Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

zwitscherte es von allen Bäumen des liberalen Preßwaldes. Das ganze Rüst¬
zeug abgedroschner Phrasen, das uns schließlich nur noch in den Blättern
eines unbelehrbarer, dem Volke entfremdeten liberalen Radikalismus, über den
die Sozialdemokratie längst siegreich hinweggeschritten war, mehr ergötzt als
geärgert hatte, wurde von den Männern des gemäßigten Liberalismus aus
der Rumpelkammer wieder hervorgeholt, die abgegriffensten Schlagwörter
wurden wieder als gangbare Münze in Kurs gesetzt; der alte Kampf für
,,Volksfreiheit, Bildung, Aufklärung, Gewissensfreiheit," sür unsre,,ganze Kultur"
gegen Despotismus und Reaktion, Pfaffen und Mucker begann aufs neue;
ja Blätter von dem Ansehen der Kölnischen Zeitung sanden Anlaß, ihre
Gedanken über die Notwendigkeit der Monarchie einer Nachprüfung zu unter¬
ziehen und sich die Frage vorzulegen, ob die Republik nicht doch den Vorzug
verdiene. Und warum das alles?

War die Freiheit des Bürgers bei uns weniger gesichert, als in den
,,andern Kulturstaaten Westeuropas," war irgend eine der Einrichtungen in
Gesahr, auf denen unser moderner verfassungsmäßiger Staat beruht? Oder
war endlich etwa die soziale Gefahr, die eben noch so dringend war, daß der
Nationallibernlismns ohne Svzialistengesetz kaum auskommen zu können meinte,
plötzlich beseitigt, sodaß man ohne Schaden für das Volkswohl wieder zu dem
alten Sport der Verfassungskämpfe, zu dem aufregenden Spiele parlamenta¬
rischer Ränke und Schikanen zurückkehren konnte?

O nein! von alledem war nichts der Fall. Wer allein ein wenig an
der Verfassung hin- und herzuzcrren unternahm, das war der gemäßigte,
von der Großindustrie erheblich beeinflußte Liberalismus, der nicht müde
wurde, auf die Gefahren des allgemeinen Wahlrechts als auf die vermeintliche
Wurzel alles Übels hinzuweisen, und der es sich so schön dachte, wenn man
den bösen Störenfried, die Sozialdemokratie, ans dem Reichstage loswerden
könnte, die immer wieder die Blicke abzog von den doktrinären Lieblings¬
beschäftigungen des Liberalisinus, und die uns zeigte, daß wir andres und
wichtigeres zu thun haben, als ,,Kulturkämpfe" auszufechten. Aber sonst hatte
in Wahrheit niemand Neigung, Verfassungsfragen aufzuwerfen. Und doch war
das Vaterland in Gefahr, doch waren die heiligsten Rechte des Volks im
Begriffe, von frevelnder Hand verletzt zu werden!

Die Regierung hatte sich crktthut -- wahrhaftig! es war an sich fast
schou ein Staatsstreich --, dem preußischen Abgeordnetenhause den Entwurf
eines Vvlksschulgesetzes vorzulegen, der noch ein wenig weiter als der frühere,
mit großer Ruhe vom gemäßigten Liberalismus entgegengenommene Goß-
lersche den Wünschen des Zentrums entgegenkam, einem ausgesprochen
KvnfessionaliSmus huldigte, die Kinder der Dissidenten zur Teilnahme am
konfessionellen Religionsunterrichte zwang und in folgerichtiger Anwendung
seiner Grundanschauung den Organen der Kirchen einen gewissen Einfluß


zwitscherte es von allen Bäumen des liberalen Preßwaldes. Das ganze Rüst¬
zeug abgedroschner Phrasen, das uns schließlich nur noch in den Blättern
eines unbelehrbarer, dem Volke entfremdeten liberalen Radikalismus, über den
die Sozialdemokratie längst siegreich hinweggeschritten war, mehr ergötzt als
geärgert hatte, wurde von den Männern des gemäßigten Liberalismus aus
der Rumpelkammer wieder hervorgeholt, die abgegriffensten Schlagwörter
wurden wieder als gangbare Münze in Kurs gesetzt; der alte Kampf für
,,Volksfreiheit, Bildung, Aufklärung, Gewissensfreiheit," sür unsre,,ganze Kultur"
gegen Despotismus und Reaktion, Pfaffen und Mucker begann aufs neue;
ja Blätter von dem Ansehen der Kölnischen Zeitung sanden Anlaß, ihre
Gedanken über die Notwendigkeit der Monarchie einer Nachprüfung zu unter¬
ziehen und sich die Frage vorzulegen, ob die Republik nicht doch den Vorzug
verdiene. Und warum das alles?

War die Freiheit des Bürgers bei uns weniger gesichert, als in den
,,andern Kulturstaaten Westeuropas," war irgend eine der Einrichtungen in
Gesahr, auf denen unser moderner verfassungsmäßiger Staat beruht? Oder
war endlich etwa die soziale Gefahr, die eben noch so dringend war, daß der
Nationallibernlismns ohne Svzialistengesetz kaum auskommen zu können meinte,
plötzlich beseitigt, sodaß man ohne Schaden für das Volkswohl wieder zu dem
alten Sport der Verfassungskämpfe, zu dem aufregenden Spiele parlamenta¬
rischer Ränke und Schikanen zurückkehren konnte?

O nein! von alledem war nichts der Fall. Wer allein ein wenig an
der Verfassung hin- und herzuzcrren unternahm, das war der gemäßigte,
von der Großindustrie erheblich beeinflußte Liberalismus, der nicht müde
wurde, auf die Gefahren des allgemeinen Wahlrechts als auf die vermeintliche
Wurzel alles Übels hinzuweisen, und der es sich so schön dachte, wenn man
den bösen Störenfried, die Sozialdemokratie, ans dem Reichstage loswerden
könnte, die immer wieder die Blicke abzog von den doktrinären Lieblings¬
beschäftigungen des Liberalisinus, und die uns zeigte, daß wir andres und
wichtigeres zu thun haben, als ,,Kulturkämpfe" auszufechten. Aber sonst hatte
in Wahrheit niemand Neigung, Verfassungsfragen aufzuwerfen. Und doch war
das Vaterland in Gefahr, doch waren die heiligsten Rechte des Volks im
Begriffe, von frevelnder Hand verletzt zu werden!

Die Regierung hatte sich crktthut — wahrhaftig! es war an sich fast
schou ein Staatsstreich —, dem preußischen Abgeordnetenhause den Entwurf
eines Vvlksschulgesetzes vorzulegen, der noch ein wenig weiter als der frühere,
mit großer Ruhe vom gemäßigten Liberalismus entgegengenommene Goß-
lersche den Wünschen des Zentrums entgegenkam, einem ausgesprochen
KvnfessionaliSmus huldigte, die Kinder der Dissidenten zur Teilnahme am
konfessionellen Religionsunterrichte zwang und in folgerichtiger Anwendung
seiner Grundanschauung den Organen der Kirchen einen gewissen Einfluß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0621" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211789"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1918" prev="#ID_1917"> zwitscherte es von allen Bäumen des liberalen Preßwaldes. Das ganze Rüst¬<lb/>
zeug abgedroschner Phrasen, das uns schließlich nur noch in den Blättern<lb/>
eines unbelehrbarer, dem Volke entfremdeten liberalen Radikalismus, über den<lb/>
die Sozialdemokratie längst siegreich hinweggeschritten war, mehr ergötzt als<lb/>
geärgert hatte, wurde von den Männern des gemäßigten Liberalismus aus<lb/>
der Rumpelkammer wieder hervorgeholt, die abgegriffensten Schlagwörter<lb/>
wurden wieder als gangbare Münze in Kurs gesetzt; der alte Kampf für<lb/>
,,Volksfreiheit, Bildung, Aufklärung, Gewissensfreiheit," sür unsre,,ganze Kultur"<lb/>
gegen Despotismus und Reaktion, Pfaffen und Mucker begann aufs neue;<lb/>
ja Blätter von dem Ansehen der Kölnischen Zeitung sanden Anlaß, ihre<lb/>
Gedanken über die Notwendigkeit der Monarchie einer Nachprüfung zu unter¬<lb/>
ziehen und sich die Frage vorzulegen, ob die Republik nicht doch den Vorzug<lb/>
verdiene.  Und warum das alles?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1919"> War die Freiheit des Bürgers bei uns weniger gesichert, als in den<lb/>
,,andern Kulturstaaten Westeuropas," war irgend eine der Einrichtungen in<lb/>
Gesahr, auf denen unser moderner verfassungsmäßiger Staat beruht? Oder<lb/>
war endlich etwa die soziale Gefahr, die eben noch so dringend war, daß der<lb/>
Nationallibernlismns ohne Svzialistengesetz kaum auskommen zu können meinte,<lb/>
plötzlich beseitigt, sodaß man ohne Schaden für das Volkswohl wieder zu dem<lb/>
alten Sport der Verfassungskämpfe, zu dem aufregenden Spiele parlamenta¬<lb/>
rischer Ränke und Schikanen zurückkehren konnte?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1920"> O nein! von alledem war nichts der Fall. Wer allein ein wenig an<lb/>
der Verfassung hin- und herzuzcrren unternahm, das war der gemäßigte,<lb/>
von der Großindustrie erheblich beeinflußte Liberalismus, der nicht müde<lb/>
wurde, auf die Gefahren des allgemeinen Wahlrechts als auf die vermeintliche<lb/>
Wurzel alles Übels hinzuweisen, und der es sich so schön dachte, wenn man<lb/>
den bösen Störenfried, die Sozialdemokratie, ans dem Reichstage loswerden<lb/>
könnte, die immer wieder die Blicke abzog von den doktrinären Lieblings¬<lb/>
beschäftigungen des Liberalisinus, und die uns zeigte, daß wir andres und<lb/>
wichtigeres zu thun haben, als ,,Kulturkämpfe" auszufechten. Aber sonst hatte<lb/>
in Wahrheit niemand Neigung, Verfassungsfragen aufzuwerfen. Und doch war<lb/>
das Vaterland in Gefahr, doch waren die heiligsten Rechte des Volks im<lb/>
Begriffe, von frevelnder Hand verletzt zu werden!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1921" next="#ID_1922"> Die Regierung hatte sich crktthut &#x2014; wahrhaftig! es war an sich fast<lb/>
schou ein Staatsstreich &#x2014;, dem preußischen Abgeordnetenhause den Entwurf<lb/>
eines Vvlksschulgesetzes vorzulegen, der noch ein wenig weiter als der frühere,<lb/>
mit großer Ruhe vom gemäßigten Liberalismus entgegengenommene Goß-<lb/>
lersche den Wünschen des Zentrums entgegenkam, einem ausgesprochen<lb/>
KvnfessionaliSmus huldigte, die Kinder der Dissidenten zur Teilnahme am<lb/>
konfessionellen Religionsunterrichte zwang und in folgerichtiger Anwendung<lb/>
seiner Grundanschauung den Organen der Kirchen einen gewissen Einfluß</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0621] zwitscherte es von allen Bäumen des liberalen Preßwaldes. Das ganze Rüst¬ zeug abgedroschner Phrasen, das uns schließlich nur noch in den Blättern eines unbelehrbarer, dem Volke entfremdeten liberalen Radikalismus, über den die Sozialdemokratie längst siegreich hinweggeschritten war, mehr ergötzt als geärgert hatte, wurde von den Männern des gemäßigten Liberalismus aus der Rumpelkammer wieder hervorgeholt, die abgegriffensten Schlagwörter wurden wieder als gangbare Münze in Kurs gesetzt; der alte Kampf für ,,Volksfreiheit, Bildung, Aufklärung, Gewissensfreiheit," sür unsre,,ganze Kultur" gegen Despotismus und Reaktion, Pfaffen und Mucker begann aufs neue; ja Blätter von dem Ansehen der Kölnischen Zeitung sanden Anlaß, ihre Gedanken über die Notwendigkeit der Monarchie einer Nachprüfung zu unter¬ ziehen und sich die Frage vorzulegen, ob die Republik nicht doch den Vorzug verdiene. Und warum das alles? War die Freiheit des Bürgers bei uns weniger gesichert, als in den ,,andern Kulturstaaten Westeuropas," war irgend eine der Einrichtungen in Gesahr, auf denen unser moderner verfassungsmäßiger Staat beruht? Oder war endlich etwa die soziale Gefahr, die eben noch so dringend war, daß der Nationallibernlismns ohne Svzialistengesetz kaum auskommen zu können meinte, plötzlich beseitigt, sodaß man ohne Schaden für das Volkswohl wieder zu dem alten Sport der Verfassungskämpfe, zu dem aufregenden Spiele parlamenta¬ rischer Ränke und Schikanen zurückkehren konnte? O nein! von alledem war nichts der Fall. Wer allein ein wenig an der Verfassung hin- und herzuzcrren unternahm, das war der gemäßigte, von der Großindustrie erheblich beeinflußte Liberalismus, der nicht müde wurde, auf die Gefahren des allgemeinen Wahlrechts als auf die vermeintliche Wurzel alles Übels hinzuweisen, und der es sich so schön dachte, wenn man den bösen Störenfried, die Sozialdemokratie, ans dem Reichstage loswerden könnte, die immer wieder die Blicke abzog von den doktrinären Lieblings¬ beschäftigungen des Liberalisinus, und die uns zeigte, daß wir andres und wichtigeres zu thun haben, als ,,Kulturkämpfe" auszufechten. Aber sonst hatte in Wahrheit niemand Neigung, Verfassungsfragen aufzuwerfen. Und doch war das Vaterland in Gefahr, doch waren die heiligsten Rechte des Volks im Begriffe, von frevelnder Hand verletzt zu werden! Die Regierung hatte sich crktthut — wahrhaftig! es war an sich fast schou ein Staatsstreich —, dem preußischen Abgeordnetenhause den Entwurf eines Vvlksschulgesetzes vorzulegen, der noch ein wenig weiter als der frühere, mit großer Ruhe vom gemäßigten Liberalismus entgegengenommene Goß- lersche den Wünschen des Zentrums entgegenkam, einem ausgesprochen KvnfessionaliSmus huldigte, die Kinder der Dissidenten zur Teilnahme am konfessionellen Religionsunterrichte zwang und in folgerichtiger Anwendung seiner Grundanschauung den Organen der Kirchen einen gewissen Einfluß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/621
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/621>, abgerufen am 23.07.2024.