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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

Menschen Begierden zügeln, und nur noch äußere stehen lassen, die zwar den Schein
der Sittlichkeit, nicht aber ihr Wesen erzwingen können; er hat die Menschen
nicht reiner, sondern nur heuchlerischer und brutaler gemacht; er hat die Poesie
vom Verkehr der Geschlechter abgestreift und nur das Viehische übrig gelassen.
Dazu kommt, daß sich dieses Kirchenwesen, Hochkirche wie Puritanertum, in den
Dienst der Reichen und Mächtigen gestellt hat. Die Ausdrücke los ?vor und tue
Erstell wurden von den Zeiten der Elisabeth an die stehende Vezeichnung für die
Gesamtheit der arbeitenden Klassen, und das Volk wurde in jene zwei Welten
zerrissen, die, wie Disraeli sagt, einander nicht mehr verstehn. Der Arme,
mochte er zur Klasse der lalzcmrin^ poor oder der lato poor gehören, ward
nicht mehr als menschliches Wesen angesehn und behandelt. Jene äußern
Schranken gelten dem Manne der Gesellschaft nnr Personen seines Standes
gegenüber: derselbe Mann, der im Salon den zartfühlenden Ritter spielt,
fordert draußen die Opfer des Minotaurus ein. Der edle Puritanercharakter
ist auf wenige ausgezeichnete Männer beschränkt geblieben. Das Massen-
puritanertum ist die Religion beschränkter Köpfe, deren Gemütsleben durch
eine unfreundliche Außenwelt und fanatische Predigten verwüstet worden ist,
sodaß sie, da sie selbst kein Glück mehr kennen, es auch andern nicht gönnen
und nur noch in der Zerstörung von Glück und im Gelderwerb eine gewisse
Befriedigung finden; es ist eine menschenfeindliche Religion. Nicht ganz ist
es den Puritanern gelungen, die Lebenslust Altenglands zu ersticken. Es war
ein Glück für Cromwell, schrieb die Llckurä^ Rsvisv zu Weihnachten 1891,
daß das Weihnachtsfest im Jahre 1653 auf einen Sonntag oder in der Nonkon-
formistensprache auf den Sabbath fiel. Denn die "Heiligen" wollten auch das
Weihnachtsfest als einen Heidengreuel abschaffen, nicht bloß die alten lieben
Volksbräuche, sondern auch deu Gottesdienst. So aber mußten zum Troste
der noch zahlreich vorhandnen wirklichen Christen die Kirchen an diesem Tage
geöffnet bleiben. Sonst würde es in London, wo Cromwell mit eisiger Kälte
und teilweise mit Spott und Zeichen der Verachtung empfangen wurde, zum
offnen Aufruhr gekommen sein, was um so schlimmer gewesen wäre, als seine
"Heiligen," die überhaupt keine vernünftige Staatsordnung vertrugen, wegen
seiner zu großen Toleranz gegen ihn zu zetern anfingen. Sieben Jahre später
begrüßte das Volk den zurückkehrenden Stuart und die Wiederherstellung eines
bescheidnen Maßes von bürgerlicher und Religionsfreiheit mit Jubel. Neben¬
bei bemerkt: die Bureaukratie mancher Festlandsstaaten zeigt gegenwärtig einen
stark puritanischen Zug. Die Herren haben aus der Geschichte nichts gelernt,
kennen sie vielleicht auch nur mangelhaft. Sie übersehn außerdem die psycho¬
logische Thatsache, daß ein rauhes Klima und drückende Armut, jedes ster sich
schon, um wie viel mehr also beide vereinigt, traurig stimmen, und daß be¬
ständige Traurigkeit die weniger edeln Seelen, die ja stets die Mehrzahl bilden,
bösartig macht. Ein armes Volk im Norden braucht geräuschvolle Volksfeste,


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

Menschen Begierden zügeln, und nur noch äußere stehen lassen, die zwar den Schein
der Sittlichkeit, nicht aber ihr Wesen erzwingen können; er hat die Menschen
nicht reiner, sondern nur heuchlerischer und brutaler gemacht; er hat die Poesie
vom Verkehr der Geschlechter abgestreift und nur das Viehische übrig gelassen.
Dazu kommt, daß sich dieses Kirchenwesen, Hochkirche wie Puritanertum, in den
Dienst der Reichen und Mächtigen gestellt hat. Die Ausdrücke los ?vor und tue
Erstell wurden von den Zeiten der Elisabeth an die stehende Vezeichnung für die
Gesamtheit der arbeitenden Klassen, und das Volk wurde in jene zwei Welten
zerrissen, die, wie Disraeli sagt, einander nicht mehr verstehn. Der Arme,
mochte er zur Klasse der lalzcmrin^ poor oder der lato poor gehören, ward
nicht mehr als menschliches Wesen angesehn und behandelt. Jene äußern
Schranken gelten dem Manne der Gesellschaft nnr Personen seines Standes
gegenüber: derselbe Mann, der im Salon den zartfühlenden Ritter spielt,
fordert draußen die Opfer des Minotaurus ein. Der edle Puritanercharakter
ist auf wenige ausgezeichnete Männer beschränkt geblieben. Das Massen-
puritanertum ist die Religion beschränkter Köpfe, deren Gemütsleben durch
eine unfreundliche Außenwelt und fanatische Predigten verwüstet worden ist,
sodaß sie, da sie selbst kein Glück mehr kennen, es auch andern nicht gönnen
und nur noch in der Zerstörung von Glück und im Gelderwerb eine gewisse
Befriedigung finden; es ist eine menschenfeindliche Religion. Nicht ganz ist
es den Puritanern gelungen, die Lebenslust Altenglands zu ersticken. Es war
ein Glück für Cromwell, schrieb die Llckurä^ Rsvisv zu Weihnachten 1891,
daß das Weihnachtsfest im Jahre 1653 auf einen Sonntag oder in der Nonkon-
formistensprache auf den Sabbath fiel. Denn die „Heiligen" wollten auch das
Weihnachtsfest als einen Heidengreuel abschaffen, nicht bloß die alten lieben
Volksbräuche, sondern auch deu Gottesdienst. So aber mußten zum Troste
der noch zahlreich vorhandnen wirklichen Christen die Kirchen an diesem Tage
geöffnet bleiben. Sonst würde es in London, wo Cromwell mit eisiger Kälte
und teilweise mit Spott und Zeichen der Verachtung empfangen wurde, zum
offnen Aufruhr gekommen sein, was um so schlimmer gewesen wäre, als seine
„Heiligen," die überhaupt keine vernünftige Staatsordnung vertrugen, wegen
seiner zu großen Toleranz gegen ihn zu zetern anfingen. Sieben Jahre später
begrüßte das Volk den zurückkehrenden Stuart und die Wiederherstellung eines
bescheidnen Maßes von bürgerlicher und Religionsfreiheit mit Jubel. Neben¬
bei bemerkt: die Bureaukratie mancher Festlandsstaaten zeigt gegenwärtig einen
stark puritanischen Zug. Die Herren haben aus der Geschichte nichts gelernt,
kennen sie vielleicht auch nur mangelhaft. Sie übersehn außerdem die psycho¬
logische Thatsache, daß ein rauhes Klima und drückende Armut, jedes ster sich
schon, um wie viel mehr also beide vereinigt, traurig stimmen, und daß be¬
ständige Traurigkeit die weniger edeln Seelen, die ja stets die Mehrzahl bilden,
bösartig macht. Ein armes Volk im Norden braucht geräuschvolle Volksfeste,


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[0496] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche Menschen Begierden zügeln, und nur noch äußere stehen lassen, die zwar den Schein der Sittlichkeit, nicht aber ihr Wesen erzwingen können; er hat die Menschen nicht reiner, sondern nur heuchlerischer und brutaler gemacht; er hat die Poesie vom Verkehr der Geschlechter abgestreift und nur das Viehische übrig gelassen. Dazu kommt, daß sich dieses Kirchenwesen, Hochkirche wie Puritanertum, in den Dienst der Reichen und Mächtigen gestellt hat. Die Ausdrücke los ?vor und tue Erstell wurden von den Zeiten der Elisabeth an die stehende Vezeichnung für die Gesamtheit der arbeitenden Klassen, und das Volk wurde in jene zwei Welten zerrissen, die, wie Disraeli sagt, einander nicht mehr verstehn. Der Arme, mochte er zur Klasse der lalzcmrin^ poor oder der lato poor gehören, ward nicht mehr als menschliches Wesen angesehn und behandelt. Jene äußern Schranken gelten dem Manne der Gesellschaft nnr Personen seines Standes gegenüber: derselbe Mann, der im Salon den zartfühlenden Ritter spielt, fordert draußen die Opfer des Minotaurus ein. Der edle Puritanercharakter ist auf wenige ausgezeichnete Männer beschränkt geblieben. Das Massen- puritanertum ist die Religion beschränkter Köpfe, deren Gemütsleben durch eine unfreundliche Außenwelt und fanatische Predigten verwüstet worden ist, sodaß sie, da sie selbst kein Glück mehr kennen, es auch andern nicht gönnen und nur noch in der Zerstörung von Glück und im Gelderwerb eine gewisse Befriedigung finden; es ist eine menschenfeindliche Religion. Nicht ganz ist es den Puritanern gelungen, die Lebenslust Altenglands zu ersticken. Es war ein Glück für Cromwell, schrieb die Llckurä^ Rsvisv zu Weihnachten 1891, daß das Weihnachtsfest im Jahre 1653 auf einen Sonntag oder in der Nonkon- formistensprache auf den Sabbath fiel. Denn die „Heiligen" wollten auch das Weihnachtsfest als einen Heidengreuel abschaffen, nicht bloß die alten lieben Volksbräuche, sondern auch deu Gottesdienst. So aber mußten zum Troste der noch zahlreich vorhandnen wirklichen Christen die Kirchen an diesem Tage geöffnet bleiben. Sonst würde es in London, wo Cromwell mit eisiger Kälte und teilweise mit Spott und Zeichen der Verachtung empfangen wurde, zum offnen Aufruhr gekommen sein, was um so schlimmer gewesen wäre, als seine „Heiligen," die überhaupt keine vernünftige Staatsordnung vertrugen, wegen seiner zu großen Toleranz gegen ihn zu zetern anfingen. Sieben Jahre später begrüßte das Volk den zurückkehrenden Stuart und die Wiederherstellung eines bescheidnen Maßes von bürgerlicher und Religionsfreiheit mit Jubel. Neben¬ bei bemerkt: die Bureaukratie mancher Festlandsstaaten zeigt gegenwärtig einen stark puritanischen Zug. Die Herren haben aus der Geschichte nichts gelernt, kennen sie vielleicht auch nur mangelhaft. Sie übersehn außerdem die psycho¬ logische Thatsache, daß ein rauhes Klima und drückende Armut, jedes ster sich schon, um wie viel mehr also beide vereinigt, traurig stimmen, und daß be¬ ständige Traurigkeit die weniger edeln Seelen, die ja stets die Mehrzahl bilden, bösartig macht. Ein armes Volk im Norden braucht geräuschvolle Volksfeste,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/496>, abgerufen am 23.07.2024.