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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

so wurde die Frage gethan, ob er beschwören wolle, in dem Urgicht (dein
Verhör nach der Tortur) alle Fragen von neuem zu bejahen. Widerrief er
jetzt, so wurde die peinliche Frage in geschärfter Weise dergestalt wiederholt,
daß der auSeinandergcrcukte Leib mit brennendem Schwefel bespritzt und unter
die Fußsohlen brennende Lichter gestellt wurden." Einer der Gemarterten,
Drüsemann, starb in der Folter hängend, während die Richtherrcn schmausten.
Brabants kräftige Natur überstand eine dreimalige mehrstündige Folterung.
Seine Hinrichtung zu erzählen ist in einer Zeitschrift nicht möglich. Das
scheußlichste darau ist das Raffiniment, mit dem die Geistlichen während seiner
Zerstücklung bis zum letzten Augenblicke bemüht waren, auch noch seine Seele
zu peinigen. Die übrigen Opfer dieses Höllcnspnks wurden mit dem
Schwerte hingerichtet. Solche Scheusale hat das freundliche Hellas nicht
ausgebrütet!

Eine Geschichte der englischen Teufeleien würde mit der barbarischen
Vertreibung der Bauern durch die Lords, mit den scheußlichen Armengesetzen
und der blutigen Unterdrückung aller nicht zur Staatskirche gehörenden Christen
zu beginnen haben und mit der Behandlung der schwarzen und weißen Sklaven
im neunzehnten Jahrhundert enden. Aber das eigentlich Satanische bleibt
doch der Umstand, daß die englischen Fabrikanten, lediglich um schneller reich
zu werden, hunderttausende von Kindern bis zu fünf Jahren hinab, zum teil
in aller Form gekaufte Armenhnuskiuder, unter unerhörten Mißhandlungen
verbraucht habe", wie rohe Fuhrknechte billig gekaufte Gäule verbrauchen.
Das ist im Heidentum unerhört; weder Rom und Griechenland, noch der
mohammedanische Orient kennen dergleichen, die Naturvölker vollends be¬
handeln die Kinder durchweg mit Affenliebe. Und mau darf nicht glauben,
daß diese unmenschliche Härte wenigstens jener Seite der Sittlichkeit zu gute
gekommen wäre, an die man heutzutage bei dem Worte zunächst zu denken
pflegt. Ihre abergläubische und heuchlerische Frömmigkeit hat die puritanischen
Grubenbesitzer nicht gehindert, tagtäglich nackte Knaben und Mädchen zusammen-
gekoppelt in die Gruben hinunterzulassen; sie hat es nicht gehindert, daß die
arbeitende Bevölkerung in einen Zustand viehischer Unwissenheit und unsäg¬
lichen Elends hinabgedrückt wurde, in dem weder ein Familienleben möglich
ist, noch überhaupt sittliche Begriffe entstehen können. Lange vor den Ent-
hüllungen der Pakt Malt Gazette hat A. von Oettingen (Mvralstatistik S. 468,
nach Leon Fauchers Munks8 sur 1'^nglskerrs S. 12 und 211) auch deutsche
Leser mit der Thatsache bekannt gemacht, "daß in London auf offnem Markte,
zwischen Spitalfields und Bethnal-Green alle Montag und Dienstag zwischen
sechs und sieben Uhr morgens Eltern ihre sieben bis zehnjährigen Kinder -- es ist
ein offnes Geheimnis, zu welchem Zweck es geschieht -- zum Verkauf aufbieten."
Der lieblose und von den Musen und Grazien verlaßne Geist des englisch¬
schottischen Kirchenwesens hat die innern Schranken niedergerissen, die des


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

so wurde die Frage gethan, ob er beschwören wolle, in dem Urgicht (dein
Verhör nach der Tortur) alle Fragen von neuem zu bejahen. Widerrief er
jetzt, so wurde die peinliche Frage in geschärfter Weise dergestalt wiederholt,
daß der auSeinandergcrcukte Leib mit brennendem Schwefel bespritzt und unter
die Fußsohlen brennende Lichter gestellt wurden." Einer der Gemarterten,
Drüsemann, starb in der Folter hängend, während die Richtherrcn schmausten.
Brabants kräftige Natur überstand eine dreimalige mehrstündige Folterung.
Seine Hinrichtung zu erzählen ist in einer Zeitschrift nicht möglich. Das
scheußlichste darau ist das Raffiniment, mit dem die Geistlichen während seiner
Zerstücklung bis zum letzten Augenblicke bemüht waren, auch noch seine Seele
zu peinigen. Die übrigen Opfer dieses Höllcnspnks wurden mit dem
Schwerte hingerichtet. Solche Scheusale hat das freundliche Hellas nicht
ausgebrütet!

Eine Geschichte der englischen Teufeleien würde mit der barbarischen
Vertreibung der Bauern durch die Lords, mit den scheußlichen Armengesetzen
und der blutigen Unterdrückung aller nicht zur Staatskirche gehörenden Christen
zu beginnen haben und mit der Behandlung der schwarzen und weißen Sklaven
im neunzehnten Jahrhundert enden. Aber das eigentlich Satanische bleibt
doch der Umstand, daß die englischen Fabrikanten, lediglich um schneller reich
zu werden, hunderttausende von Kindern bis zu fünf Jahren hinab, zum teil
in aller Form gekaufte Armenhnuskiuder, unter unerhörten Mißhandlungen
verbraucht habe», wie rohe Fuhrknechte billig gekaufte Gäule verbrauchen.
Das ist im Heidentum unerhört; weder Rom und Griechenland, noch der
mohammedanische Orient kennen dergleichen, die Naturvölker vollends be¬
handeln die Kinder durchweg mit Affenliebe. Und mau darf nicht glauben,
daß diese unmenschliche Härte wenigstens jener Seite der Sittlichkeit zu gute
gekommen wäre, an die man heutzutage bei dem Worte zunächst zu denken
pflegt. Ihre abergläubische und heuchlerische Frömmigkeit hat die puritanischen
Grubenbesitzer nicht gehindert, tagtäglich nackte Knaben und Mädchen zusammen-
gekoppelt in die Gruben hinunterzulassen; sie hat es nicht gehindert, daß die
arbeitende Bevölkerung in einen Zustand viehischer Unwissenheit und unsäg¬
lichen Elends hinabgedrückt wurde, in dem weder ein Familienleben möglich
ist, noch überhaupt sittliche Begriffe entstehen können. Lange vor den Ent-
hüllungen der Pakt Malt Gazette hat A. von Oettingen (Mvralstatistik S. 468,
nach Leon Fauchers Munks8 sur 1'^nglskerrs S. 12 und 211) auch deutsche
Leser mit der Thatsache bekannt gemacht, „daß in London auf offnem Markte,
zwischen Spitalfields und Bethnal-Green alle Montag und Dienstag zwischen
sechs und sieben Uhr morgens Eltern ihre sieben bis zehnjährigen Kinder — es ist
ein offnes Geheimnis, zu welchem Zweck es geschieht — zum Verkauf aufbieten."
Der lieblose und von den Musen und Grazien verlaßne Geist des englisch¬
schottischen Kirchenwesens hat die innern Schranken niedergerissen, die des


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[0495] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche so wurde die Frage gethan, ob er beschwören wolle, in dem Urgicht (dein Verhör nach der Tortur) alle Fragen von neuem zu bejahen. Widerrief er jetzt, so wurde die peinliche Frage in geschärfter Weise dergestalt wiederholt, daß der auSeinandergcrcukte Leib mit brennendem Schwefel bespritzt und unter die Fußsohlen brennende Lichter gestellt wurden." Einer der Gemarterten, Drüsemann, starb in der Folter hängend, während die Richtherrcn schmausten. Brabants kräftige Natur überstand eine dreimalige mehrstündige Folterung. Seine Hinrichtung zu erzählen ist in einer Zeitschrift nicht möglich. Das scheußlichste darau ist das Raffiniment, mit dem die Geistlichen während seiner Zerstücklung bis zum letzten Augenblicke bemüht waren, auch noch seine Seele zu peinigen. Die übrigen Opfer dieses Höllcnspnks wurden mit dem Schwerte hingerichtet. Solche Scheusale hat das freundliche Hellas nicht ausgebrütet! Eine Geschichte der englischen Teufeleien würde mit der barbarischen Vertreibung der Bauern durch die Lords, mit den scheußlichen Armengesetzen und der blutigen Unterdrückung aller nicht zur Staatskirche gehörenden Christen zu beginnen haben und mit der Behandlung der schwarzen und weißen Sklaven im neunzehnten Jahrhundert enden. Aber das eigentlich Satanische bleibt doch der Umstand, daß die englischen Fabrikanten, lediglich um schneller reich zu werden, hunderttausende von Kindern bis zu fünf Jahren hinab, zum teil in aller Form gekaufte Armenhnuskiuder, unter unerhörten Mißhandlungen verbraucht habe», wie rohe Fuhrknechte billig gekaufte Gäule verbrauchen. Das ist im Heidentum unerhört; weder Rom und Griechenland, noch der mohammedanische Orient kennen dergleichen, die Naturvölker vollends be¬ handeln die Kinder durchweg mit Affenliebe. Und mau darf nicht glauben, daß diese unmenschliche Härte wenigstens jener Seite der Sittlichkeit zu gute gekommen wäre, an die man heutzutage bei dem Worte zunächst zu denken pflegt. Ihre abergläubische und heuchlerische Frömmigkeit hat die puritanischen Grubenbesitzer nicht gehindert, tagtäglich nackte Knaben und Mädchen zusammen- gekoppelt in die Gruben hinunterzulassen; sie hat es nicht gehindert, daß die arbeitende Bevölkerung in einen Zustand viehischer Unwissenheit und unsäg¬ lichen Elends hinabgedrückt wurde, in dem weder ein Familienleben möglich ist, noch überhaupt sittliche Begriffe entstehen können. Lange vor den Ent- hüllungen der Pakt Malt Gazette hat A. von Oettingen (Mvralstatistik S. 468, nach Leon Fauchers Munks8 sur 1'^nglskerrs S. 12 und 211) auch deutsche Leser mit der Thatsache bekannt gemacht, „daß in London auf offnem Markte, zwischen Spitalfields und Bethnal-Green alle Montag und Dienstag zwischen sechs und sieben Uhr morgens Eltern ihre sieben bis zehnjährigen Kinder — es ist ein offnes Geheimnis, zu welchem Zweck es geschieht — zum Verkauf aufbieten." Der lieblose und von den Musen und Grazien verlaßne Geist des englisch¬ schottischen Kirchenwesens hat die innern Schranken niedergerissen, die des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/495>, abgerufen am 26.08.2024.