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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Bilder ans toi" Universitätsleben

geraubt! War ich dadurch meinen Zielen auch nur eiuen Schritt näher gekommen?
Welchen Nutzen hätte ich auch aus dem Theaterleben ziehen können? Keinen.

Wirklich keinen? Ich ging langsam weiter. Alle Bekanntschaften, Erleb¬
nisse und Bilder der Tellausführung mit ihren unzähligen Proben und Gelagen
flogen wieder an meiner Phantasie vorüber. Ich befand mich im Geiste wieder
auf der Bühne des Nationaltheaters; ich sah, wie sich der Direktor Borsdorff
abquälte, aus dem spröden Material der Studenten eine künstlerisch bewegte
Rütliszene fertig zu bringen, wie ihm schließlich die Geduld riß und er auf
einen kleinen widerspenstigen Chemiker losstürzte, um ihn hinauszuwerfen, wie
dieser wütend aus den Mimen eindrang und ihn sofort auf Pistolen forderte,
wie Frau Borsdorff mit theatralischen Pathos dnzwischeusprcmg, wie -- kurz
der Gedanke an diese Szene wirkte so komisch aus mich, daß ich auflachen
mußte. Ich war mit einemmale wieder mitten nnter dem lustigen Völkchen.
Und wie viele von jener Gesellschaft, zu der uicht die schlechtesten Geister ge¬
hörten, waren nun nach einem Jahre schon fort, zerstreut, auf rudern Uni¬
versitäten oder gar schon im Philistertum! Wo war mein wackrer Kriegs¬
kumpan, der Lanzknecht Leuthold, von dem man sagte, daß er sich seine menschen-
freundliche Gesinnung nicht durch Genuß von Selterswasser verschafft habe!
Wo war der brüllende Baumgarten, der hinter den Kulissen von starken
Männern gehalten werden mußte, damit er nicht, zur unrechten Zeit auf die
Bühne stürzte! Dem, der den Tell gab, hatte der Lorbeerkranz so den Kopf
verdreht, daß er die Philologie sofort in die Ecke warf und statt der Schul¬
meistertretmühle die weltbewegenden Bretter wühlte. Aber wo steckte der
ewig verliebte Ludwig Gnnghofer, der den Rudeuz spielte, das Herz voller
Lieder "Vom Stamme Asra," und den alle Welt um die Waldszeue mit Klara
Meyer als Bertha so beneidete, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte,
ihre Namen in ein Akrostichon zu verweben? Wo war der edle Stauffacher,
jeuer düstere Mathematiker, der prächtige Walter Fürst, der näselnde Geßler?
Wo der kleine Melchthal mit dem gewaltigen Organ und der mädchenhafte
Parricida, von dem wir glaubten, er würde einst ein zweiter Geibel werden?
Wie doch ein einziges Jahr eine solche Gesellschaft auseiuanderfegen kann!

Um sechs Uhr abends saß ich trotz meiner ernsten Vorsätze im Baracken-
auditorium. Es war vollständig gefüllt, und da niemand den Aufruf unter¬
zeichnet hatte, so schien alles gespannt, wer die Versammlung eröffnen und
leiten würde. Nach geraumer Zeit betrat ein unter den Studenten als Prüside,
Redner und Arrangeur wohl bekannter Historiker die Tribüne, bat um Silentium
und eröffnete die Sitzung. Die Versammlung übertrug ihm einstimmig den
Vorsitz; er nahm ihn wie eine selbstverständliche Sache an, machte aber mit
dem Ausdruck einer gewissen Überlegenheit die Herren Kommilitonen darauf
aufmerksam, daß er sich wegen seines bevorstehenden Examens an dem Theater¬
spiel auf keine Weise beteiligen könne. Das Wort Examen übte auf mich


Grenzboten I 18"2 S
Bilder ans toi» Universitätsleben

geraubt! War ich dadurch meinen Zielen auch nur eiuen Schritt näher gekommen?
Welchen Nutzen hätte ich auch aus dem Theaterleben ziehen können? Keinen.

Wirklich keinen? Ich ging langsam weiter. Alle Bekanntschaften, Erleb¬
nisse und Bilder der Tellausführung mit ihren unzähligen Proben und Gelagen
flogen wieder an meiner Phantasie vorüber. Ich befand mich im Geiste wieder
auf der Bühne des Nationaltheaters; ich sah, wie sich der Direktor Borsdorff
abquälte, aus dem spröden Material der Studenten eine künstlerisch bewegte
Rütliszene fertig zu bringen, wie ihm schließlich die Geduld riß und er auf
einen kleinen widerspenstigen Chemiker losstürzte, um ihn hinauszuwerfen, wie
dieser wütend aus den Mimen eindrang und ihn sofort auf Pistolen forderte,
wie Frau Borsdorff mit theatralischen Pathos dnzwischeusprcmg, wie — kurz
der Gedanke an diese Szene wirkte so komisch aus mich, daß ich auflachen
mußte. Ich war mit einemmale wieder mitten nnter dem lustigen Völkchen.
Und wie viele von jener Gesellschaft, zu der uicht die schlechtesten Geister ge¬
hörten, waren nun nach einem Jahre schon fort, zerstreut, auf rudern Uni¬
versitäten oder gar schon im Philistertum! Wo war mein wackrer Kriegs¬
kumpan, der Lanzknecht Leuthold, von dem man sagte, daß er sich seine menschen-
freundliche Gesinnung nicht durch Genuß von Selterswasser verschafft habe!
Wo war der brüllende Baumgarten, der hinter den Kulissen von starken
Männern gehalten werden mußte, damit er nicht, zur unrechten Zeit auf die
Bühne stürzte! Dem, der den Tell gab, hatte der Lorbeerkranz so den Kopf
verdreht, daß er die Philologie sofort in die Ecke warf und statt der Schul¬
meistertretmühle die weltbewegenden Bretter wühlte. Aber wo steckte der
ewig verliebte Ludwig Gnnghofer, der den Rudeuz spielte, das Herz voller
Lieder „Vom Stamme Asra," und den alle Welt um die Waldszeue mit Klara
Meyer als Bertha so beneidete, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte,
ihre Namen in ein Akrostichon zu verweben? Wo war der edle Stauffacher,
jeuer düstere Mathematiker, der prächtige Walter Fürst, der näselnde Geßler?
Wo der kleine Melchthal mit dem gewaltigen Organ und der mädchenhafte
Parricida, von dem wir glaubten, er würde einst ein zweiter Geibel werden?
Wie doch ein einziges Jahr eine solche Gesellschaft auseiuanderfegen kann!

Um sechs Uhr abends saß ich trotz meiner ernsten Vorsätze im Baracken-
auditorium. Es war vollständig gefüllt, und da niemand den Aufruf unter¬
zeichnet hatte, so schien alles gespannt, wer die Versammlung eröffnen und
leiten würde. Nach geraumer Zeit betrat ein unter den Studenten als Prüside,
Redner und Arrangeur wohl bekannter Historiker die Tribüne, bat um Silentium
und eröffnete die Sitzung. Die Versammlung übertrug ihm einstimmig den
Vorsitz; er nahm ihn wie eine selbstverständliche Sache an, machte aber mit
dem Ausdruck einer gewissen Überlegenheit die Herren Kommilitonen darauf
aufmerksam, daß er sich wegen seines bevorstehenden Examens an dem Theater¬
spiel auf keine Weise beteiligen könne. Das Wort Examen übte auf mich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/41>, abgerufen am 23.07.2024.