,
als der Alte sagte:


Das Weib soll sich nicht selber angehören,
An fremdes Schicksal ist sie festgebunden.

arten zu beruhigen. Dem Herrn Professor, sagte ich, ist etwas unwohl ge¬
worden, es ist aber durchaus nicht schlimm, liebes Fräulein, es hat keine
Gefahr. Es scheint mir am ratsamsten, der Herr Vater geht gleich zu Bette.
Man wird ihm dabei wohl etwas behilflich sein müssen.

O wie entsetzlich! rief sie und drückte das Taschentuch gegen die Augen.
Denken Sie nur, gerade heute ist unser Mädchen ausgegangen, weil der Vater
nicht zu Hause war; und nun bin ich mutterseelenallein! Dn lieber Himmel,
was fange ich nur mit dem kranken Vater an?

Der Alte stand mit gesenktem Kopf und geschloßnen Augen da, nur zu¬
weilen zuckte es in ihm, wie ein schlummerndes und träumendes Gefühl ver¬
letzter Menschenwürde.

Ich bot dem lieben Kinde meine Hilfe an, und nachdem wir dem macht¬
losen und doch eigensinnigen Alten den Frack ausgezogen hatten, brachten wir
ihn, so gut es ging, auf sein Bett.

Als ich mich von Fräulein Marie verabschieden wollte, bat sie mich in¬
ständig, sie doch nicht zu verlassen. Vielleicht würde es mit dem Vater
schlimmer, und dann müßte der Arzt geholt werden, und sie habe niemand
zu schicken, denn das Mädchen sei sicher zu Tauze. So saßen wir denu beide
still und eingeschüchtert vor dem Bette des von dem Schillerseste uieder-
geworfnen Professors. Aus dein Nebenzimmer hörte man das gedämpfte ein¬
förmige Ticken einer Wanduhr, sonst war alles still.

Der Professor schlief anfangs ruhig. Aber bald bewegte er sich lebhaft;
die Bettwärme schien noch einmal alle wildeu Geister in dem Schillerschwärmer
wachzurufen. Es dauerte nicht lange, und er schwamm wieder in einem Meere
von Sprüchen und Sentenzen aus Schillers Dramen und Balladen. Er war
fabelhaft darin beschlagen, aber er warf in seinen Deklamationen die Zitate
so wirr durch einander, daß einem zu Mute war, als hätte man ein Kaleido¬
skop vor den Augen.

Wir hörten anfangs traurig und ängstlich zu. Aber allmählich kam
über uns dieselbe Stimmung wie über den Konzertbesucher, der ein Potpourri
oder musikalische Wandelbilder hört und glücklich ist, wenn er weiß, daß
dieses aus Robert dem Teufel und jeues aus der schönen blauen Donum stammt.
Wir lebten schließlich ganz in den Schillerphantasien des Professors. Wir
paßten genau auf. Das einemal sagte Marie ganz leise zu mir: Das ist
aus der Klage der Ceres; ich nickte und fand für das nächste als Quelle den
Kampf mit dem Drachen, und während so der Alte im Bette sein unerschöpf¬
liches Füllhorn ausschüttete, flüsterten wir uns beständig die Titel der Gedichte
zu und nickten vergnügt, wenn es stimmte. Nur einmal waren wir nicht einig,
als der Alte sagte:


Das Weib soll sich nicht selber angehören,
An fremdes Schicksal ist sie festgebunden.

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[0143] arten zu beruhigen. Dem Herrn Professor, sagte ich, ist etwas unwohl ge¬ worden, es ist aber durchaus nicht schlimm, liebes Fräulein, es hat keine Gefahr. Es scheint mir am ratsamsten, der Herr Vater geht gleich zu Bette. Man wird ihm dabei wohl etwas behilflich sein müssen. O wie entsetzlich! rief sie und drückte das Taschentuch gegen die Augen. Denken Sie nur, gerade heute ist unser Mädchen ausgegangen, weil der Vater nicht zu Hause war; und nun bin ich mutterseelenallein! Dn lieber Himmel, was fange ich nur mit dem kranken Vater an? Der Alte stand mit gesenktem Kopf und geschloßnen Augen da, nur zu¬ weilen zuckte es in ihm, wie ein schlummerndes und träumendes Gefühl ver¬ letzter Menschenwürde. Ich bot dem lieben Kinde meine Hilfe an, und nachdem wir dem macht¬ losen und doch eigensinnigen Alten den Frack ausgezogen hatten, brachten wir ihn, so gut es ging, auf sein Bett. Als ich mich von Fräulein Marie verabschieden wollte, bat sie mich in¬ ständig, sie doch nicht zu verlassen. Vielleicht würde es mit dem Vater schlimmer, und dann müßte der Arzt geholt werden, und sie habe niemand zu schicken, denn das Mädchen sei sicher zu Tauze. So saßen wir denu beide still und eingeschüchtert vor dem Bette des von dem Schillerseste uieder- geworfnen Professors. Aus dein Nebenzimmer hörte man das gedämpfte ein¬ förmige Ticken einer Wanduhr, sonst war alles still. Der Professor schlief anfangs ruhig. Aber bald bewegte er sich lebhaft; die Bettwärme schien noch einmal alle wildeu Geister in dem Schillerschwärmer wachzurufen. Es dauerte nicht lange, und er schwamm wieder in einem Meere von Sprüchen und Sentenzen aus Schillers Dramen und Balladen. Er war fabelhaft darin beschlagen, aber er warf in seinen Deklamationen die Zitate so wirr durch einander, daß einem zu Mute war, als hätte man ein Kaleido¬ skop vor den Augen. Wir hörten anfangs traurig und ängstlich zu. Aber allmählich kam über uns dieselbe Stimmung wie über den Konzertbesucher, der ein Potpourri oder musikalische Wandelbilder hört und glücklich ist, wenn er weiß, daß dieses aus Robert dem Teufel und jeues aus der schönen blauen Donum stammt. Wir lebten schließlich ganz in den Schillerphantasien des Professors. Wir paßten genau auf. Das einemal sagte Marie ganz leise zu mir: Das ist aus der Klage der Ceres; ich nickte und fand für das nächste als Quelle den Kampf mit dem Drachen, und während so der Alte im Bette sein unerschöpf¬ liches Füllhorn ausschüttete, flüsterten wir uns beständig die Titel der Gedichte zu und nickten vergnügt, wenn es stimmte. Nur einmal waren wir nicht einig, als der Alte sagte: Das Weib soll sich nicht selber angehören, An fremdes Schicksal ist sie festgebunden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/143>, abgerufen am 08.01.2025.