Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.Das Sittlichkeitsgesetz und Kunstsinnigen zum Zwecke des Kunstgenusses aufgesucht zu werden Pflegen, Das Sittlichkeitsgesetz und Kunstsinnigen zum Zwecke des Kunstgenusses aufgesucht zu werden Pflegen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0626" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211794"/> <fw type="header" place="top"> Das Sittlichkeitsgesetz</fw><lb/> <p xml:id="ID_1932" prev="#ID_1931" next="#ID_1933"> und Kunstsinnigen zum Zwecke des Kunstgenusses aufgesucht zu werden Pflegen,<lb/> die Scham nicht verletzte, daß aber die keusche Frau erröthen müßte, wenn sie<lb/> ihr uuverhülltes Ebenbild der gaffenden Menge preisgegeben sähe. Je nach¬<lb/> dem konnte schon nach der jetzigen Rechtsprechung dasselbe Bild als unzüchtig<lb/> oder nicht unzüchtig angesehen werden. Für den Strafrichter hört aber alles<lb/> auf, wenn er künftig diesen einfachen Maßstab verlieren, statt dessen eine ge¬<lb/> wisse Durchschnittsemvsindlichkeit für jene Grenzscheide ermitteln und darnach<lb/> die Strafbarkeit bejahen oder verneinen soll. Noch schlimmer steht es mit<lb/> dem Aussteller von, wohlgemerkt, nicht unzüchtigen Bildern, der dieser Aufgabe<lb/> noch ratloser gegenüberstehen wird. Die Kunstlädeu werden in der That<lb/> besser thun, manche wahrhaft schöne und von keinem unverdorbnen Gemüt<lb/> beanstandete Bilder oder Skulpturen künftig lieber nicht ins Fenster zu<lb/> stelle«. Damit wird wieder einem guten Teile unsers Volkes, der zum<lb/> Besuche der Museen keine Zeit oder Gelegenheit, zum Besuche der Kunst¬<lb/> handlung selbst aber kein Geld hat, mancher dem Reinen reine Genuß ent¬<lb/> zogen werden. In unserm nüchternen Zeitalter scheint uus dieser Schade<lb/> großer als die Gefahr, daß eine bereits befleckte Phantasie noch mehr ver¬<lb/> giftet werde. Und die Kunst selbst, wird sie des Berufes, auch unser All¬<lb/> tags-, unser ödes Straßenleben zu verschönen, noch warten können, wenn<lb/> ihr bei der Darstellung wenigstens des Menschenbildes immer vor dem<lb/> staatsanwaltschaftlichen Visum bangen muß? Zugegeben, daß sie und gerade<lb/> die zweideutige Kunst heute öfters in den Dienst niedriger Reklame gestellt<lb/> wird. Aber der moderne Großstädter pflegt doch, sobald er diese Absicht<lb/> merkt, um so stumpfsinniger an derartigen Marktschreiereien vorüber zu gehen,<lb/> je greller ihre Farben aufgetragen sind. Die Dummen, die hiernach die Güte<lb/> der angepriesenen Ware beurteilen, sind in der That alle geworden. Dies<lb/> weiß niemand besser als der tüchtige Geschäftsmann. Die große Masse der<lb/> Geschäftsaupreisuugeu legt deshalb heute ein höchst erfreuliches Zeugnis von<lb/> der Verbreitung des guten Geschmacks und der Leistungsfähigkeit unsers<lb/> graphischen und plastischen Kunsthandwerks ab. Und ist denn die gute Sitte<lb/> gegen Geschmacklosigkeiten und Unschicklichkeiten so machtlos? Moralpredigten<lb/> thun es freilich nicht, auch nicht Vereinsgründungen, wenn sie nur duzn<lb/> dienen sollen, solchen Predigern den nötigen Resonanzboden zu liefern oder<lb/> dem Gesetzgeber neue Strasparagrapheu vorzuschlagen. Wenn ich aber meinem<lb/> Cigarrenhäudler recht deutlich meine Verwundrung bezeuge, daß er seiue<lb/> Firma auf den Fächer einer im Schaufenster prangenden dekolletirten Grisette<lb/> geschrieben hat (ein Fremdwort muß es sein, das wirkt besser!), wenn sich<lb/> meine Frau im Kolonialwarenladen darüber lustig macht, daß ein uur mit<lb/> dem Bärenfell bekleideter Germane die Apotheose der neuesten Glanzstärke auf<lb/> seinen Schild erhebt, wenn wir beide durchblicken lassen, daß wir wohl am<lb/> längsten Kunden gewesen sein werden, wenn in einer größer» Stadt auch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0626]
Das Sittlichkeitsgesetz
und Kunstsinnigen zum Zwecke des Kunstgenusses aufgesucht zu werden Pflegen,
die Scham nicht verletzte, daß aber die keusche Frau erröthen müßte, wenn sie
ihr uuverhülltes Ebenbild der gaffenden Menge preisgegeben sähe. Je nach¬
dem konnte schon nach der jetzigen Rechtsprechung dasselbe Bild als unzüchtig
oder nicht unzüchtig angesehen werden. Für den Strafrichter hört aber alles
auf, wenn er künftig diesen einfachen Maßstab verlieren, statt dessen eine ge¬
wisse Durchschnittsemvsindlichkeit für jene Grenzscheide ermitteln und darnach
die Strafbarkeit bejahen oder verneinen soll. Noch schlimmer steht es mit
dem Aussteller von, wohlgemerkt, nicht unzüchtigen Bildern, der dieser Aufgabe
noch ratloser gegenüberstehen wird. Die Kunstlädeu werden in der That
besser thun, manche wahrhaft schöne und von keinem unverdorbnen Gemüt
beanstandete Bilder oder Skulpturen künftig lieber nicht ins Fenster zu
stelle«. Damit wird wieder einem guten Teile unsers Volkes, der zum
Besuche der Museen keine Zeit oder Gelegenheit, zum Besuche der Kunst¬
handlung selbst aber kein Geld hat, mancher dem Reinen reine Genuß ent¬
zogen werden. In unserm nüchternen Zeitalter scheint uus dieser Schade
großer als die Gefahr, daß eine bereits befleckte Phantasie noch mehr ver¬
giftet werde. Und die Kunst selbst, wird sie des Berufes, auch unser All¬
tags-, unser ödes Straßenleben zu verschönen, noch warten können, wenn
ihr bei der Darstellung wenigstens des Menschenbildes immer vor dem
staatsanwaltschaftlichen Visum bangen muß? Zugegeben, daß sie und gerade
die zweideutige Kunst heute öfters in den Dienst niedriger Reklame gestellt
wird. Aber der moderne Großstädter pflegt doch, sobald er diese Absicht
merkt, um so stumpfsinniger an derartigen Marktschreiereien vorüber zu gehen,
je greller ihre Farben aufgetragen sind. Die Dummen, die hiernach die Güte
der angepriesenen Ware beurteilen, sind in der That alle geworden. Dies
weiß niemand besser als der tüchtige Geschäftsmann. Die große Masse der
Geschäftsaupreisuugeu legt deshalb heute ein höchst erfreuliches Zeugnis von
der Verbreitung des guten Geschmacks und der Leistungsfähigkeit unsers
graphischen und plastischen Kunsthandwerks ab. Und ist denn die gute Sitte
gegen Geschmacklosigkeiten und Unschicklichkeiten so machtlos? Moralpredigten
thun es freilich nicht, auch nicht Vereinsgründungen, wenn sie nur duzn
dienen sollen, solchen Predigern den nötigen Resonanzboden zu liefern oder
dem Gesetzgeber neue Strasparagrapheu vorzuschlagen. Wenn ich aber meinem
Cigarrenhäudler recht deutlich meine Verwundrung bezeuge, daß er seiue
Firma auf den Fächer einer im Schaufenster prangenden dekolletirten Grisette
geschrieben hat (ein Fremdwort muß es sein, das wirkt besser!), wenn sich
meine Frau im Kolonialwarenladen darüber lustig macht, daß ein uur mit
dem Bärenfell bekleideter Germane die Apotheose der neuesten Glanzstärke auf
seinen Schild erhebt, wenn wir beide durchblicken lassen, daß wir wohl am
längsten Kunden gewesen sein werden, wenn in einer größer» Stadt auch
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