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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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haarige Herr Weihkvvf hatte uns mit wahrhaft väterlicher Freundlichkeit em¬
pfangen, hatte jedem einzelnen Kinde auf den Kopf geklopft und gesagt, er
freue sich unsre Bekanntschaft zu machen, wir sähen alle so wohlerzogen aus.
Auf manche Kinder unsrer, für großstädtische Begriffe sehr gemischten Gesell¬
schaft paßte zwar diese Bezeichnung durchaus nicht; sie verfehlte aber doch
nicht ihren Eindruck, und selbst die unartigste,: Jungen wollten nicht für schlecht
erzogen gelten. Madame Weihkopf verfolgte dieselbe pädagogische Taktik. Sie
war sehr dick, so dick, daß wir ihre unendliche Beweglichkeit kaum begreifen
konnten, wenn sie uns mit hochgeschürzten Röcken ihre Entrechats vortanzte,
aber sie war stets freundlich und hilfreich. Sie lachte selbst über die unge¬
schicktesten Kinderfüße nicht und schalt auch nicht, wenn alle ihre Mühe um¬
sonst schien. Gutmütig sprang sie immer wieder im Saale herum, um jede
Bewegung zu zeigen: hier band sie einem Mädchen die Haare fest, die bei der
Bewegung losgegangen waren; dort knüpfte sie einen: Jungen das Halstuch
^ kurz, sie hielt auf Ordnung nicht allein an den Füßen, sondern an der
ganzen Erscheinung. Und ihre Art und Weise machte selbst die schweren fünf
Positionen leichter und erhöhte den Mut, sich langsam und schwerfällig im
Kreise zu drehen. Nein, so schlimm, wie ich gedacht hatte, war es doch nicht;
sah ich auch mit einer gewissen Hoffnungslosigkeit auf Madames dicke und so
überaus gelenkige Beine, so mühte ich mich doch im Schweiße meines Ange¬
sichts, eine halbwegs anständige Polka zu stände zu bringe".

Füßchen auswärts, tralala! sang Herr Weihkopf, während er sich mit
seiner Violine im Kreise drehte und überallhin seine Blicke streifen ließ.

Paris ist nicht an einem Tage erbaut worden! tröstete Madame unter¬
dessen Jürgen, der widerspenstig mit einem Mädchen tanzte, das er nicht leiden
konnte.

Sie meinen wohl Rom? fragte mein Bruder, dessen trübseliges Gesicht
sich ein wenig bei dem Gedanken ausheiterte, doch etwas besser zu wissen, als
die Tcmzmeisterin.

Sie lachte gutmütig. Rom oder Paris, sagte sie, das sei einerlei; es
hätte gewiß mit beiden Städten gleich lange gedauert, bis sie groß und be¬
rühmt geworden wären. In Paris hätte sie tanzen gelernt, aber in Rom solle
gar kein ordentliches Ballet sein. Dann sprang sie unermüdet weiter.

Wir mußten viel, erschrecklich viel lernen. Nicht allein uns langsam und
schneller im Kreise zu drehen, sondern auch das Hereinkommen, das Fortgehen,
ja selbst das Sitzen mußte gelernt werden. Wer nicht vorzog, mit eingedrückten
Knieen, den rechten Fuß in der ersten Position, die Arme anmutig zusammen¬
gelegt, an der Wand zu stehen, der mußte kerzengerade ans einem Stuhle sitzen,
die linke Hand aufs linke Knie und die rechte aufs Herz legen. Dazu sollten
wir ungezwungen freundlich aussehen und uns mit einander unterhalten. Die
Unterhaltung litt allerdings häufig an grabesstillen Pausen, und nur die


haarige Herr Weihkvvf hatte uns mit wahrhaft väterlicher Freundlichkeit em¬
pfangen, hatte jedem einzelnen Kinde auf den Kopf geklopft und gesagt, er
freue sich unsre Bekanntschaft zu machen, wir sähen alle so wohlerzogen aus.
Auf manche Kinder unsrer, für großstädtische Begriffe sehr gemischten Gesell¬
schaft paßte zwar diese Bezeichnung durchaus nicht; sie verfehlte aber doch
nicht ihren Eindruck, und selbst die unartigste,: Jungen wollten nicht für schlecht
erzogen gelten. Madame Weihkopf verfolgte dieselbe pädagogische Taktik. Sie
war sehr dick, so dick, daß wir ihre unendliche Beweglichkeit kaum begreifen
konnten, wenn sie uns mit hochgeschürzten Röcken ihre Entrechats vortanzte,
aber sie war stets freundlich und hilfreich. Sie lachte selbst über die unge¬
schicktesten Kinderfüße nicht und schalt auch nicht, wenn alle ihre Mühe um¬
sonst schien. Gutmütig sprang sie immer wieder im Saale herum, um jede
Bewegung zu zeigen: hier band sie einem Mädchen die Haare fest, die bei der
Bewegung losgegangen waren; dort knüpfte sie einen: Jungen das Halstuch
^ kurz, sie hielt auf Ordnung nicht allein an den Füßen, sondern an der
ganzen Erscheinung. Und ihre Art und Weise machte selbst die schweren fünf
Positionen leichter und erhöhte den Mut, sich langsam und schwerfällig im
Kreise zu drehen. Nein, so schlimm, wie ich gedacht hatte, war es doch nicht;
sah ich auch mit einer gewissen Hoffnungslosigkeit auf Madames dicke und so
überaus gelenkige Beine, so mühte ich mich doch im Schweiße meines Ange¬
sichts, eine halbwegs anständige Polka zu stände zu bringe».

Füßchen auswärts, tralala! sang Herr Weihkopf, während er sich mit
seiner Violine im Kreise drehte und überallhin seine Blicke streifen ließ.

Paris ist nicht an einem Tage erbaut worden! tröstete Madame unter¬
dessen Jürgen, der widerspenstig mit einem Mädchen tanzte, das er nicht leiden
konnte.

Sie meinen wohl Rom? fragte mein Bruder, dessen trübseliges Gesicht
sich ein wenig bei dem Gedanken ausheiterte, doch etwas besser zu wissen, als
die Tcmzmeisterin.

Sie lachte gutmütig. Rom oder Paris, sagte sie, das sei einerlei; es
hätte gewiß mit beiden Städten gleich lange gedauert, bis sie groß und be¬
rühmt geworden wären. In Paris hätte sie tanzen gelernt, aber in Rom solle
gar kein ordentliches Ballet sein. Dann sprang sie unermüdet weiter.

Wir mußten viel, erschrecklich viel lernen. Nicht allein uns langsam und
schneller im Kreise zu drehen, sondern auch das Hereinkommen, das Fortgehen,
ja selbst das Sitzen mußte gelernt werden. Wer nicht vorzog, mit eingedrückten
Knieen, den rechten Fuß in der ersten Position, die Arme anmutig zusammen¬
gelegt, an der Wand zu stehen, der mußte kerzengerade ans einem Stuhle sitzen,
die linke Hand aufs linke Knie und die rechte aufs Herz legen. Dazu sollten
wir ungezwungen freundlich aussehen und uns mit einander unterhalten. Die
Unterhaltung litt allerdings häufig an grabesstillen Pausen, und nur die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/509>, abgerufen am 23.07.2024.