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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

Ziegel gilt, es sei besser Unrecht zu leiden als Unrecht zu thun. Kommt er
in die Lage, vom Staate Unrecht leiden zu müssen, so zürnt er ihm nicht.
Nur zweierlei empört ihn und erschüttert die Achtung vorm Staate bei
Christen wie bei Atheisten: wenn sich der fehlbare und noch dazu an die rein
äußerlichen Rücksichten der Staatsräson gebundne Richter als den Vollstrecker
des göttlichen Urteils und sein Walten als den Ausdruck der sittlichen Idee
darstellen will, was ihm natürlich niemand glaubt, und wenn das Unrecht
nicht im Dienste der allgemeinen Ordnung, sondern zum Nutzen bevorzugter
Klasse" verübt wird.

Die Freunde des gegenwärtigen Staates pflegen dem Kommunismus
vorzuwerfen -- und zwar mit Recht --, daß dieser darauf ausgehe, die Erde
in ein Zuchthaus zu verwandeln. Damit erkennen sie aber gerade dieses als
den höchsten Vorzug des gegenwärtigen Staates an, daß er noch einige
Lebensgebiete freiläßt; mit jeder weitern Beschränkung, die der Staat seinen
Bürgern auferlegt, verliert jenes Argument an Kraft. Da der Staat für
viele heute schon nichts weiter als ein Zuchthaus ist, so wünschen diese
natürlicherweise, die übrigen möchten zu gleicher Knechtschaft verurteilt werden,
wenn nun einmal die Freiheit für alle ein unerreichbares Ideal bleiben soll.
Erfüllt der Staat nur seine Pflicht, einem jeden Leib, Leben und Eigentum
vor verbrecherischen Angriffen und vor äußern Feinden zu schützen, so wollen
wir ihn dankbar verehren. Hilft er uns außerdem bei der Lösung unsrer
Kulturaufgaben und nimmt er so manche Last auf seine breiten Schultern,
die den Individuen, Körperschaften und Gemeinden, vielleicht nur, weil sie
durch Bevormundung des selbständigen Handelns entwöhnt sind, zu schwer
scheint, so sind wir ihm doppelt dankbar. Aber wenn er unsre Thätigkeit
mehr hemmt als fördert und den Geist mehr erstickt als anfache, dann verdient
er unsern Dank nicht, und will er gar die Verwirklichung der sittlichen Idee
sein, so -- kompromittirt er sich bloß. Nur in der Persönlichkeit des einzelnen
Menschen, sonst nirgends kann sich die sittliche Idee verwirklichen. Mit der
kollektiven Verwirklichung der sittlichen Idee geht es ungefähr so, wie mit der
kollektiven Weisheit. Sämtliche Mitglieder eines Natskollegiums mögen
Weltweise und Genies sein, aber seine Beschlüsse machen dennoch, und zwar
notwendigerweise, stets den Eindruck, den Schillers Tenivn schildert.

(Fortsehnug folgt)




Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

Ziegel gilt, es sei besser Unrecht zu leiden als Unrecht zu thun. Kommt er
in die Lage, vom Staate Unrecht leiden zu müssen, so zürnt er ihm nicht.
Nur zweierlei empört ihn und erschüttert die Achtung vorm Staate bei
Christen wie bei Atheisten: wenn sich der fehlbare und noch dazu an die rein
äußerlichen Rücksichten der Staatsräson gebundne Richter als den Vollstrecker
des göttlichen Urteils und sein Walten als den Ausdruck der sittlichen Idee
darstellen will, was ihm natürlich niemand glaubt, und wenn das Unrecht
nicht im Dienste der allgemeinen Ordnung, sondern zum Nutzen bevorzugter
Klasse» verübt wird.

Die Freunde des gegenwärtigen Staates pflegen dem Kommunismus
vorzuwerfen — und zwar mit Recht —, daß dieser darauf ausgehe, die Erde
in ein Zuchthaus zu verwandeln. Damit erkennen sie aber gerade dieses als
den höchsten Vorzug des gegenwärtigen Staates an, daß er noch einige
Lebensgebiete freiläßt; mit jeder weitern Beschränkung, die der Staat seinen
Bürgern auferlegt, verliert jenes Argument an Kraft. Da der Staat für
viele heute schon nichts weiter als ein Zuchthaus ist, so wünschen diese
natürlicherweise, die übrigen möchten zu gleicher Knechtschaft verurteilt werden,
wenn nun einmal die Freiheit für alle ein unerreichbares Ideal bleiben soll.
Erfüllt der Staat nur seine Pflicht, einem jeden Leib, Leben und Eigentum
vor verbrecherischen Angriffen und vor äußern Feinden zu schützen, so wollen
wir ihn dankbar verehren. Hilft er uns außerdem bei der Lösung unsrer
Kulturaufgaben und nimmt er so manche Last auf seine breiten Schultern,
die den Individuen, Körperschaften und Gemeinden, vielleicht nur, weil sie
durch Bevormundung des selbständigen Handelns entwöhnt sind, zu schwer
scheint, so sind wir ihm doppelt dankbar. Aber wenn er unsre Thätigkeit
mehr hemmt als fördert und den Geist mehr erstickt als anfache, dann verdient
er unsern Dank nicht, und will er gar die Verwirklichung der sittlichen Idee
sein, so — kompromittirt er sich bloß. Nur in der Persönlichkeit des einzelnen
Menschen, sonst nirgends kann sich die sittliche Idee verwirklichen. Mit der
kollektiven Verwirklichung der sittlichen Idee geht es ungefähr so, wie mit der
kollektiven Weisheit. Sämtliche Mitglieder eines Natskollegiums mögen
Weltweise und Genies sein, aber seine Beschlüsse machen dennoch, und zwar
notwendigerweise, stets den Eindruck, den Schillers Tenivn schildert.

(Fortsehnug folgt)




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[0450] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche Ziegel gilt, es sei besser Unrecht zu leiden als Unrecht zu thun. Kommt er in die Lage, vom Staate Unrecht leiden zu müssen, so zürnt er ihm nicht. Nur zweierlei empört ihn und erschüttert die Achtung vorm Staate bei Christen wie bei Atheisten: wenn sich der fehlbare und noch dazu an die rein äußerlichen Rücksichten der Staatsräson gebundne Richter als den Vollstrecker des göttlichen Urteils und sein Walten als den Ausdruck der sittlichen Idee darstellen will, was ihm natürlich niemand glaubt, und wenn das Unrecht nicht im Dienste der allgemeinen Ordnung, sondern zum Nutzen bevorzugter Klasse» verübt wird. Die Freunde des gegenwärtigen Staates pflegen dem Kommunismus vorzuwerfen — und zwar mit Recht —, daß dieser darauf ausgehe, die Erde in ein Zuchthaus zu verwandeln. Damit erkennen sie aber gerade dieses als den höchsten Vorzug des gegenwärtigen Staates an, daß er noch einige Lebensgebiete freiläßt; mit jeder weitern Beschränkung, die der Staat seinen Bürgern auferlegt, verliert jenes Argument an Kraft. Da der Staat für viele heute schon nichts weiter als ein Zuchthaus ist, so wünschen diese natürlicherweise, die übrigen möchten zu gleicher Knechtschaft verurteilt werden, wenn nun einmal die Freiheit für alle ein unerreichbares Ideal bleiben soll. Erfüllt der Staat nur seine Pflicht, einem jeden Leib, Leben und Eigentum vor verbrecherischen Angriffen und vor äußern Feinden zu schützen, so wollen wir ihn dankbar verehren. Hilft er uns außerdem bei der Lösung unsrer Kulturaufgaben und nimmt er so manche Last auf seine breiten Schultern, die den Individuen, Körperschaften und Gemeinden, vielleicht nur, weil sie durch Bevormundung des selbständigen Handelns entwöhnt sind, zu schwer scheint, so sind wir ihm doppelt dankbar. Aber wenn er unsre Thätigkeit mehr hemmt als fördert und den Geist mehr erstickt als anfache, dann verdient er unsern Dank nicht, und will er gar die Verwirklichung der sittlichen Idee sein, so — kompromittirt er sich bloß. Nur in der Persönlichkeit des einzelnen Menschen, sonst nirgends kann sich die sittliche Idee verwirklichen. Mit der kollektiven Verwirklichung der sittlichen Idee geht es ungefähr so, wie mit der kollektiven Weisheit. Sämtliche Mitglieder eines Natskollegiums mögen Weltweise und Genies sein, aber seine Beschlüsse machen dennoch, und zwar notwendigerweise, stets den Eindruck, den Schillers Tenivn schildert. (Fortsehnug folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/450>, abgerufen am 23.07.2024.