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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche

ältern Arbeiterschutzgesetze Englands nicht Werke der Liebe, sondern Produkte
der Notwendigkeit, Versicherungsgesetze -- ob die bei uns erlaßuen gelungen
oder mißraten sind, kommt tuer uicht in Betracht -- waren notwendig, wenn
nicht entweder die Gemeinden mit einer unerschwinglichen Armensteuer belastet
oder Vagabundeuschwärme, für die die ohnehin überfüllten Gefängnisse nicht aus¬
gereicht hätten, über das Land losgelassen werden sollten. Der Arbeiterschutz
läßt sich nicht umgehn, weiln nicht die Wehrkraft des Volkes dem Geldintcresse
der Unternehmer geopfert werden soll. Und die Erreichung beider Zwecke der
Selbsthilfe der Arbeiter durch Gewährung schrankenloser Koalitivns- und Ver-
eiusfreiheit zu überantworten, mag den Regierungen zu gefährlich erschienen
sein. Als eine von vielen hochgeschätzte, von andern gehaßte, von allen ge-
fürchtete Macht wahrt der Staat seine Würde, aber als liebendes und Liebe
heischendes Wesen wird er zur komischen Figur und erntet nichts als Spott
und Verachtung. Wenn der Staat nur die Rechtsordnung aufrecht erhält
und uns Privatmenschen in unsrer Liebesthätigkeit weder stört noch hindert,
dann sind wir schon zufrieden.

Was soll denn überhaupt damit gewonnen sein, wenn man an Stelle
des Gegensatzes zwischen Sinnlichen und Übersinnlichen den zwischen persön¬
lichem und Gesamtinteresse setzt? Fehlt etwa der zweite im Christentum? Mit
der Beseitigung des überweltlichen Gottes schwinden ein Antrieb zur Pflicht¬
erfüllung und ein Damm gegen gemeinschädliche Gelüste, die auch dort noch
wirken und schütze", wo die Staatsgewalt nicht hinreicht oder wo es gar
keinen Staat giebt; das ist der ganze Gewinn, und außerdem verliert das
Gewissen die leidlich feste Richtschnur, die es an dem Gebote der Nächstenliebe
besaß. Visher wußten wir: um eignen Vorteils willen dürfen nur keinem
Menschen in der Welt einen Schaden, ein Leid zufügen; gutes zu thun, sind mir
nur so weit verpflichtet, als unser Vermögen reicht, und zwar haben wir bei
denen anzufangen, die uns Gott selbst als die allernächsten beigesellt hat.
Werden wir durch höhere Gewalt, z. B. im Kriege, gezwungen, andern Men¬
schen übles zuzufügen, so sind das keine Privathandlungen: unser Gewissen
gehen sie nichts nu, weil die höhere Macht die Verantwortung dafür trägt.
Soll ich nun aber diese Richtschnur entbehren und das für gut halten, was
der Gesamtheit dient, das Gegenteil für böse, dann muß ich die Frage ent¬
scheiden: wo ist denn diese Gesamtheit? Welche Personen bilden sie? Ist die
Menschheit die Gesamtheit? Liegt die Erhaltung von Krüppeln und Blödsinnigen
im Gesamtinteresse, oder muß ich solche nicht vielmehr in ihrem eignen und
im Gesamtinteresse umbringen? Muß ich auch für das Wohl der Botokuden
und Melanesier besorgt sein? Müssen die Naturvölker dnrch Knechtung oder
Ausrottung dem Gemeinwohl geopfert werden, oder gehört ihre Erhaltung
und Pflege mit zum Gesamtwohl? Sind auch Frankreich und Rußland Glieder
der Gesamtheit, der ich zu dienen habe? Oder bilden nur die Deutschen eine


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche

ältern Arbeiterschutzgesetze Englands nicht Werke der Liebe, sondern Produkte
der Notwendigkeit, Versicherungsgesetze — ob die bei uns erlaßuen gelungen
oder mißraten sind, kommt tuer uicht in Betracht — waren notwendig, wenn
nicht entweder die Gemeinden mit einer unerschwinglichen Armensteuer belastet
oder Vagabundeuschwärme, für die die ohnehin überfüllten Gefängnisse nicht aus¬
gereicht hätten, über das Land losgelassen werden sollten. Der Arbeiterschutz
läßt sich nicht umgehn, weiln nicht die Wehrkraft des Volkes dem Geldintcresse
der Unternehmer geopfert werden soll. Und die Erreichung beider Zwecke der
Selbsthilfe der Arbeiter durch Gewährung schrankenloser Koalitivns- und Ver-
eiusfreiheit zu überantworten, mag den Regierungen zu gefährlich erschienen
sein. Als eine von vielen hochgeschätzte, von andern gehaßte, von allen ge-
fürchtete Macht wahrt der Staat seine Würde, aber als liebendes und Liebe
heischendes Wesen wird er zur komischen Figur und erntet nichts als Spott
und Verachtung. Wenn der Staat nur die Rechtsordnung aufrecht erhält
und uns Privatmenschen in unsrer Liebesthätigkeit weder stört noch hindert,
dann sind wir schon zufrieden.

Was soll denn überhaupt damit gewonnen sein, wenn man an Stelle
des Gegensatzes zwischen Sinnlichen und Übersinnlichen den zwischen persön¬
lichem und Gesamtinteresse setzt? Fehlt etwa der zweite im Christentum? Mit
der Beseitigung des überweltlichen Gottes schwinden ein Antrieb zur Pflicht¬
erfüllung und ein Damm gegen gemeinschädliche Gelüste, die auch dort noch
wirken und schütze», wo die Staatsgewalt nicht hinreicht oder wo es gar
keinen Staat giebt; das ist der ganze Gewinn, und außerdem verliert das
Gewissen die leidlich feste Richtschnur, die es an dem Gebote der Nächstenliebe
besaß. Visher wußten wir: um eignen Vorteils willen dürfen nur keinem
Menschen in der Welt einen Schaden, ein Leid zufügen; gutes zu thun, sind mir
nur so weit verpflichtet, als unser Vermögen reicht, und zwar haben wir bei
denen anzufangen, die uns Gott selbst als die allernächsten beigesellt hat.
Werden wir durch höhere Gewalt, z. B. im Kriege, gezwungen, andern Men¬
schen übles zuzufügen, so sind das keine Privathandlungen: unser Gewissen
gehen sie nichts nu, weil die höhere Macht die Verantwortung dafür trägt.
Soll ich nun aber diese Richtschnur entbehren und das für gut halten, was
der Gesamtheit dient, das Gegenteil für böse, dann muß ich die Frage ent¬
scheiden: wo ist denn diese Gesamtheit? Welche Personen bilden sie? Ist die
Menschheit die Gesamtheit? Liegt die Erhaltung von Krüppeln und Blödsinnigen
im Gesamtinteresse, oder muß ich solche nicht vielmehr in ihrem eignen und
im Gesamtinteresse umbringen? Muß ich auch für das Wohl der Botokuden
und Melanesier besorgt sein? Müssen die Naturvölker dnrch Knechtung oder
Ausrottung dem Gemeinwohl geopfert werden, oder gehört ihre Erhaltung
und Pflege mit zum Gesamtwohl? Sind auch Frankreich und Rußland Glieder
der Gesamtheit, der ich zu dienen habe? Oder bilden nur die Deutschen eine


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[0446] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche ältern Arbeiterschutzgesetze Englands nicht Werke der Liebe, sondern Produkte der Notwendigkeit, Versicherungsgesetze — ob die bei uns erlaßuen gelungen oder mißraten sind, kommt tuer uicht in Betracht — waren notwendig, wenn nicht entweder die Gemeinden mit einer unerschwinglichen Armensteuer belastet oder Vagabundeuschwärme, für die die ohnehin überfüllten Gefängnisse nicht aus¬ gereicht hätten, über das Land losgelassen werden sollten. Der Arbeiterschutz läßt sich nicht umgehn, weiln nicht die Wehrkraft des Volkes dem Geldintcresse der Unternehmer geopfert werden soll. Und die Erreichung beider Zwecke der Selbsthilfe der Arbeiter durch Gewährung schrankenloser Koalitivns- und Ver- eiusfreiheit zu überantworten, mag den Regierungen zu gefährlich erschienen sein. Als eine von vielen hochgeschätzte, von andern gehaßte, von allen ge- fürchtete Macht wahrt der Staat seine Würde, aber als liebendes und Liebe heischendes Wesen wird er zur komischen Figur und erntet nichts als Spott und Verachtung. Wenn der Staat nur die Rechtsordnung aufrecht erhält und uns Privatmenschen in unsrer Liebesthätigkeit weder stört noch hindert, dann sind wir schon zufrieden. Was soll denn überhaupt damit gewonnen sein, wenn man an Stelle des Gegensatzes zwischen Sinnlichen und Übersinnlichen den zwischen persön¬ lichem und Gesamtinteresse setzt? Fehlt etwa der zweite im Christentum? Mit der Beseitigung des überweltlichen Gottes schwinden ein Antrieb zur Pflicht¬ erfüllung und ein Damm gegen gemeinschädliche Gelüste, die auch dort noch wirken und schütze», wo die Staatsgewalt nicht hinreicht oder wo es gar keinen Staat giebt; das ist der ganze Gewinn, und außerdem verliert das Gewissen die leidlich feste Richtschnur, die es an dem Gebote der Nächstenliebe besaß. Visher wußten wir: um eignen Vorteils willen dürfen nur keinem Menschen in der Welt einen Schaden, ein Leid zufügen; gutes zu thun, sind mir nur so weit verpflichtet, als unser Vermögen reicht, und zwar haben wir bei denen anzufangen, die uns Gott selbst als die allernächsten beigesellt hat. Werden wir durch höhere Gewalt, z. B. im Kriege, gezwungen, andern Men¬ schen übles zuzufügen, so sind das keine Privathandlungen: unser Gewissen gehen sie nichts nu, weil die höhere Macht die Verantwortung dafür trägt. Soll ich nun aber diese Richtschnur entbehren und das für gut halten, was der Gesamtheit dient, das Gegenteil für böse, dann muß ich die Frage ent¬ scheiden: wo ist denn diese Gesamtheit? Welche Personen bilden sie? Ist die Menschheit die Gesamtheit? Liegt die Erhaltung von Krüppeln und Blödsinnigen im Gesamtinteresse, oder muß ich solche nicht vielmehr in ihrem eignen und im Gesamtinteresse umbringen? Muß ich auch für das Wohl der Botokuden und Melanesier besorgt sein? Müssen die Naturvölker dnrch Knechtung oder Ausrottung dem Gemeinwohl geopfert werden, oder gehört ihre Erhaltung und Pflege mit zum Gesamtwohl? Sind auch Frankreich und Rußland Glieder der Gesamtheit, der ich zu dienen habe? Oder bilden nur die Deutschen eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/446>, abgerufen am 23.07.2024.