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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage

trachten. Leider beseitigte die beginnende Reaktion diesen Entwurf, schied die
Nation wieder nach Standen und Konfesstonen und errichtete Standes- und
Konfcssionsschnlen. Aber kirchlich-dogmatische Schulbildung giebt keine feste
religiös-sittliche Weltanschauung, die des Mensche" Gemüt und Denken befrie¬
digt. Der so erzogne Mensch fällt der Sozialdemokratie und dem Atheismus
anheim. - Die Sozialdemokratie will das andre Extrem, die "Zwangsschule,"
die allen eine völlig gleiche Ausbildung giebt. Diesen Fragen gegenüber muß
die Schule Stellung nehmen.

Der Drang des deutschen Volksgeistes nach nationaler Einheit ist durch
die Errichtung des deutschen Reichs nicht völlig befriedigt worden; denn die
"wahre Homogenität" eines Volks besteht nicht in äußern Dingen, sondern in
der Gemeinschaft der geistigen und sittlichen Grundlagen. Stände und Kon¬
sessionen müssen sich wie Glieder eines Organismus aus dem nationalen Kultur¬
leben in naturgemäßer Weise "herausentwickeln" und nicht künstlich gemacht
sein, wenn die "wahre Homogenität" einer Nation, auf welcher ihre Stärke be¬
ruht, erzeugt werden soll. Nur dann können sie sich gegenseitig verstehen und
achten und sich gemeinsam in Liebe und Eintracht an der nationalen Kultur¬
arbeit beteiligen. Die Trennung der Kinder vom ersten Schnltage an nach
Ständen und Konfesstonen ist aber eine künstliche: denn "alle Menschen sind
in ihrem Wesen gleich, und allgemeine Emporbildnng zu reiner Menschenheit (?)
ist Zweck und Aufgabe der Erziehung bei allen Menschen." Durch eine natio¬
nale Schulbildung, die in ihrem Fundamente gleichartig und gemeinsam ist
und durch den gemeinsamen nationalen Bildungsstoff eine im ganzen gleich¬
artige, nur dem Grade nach verschiedne Bildung vermittelt, wird das deutsche
Volk zu einer nationalen Einheit erzogen und jeder befähigt, sich an der
nationalen Kulturarbeit zu beteiligen. Durch sie wird der Mensch zu einem
religiös-sittlichen Charakter, der sein Eigenwohl dem Wohle des Ganzen unter¬
ordnet und sich, wenn auch die Vildungs- und Berufswege auseinandergehen,
doch als Glied des nationalen Ganzen fühlt. Durch sie wird der Klasfenhaß
verbannt und edler Gemeinsinn nnter den Gliedern der Nation erzeugt. So¬
mit wird durch eine allgemeine Volksschule eine Ursache und eine Erscheinung
der sozialen Krankheit beseitigt, zwischen Reichen und Armen ein Band gegen¬
seitiger Liebe und Wertschätzung geknüpft, das Verständnis der Lebensverhält-
nisse der verschiednen Stände unter einander, vor allem aber der vertrauliche
Verkehr von Person zu Person angebahnt. Die Kinder der verschiednen
Stände regen sich gegenseitig an und müssen sich in ein soziales Ganze ein¬
fügen, worin alle gleiche Rechte und Pflichten haben. Die Gliederung der
Nationalschule auf dem Fundament der allgemeinen Volksschule beginnt, wenn
die Grundlagen zur allgemein menschlichen und nationalen Bildung gelegt siud
und sich die individuelle Ausprägung mit ziemlicher Sicherheit erkennen läßt.
Der Staat muß dafür Sorge tragen, daß es auch dem armen Kinde möglich


Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage

trachten. Leider beseitigte die beginnende Reaktion diesen Entwurf, schied die
Nation wieder nach Standen und Konfesstonen und errichtete Standes- und
Konfcssionsschnlen. Aber kirchlich-dogmatische Schulbildung giebt keine feste
religiös-sittliche Weltanschauung, die des Mensche» Gemüt und Denken befrie¬
digt. Der so erzogne Mensch fällt der Sozialdemokratie und dem Atheismus
anheim. - Die Sozialdemokratie will das andre Extrem, die „Zwangsschule,"
die allen eine völlig gleiche Ausbildung giebt. Diesen Fragen gegenüber muß
die Schule Stellung nehmen.

Der Drang des deutschen Volksgeistes nach nationaler Einheit ist durch
die Errichtung des deutschen Reichs nicht völlig befriedigt worden; denn die
„wahre Homogenität" eines Volks besteht nicht in äußern Dingen, sondern in
der Gemeinschaft der geistigen und sittlichen Grundlagen. Stände und Kon¬
sessionen müssen sich wie Glieder eines Organismus aus dem nationalen Kultur¬
leben in naturgemäßer Weise „herausentwickeln" und nicht künstlich gemacht
sein, wenn die „wahre Homogenität" einer Nation, auf welcher ihre Stärke be¬
ruht, erzeugt werden soll. Nur dann können sie sich gegenseitig verstehen und
achten und sich gemeinsam in Liebe und Eintracht an der nationalen Kultur¬
arbeit beteiligen. Die Trennung der Kinder vom ersten Schnltage an nach
Ständen und Konfesstonen ist aber eine künstliche: denn „alle Menschen sind
in ihrem Wesen gleich, und allgemeine Emporbildnng zu reiner Menschenheit (?)
ist Zweck und Aufgabe der Erziehung bei allen Menschen." Durch eine natio¬
nale Schulbildung, die in ihrem Fundamente gleichartig und gemeinsam ist
und durch den gemeinsamen nationalen Bildungsstoff eine im ganzen gleich¬
artige, nur dem Grade nach verschiedne Bildung vermittelt, wird das deutsche
Volk zu einer nationalen Einheit erzogen und jeder befähigt, sich an der
nationalen Kulturarbeit zu beteiligen. Durch sie wird der Mensch zu einem
religiös-sittlichen Charakter, der sein Eigenwohl dem Wohle des Ganzen unter¬
ordnet und sich, wenn auch die Vildungs- und Berufswege auseinandergehen,
doch als Glied des nationalen Ganzen fühlt. Durch sie wird der Klasfenhaß
verbannt und edler Gemeinsinn nnter den Gliedern der Nation erzeugt. So¬
mit wird durch eine allgemeine Volksschule eine Ursache und eine Erscheinung
der sozialen Krankheit beseitigt, zwischen Reichen und Armen ein Band gegen¬
seitiger Liebe und Wertschätzung geknüpft, das Verständnis der Lebensverhält-
nisse der verschiednen Stände unter einander, vor allem aber der vertrauliche
Verkehr von Person zu Person angebahnt. Die Kinder der verschiednen
Stände regen sich gegenseitig an und müssen sich in ein soziales Ganze ein¬
fügen, worin alle gleiche Rechte und Pflichten haben. Die Gliederung der
Nationalschule auf dem Fundament der allgemeinen Volksschule beginnt, wenn
die Grundlagen zur allgemein menschlichen und nationalen Bildung gelegt siud
und sich die individuelle Ausprägung mit ziemlicher Sicherheit erkennen läßt.
Der Staat muß dafür Sorge tragen, daß es auch dem armen Kinde möglich


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[0106] Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage trachten. Leider beseitigte die beginnende Reaktion diesen Entwurf, schied die Nation wieder nach Standen und Konfesstonen und errichtete Standes- und Konfcssionsschnlen. Aber kirchlich-dogmatische Schulbildung giebt keine feste religiös-sittliche Weltanschauung, die des Mensche» Gemüt und Denken befrie¬ digt. Der so erzogne Mensch fällt der Sozialdemokratie und dem Atheismus anheim. - Die Sozialdemokratie will das andre Extrem, die „Zwangsschule," die allen eine völlig gleiche Ausbildung giebt. Diesen Fragen gegenüber muß die Schule Stellung nehmen. Der Drang des deutschen Volksgeistes nach nationaler Einheit ist durch die Errichtung des deutschen Reichs nicht völlig befriedigt worden; denn die „wahre Homogenität" eines Volks besteht nicht in äußern Dingen, sondern in der Gemeinschaft der geistigen und sittlichen Grundlagen. Stände und Kon¬ sessionen müssen sich wie Glieder eines Organismus aus dem nationalen Kultur¬ leben in naturgemäßer Weise „herausentwickeln" und nicht künstlich gemacht sein, wenn die „wahre Homogenität" einer Nation, auf welcher ihre Stärke be¬ ruht, erzeugt werden soll. Nur dann können sie sich gegenseitig verstehen und achten und sich gemeinsam in Liebe und Eintracht an der nationalen Kultur¬ arbeit beteiligen. Die Trennung der Kinder vom ersten Schnltage an nach Ständen und Konfesstonen ist aber eine künstliche: denn „alle Menschen sind in ihrem Wesen gleich, und allgemeine Emporbildnng zu reiner Menschenheit (?) ist Zweck und Aufgabe der Erziehung bei allen Menschen." Durch eine natio¬ nale Schulbildung, die in ihrem Fundamente gleichartig und gemeinsam ist und durch den gemeinsamen nationalen Bildungsstoff eine im ganzen gleich¬ artige, nur dem Grade nach verschiedne Bildung vermittelt, wird das deutsche Volk zu einer nationalen Einheit erzogen und jeder befähigt, sich an der nationalen Kulturarbeit zu beteiligen. Durch sie wird der Mensch zu einem religiös-sittlichen Charakter, der sein Eigenwohl dem Wohle des Ganzen unter¬ ordnet und sich, wenn auch die Vildungs- und Berufswege auseinandergehen, doch als Glied des nationalen Ganzen fühlt. Durch sie wird der Klasfenhaß verbannt und edler Gemeinsinn nnter den Gliedern der Nation erzeugt. So¬ mit wird durch eine allgemeine Volksschule eine Ursache und eine Erscheinung der sozialen Krankheit beseitigt, zwischen Reichen und Armen ein Band gegen¬ seitiger Liebe und Wertschätzung geknüpft, das Verständnis der Lebensverhält- nisse der verschiednen Stände unter einander, vor allem aber der vertrauliche Verkehr von Person zu Person angebahnt. Die Kinder der verschiednen Stände regen sich gegenseitig an und müssen sich in ein soziales Ganze ein¬ fügen, worin alle gleiche Rechte und Pflichten haben. Die Gliederung der Nationalschule auf dem Fundament der allgemeinen Volksschule beginnt, wenn die Grundlagen zur allgemein menschlichen und nationalen Bildung gelegt siud und sich die individuelle Ausprägung mit ziemlicher Sicherheit erkennen läßt. Der Staat muß dafür Sorge tragen, daß es auch dem armen Kinde möglich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/106>, abgerufen am 06.01.2025.