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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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gericht^) entlehnt zu sein. Es ist trotzdem sprachlich falsch gebildet, deshalb
auch logisch nicht zu fassen und fiir ein Strafgesetz von vornherein unbrauchbar.
Wie hier mit den zusammengesetzten Hauptwörtern Schamgefühl und Sittlich¬
keitsgefühl geschieht, so müßte man auch die einfachen Hauptwörter Scham und
Sittlichkeit zu einander in Parallele stellen können. Nun ist zwar Scham eine
innerliche Empfindung und deshalb auch Scham immer gleichbedeutend mit
Schamgefühl, nicht aber Sittlichkeit. Sittlichkeit ist entweder ein abstrakter
Begriff, der Gesamtinhalt der Forderungen, die das Sittengesetz, die Moral
an uns stellt, oder konkret angewendet das thatsächliche Verhältnis, in dein
nur uns zu eben diesen Anforderungen befinde", eine Eigenschaft. In diesem
Sinne sprechen wir von der Sittlichkeit oder llnsittlichkeit eines Menschen,
eines Volkes, und allenfalls ließe sich das Bewußtsein, diese Sittlichkeit zu
besitzen als Gefühl der Sittlichkeit bezeichnen. Daß aber unter Sittlichkeits¬
gefühl in unserm Falle nicht dieses Bewußtsein verstanden werden soll, ist klar.
Es könnte durch noch so unsittliche Bilder oder Skulpturen überhaupt nicht
verletzt, höchstens gesteigert werden. Dann bleibt nur übrig, Sittlichkeitsgefühl
mit Gefühl für Sittlichkeit, für die Anforderungen der abstrakten Moral zu
übersetzen. Diese Anforderungen selbst -- nicht das Gefühl dafür -- sind
für den Zivilrichter in der That vielfach bindend. Verträge ,,gegen die guten
Sitten" siud nichtig, die Erfüllung von Verträgen ist häusig nur ,,uach Treu
und Glauben" zu beurteilen. Bisher ist es aber noch niemand eingefallen,
schlechthin den Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben
als das Merkmal eines Strafgesetzes zu erkläre", und schließlich ist es doch ein
Unterschied, ob jemand wegen eines solchen Verstoßes seinen Prozeß verliert,
oder dafür an Freiheit, Gut und Ehre gestraft werden soll. Der Gesetzent¬
entwurf geht aber noch einen bedeutenden Schritt weiter, wenn er von der
Verletzung nicht der Sitte selbst, sondern (anders kann man ihn nicht ver¬
stehen) des Gefühls für Sitte und Sittlichkeit redet und damit das unendlich
verschiedne subjektive Empfinden auf einem das ganze Geistes- und Gemüts¬
leben der Nation umfassenden Gebiete zum Kriterium der Strafbarkeit erhebt.
Mag sei", daß der Entwurf dies selbst uicht beabsichtigt. Seine Fassung öffnet,
zumal da das ,,und" in den Worten: Scham- u"d Sittlichkeitsgefühl offenbar
alternativ ---- "oder" gemeint ist, auch der weitestgehenden Auslegung Thür und
Thor. Aber auch auf dem engern hier in Betracht kommenden Gebiete, der Grenze
zwischen Moral und Ästhetik, besteht ein niemals zu versöhnender Widerstreit
der Meinungen. Bisher hatte man für die diesem Grenzgebiete angehörigen
Kunstwerke einen ziemlich sichern Maßstab an ihren Wirkungen uns das Scham¬
gefühl. Man konnte z. R. zugestehen, daß die Venus von Tizian im Innern
der Kuusthandlungeu, der Museen, überhaupt an Stätten, die von Kennern



Entscheidungen in Strafsachen Bd. 8, S. 130 und anderwärts.
Grenzboten I 18S2 ?8

gericht^) entlehnt zu sein. Es ist trotzdem sprachlich falsch gebildet, deshalb
auch logisch nicht zu fassen und fiir ein Strafgesetz von vornherein unbrauchbar.
Wie hier mit den zusammengesetzten Hauptwörtern Schamgefühl und Sittlich¬
keitsgefühl geschieht, so müßte man auch die einfachen Hauptwörter Scham und
Sittlichkeit zu einander in Parallele stellen können. Nun ist zwar Scham eine
innerliche Empfindung und deshalb auch Scham immer gleichbedeutend mit
Schamgefühl, nicht aber Sittlichkeit. Sittlichkeit ist entweder ein abstrakter
Begriff, der Gesamtinhalt der Forderungen, die das Sittengesetz, die Moral
an uns stellt, oder konkret angewendet das thatsächliche Verhältnis, in dein
nur uns zu eben diesen Anforderungen befinde», eine Eigenschaft. In diesem
Sinne sprechen wir von der Sittlichkeit oder llnsittlichkeit eines Menschen,
eines Volkes, und allenfalls ließe sich das Bewußtsein, diese Sittlichkeit zu
besitzen als Gefühl der Sittlichkeit bezeichnen. Daß aber unter Sittlichkeits¬
gefühl in unserm Falle nicht dieses Bewußtsein verstanden werden soll, ist klar.
Es könnte durch noch so unsittliche Bilder oder Skulpturen überhaupt nicht
verletzt, höchstens gesteigert werden. Dann bleibt nur übrig, Sittlichkeitsgefühl
mit Gefühl für Sittlichkeit, für die Anforderungen der abstrakten Moral zu
übersetzen. Diese Anforderungen selbst — nicht das Gefühl dafür — sind
für den Zivilrichter in der That vielfach bindend. Verträge ,,gegen die guten
Sitten" siud nichtig, die Erfüllung von Verträgen ist häusig nur ,,uach Treu
und Glauben" zu beurteilen. Bisher ist es aber noch niemand eingefallen,
schlechthin den Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben
als das Merkmal eines Strafgesetzes zu erkläre», und schließlich ist es doch ein
Unterschied, ob jemand wegen eines solchen Verstoßes seinen Prozeß verliert,
oder dafür an Freiheit, Gut und Ehre gestraft werden soll. Der Gesetzent¬
entwurf geht aber noch einen bedeutenden Schritt weiter, wenn er von der
Verletzung nicht der Sitte selbst, sondern (anders kann man ihn nicht ver¬
stehen) des Gefühls für Sitte und Sittlichkeit redet und damit das unendlich
verschiedne subjektive Empfinden auf einem das ganze Geistes- und Gemüts¬
leben der Nation umfassenden Gebiete zum Kriterium der Strafbarkeit erhebt.
Mag sei», daß der Entwurf dies selbst uicht beabsichtigt. Seine Fassung öffnet,
zumal da das ,,und" in den Worten: Scham- u»d Sittlichkeitsgefühl offenbar
alternativ ---- „oder" gemeint ist, auch der weitestgehenden Auslegung Thür und
Thor. Aber auch auf dem engern hier in Betracht kommenden Gebiete, der Grenze
zwischen Moral und Ästhetik, besteht ein niemals zu versöhnender Widerstreit
der Meinungen. Bisher hatte man für die diesem Grenzgebiete angehörigen
Kunstwerke einen ziemlich sichern Maßstab an ihren Wirkungen uns das Scham¬
gefühl. Man konnte z. R. zugestehen, daß die Venus von Tizian im Innern
der Kuusthandlungeu, der Museen, überhaupt an Stätten, die von Kennern



Entscheidungen in Strafsachen Bd. 8, S. 130 und anderwärts.
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[0625] gericht^) entlehnt zu sein. Es ist trotzdem sprachlich falsch gebildet, deshalb auch logisch nicht zu fassen und fiir ein Strafgesetz von vornherein unbrauchbar. Wie hier mit den zusammengesetzten Hauptwörtern Schamgefühl und Sittlich¬ keitsgefühl geschieht, so müßte man auch die einfachen Hauptwörter Scham und Sittlichkeit zu einander in Parallele stellen können. Nun ist zwar Scham eine innerliche Empfindung und deshalb auch Scham immer gleichbedeutend mit Schamgefühl, nicht aber Sittlichkeit. Sittlichkeit ist entweder ein abstrakter Begriff, der Gesamtinhalt der Forderungen, die das Sittengesetz, die Moral an uns stellt, oder konkret angewendet das thatsächliche Verhältnis, in dein nur uns zu eben diesen Anforderungen befinde», eine Eigenschaft. In diesem Sinne sprechen wir von der Sittlichkeit oder llnsittlichkeit eines Menschen, eines Volkes, und allenfalls ließe sich das Bewußtsein, diese Sittlichkeit zu besitzen als Gefühl der Sittlichkeit bezeichnen. Daß aber unter Sittlichkeits¬ gefühl in unserm Falle nicht dieses Bewußtsein verstanden werden soll, ist klar. Es könnte durch noch so unsittliche Bilder oder Skulpturen überhaupt nicht verletzt, höchstens gesteigert werden. Dann bleibt nur übrig, Sittlichkeitsgefühl mit Gefühl für Sittlichkeit, für die Anforderungen der abstrakten Moral zu übersetzen. Diese Anforderungen selbst — nicht das Gefühl dafür — sind für den Zivilrichter in der That vielfach bindend. Verträge ,,gegen die guten Sitten" siud nichtig, die Erfüllung von Verträgen ist häusig nur ,,uach Treu und Glauben" zu beurteilen. Bisher ist es aber noch niemand eingefallen, schlechthin den Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben als das Merkmal eines Strafgesetzes zu erkläre», und schließlich ist es doch ein Unterschied, ob jemand wegen eines solchen Verstoßes seinen Prozeß verliert, oder dafür an Freiheit, Gut und Ehre gestraft werden soll. Der Gesetzent¬ entwurf geht aber noch einen bedeutenden Schritt weiter, wenn er von der Verletzung nicht der Sitte selbst, sondern (anders kann man ihn nicht ver¬ stehen) des Gefühls für Sitte und Sittlichkeit redet und damit das unendlich verschiedne subjektive Empfinden auf einem das ganze Geistes- und Gemüts¬ leben der Nation umfassenden Gebiete zum Kriterium der Strafbarkeit erhebt. Mag sei», daß der Entwurf dies selbst uicht beabsichtigt. Seine Fassung öffnet, zumal da das ,,und" in den Worten: Scham- u»d Sittlichkeitsgefühl offenbar alternativ ---- „oder" gemeint ist, auch der weitestgehenden Auslegung Thür und Thor. Aber auch auf dem engern hier in Betracht kommenden Gebiete, der Grenze zwischen Moral und Ästhetik, besteht ein niemals zu versöhnender Widerstreit der Meinungen. Bisher hatte man für die diesem Grenzgebiete angehörigen Kunstwerke einen ziemlich sichern Maßstab an ihren Wirkungen uns das Scham¬ gefühl. Man konnte z. R. zugestehen, daß die Venus von Tizian im Innern der Kuusthandlungeu, der Museen, überhaupt an Stätten, die von Kennern Entscheidungen in Strafsachen Bd. 8, S. 130 und anderwärts. Grenzboten I 18S2 ?8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/625>, abgerufen am 23.07.2024.