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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Albrecht Dürer

und für die Richtung seiner Gedanken bedeutsam ist die Gleichstellung mensch¬
licher Vollkommenheit mit der formalen Schönheit." Es ist mir nicht gelungen,
einen Beleg für diese Sätze in Dürers Schriften zu finden. Allerdings hat
Conway (S. 151 und 166) seine Auffassung von Dürers Proportiousstudieu
in ähnlicher Weise formulirt, ich kann aber diese Auffassung nicht für richtig
halten. Nach ihr Hütte Dürers Ästhetik einen dogmatischen Hintergrund
gehabt, wäre sie im wesentlichen eine idealistische Ästhetik gewesen. Beides
war nicht der Fall. Allerdings sagt Dürer einmal, nur Gott wisse die Schönheit,
wem er sie mitteile, der wisse sie auch. Das will aber nur so viel heißen,
daß die Menschen ein klares Urteil über das Schöne nicht haben können,
daß es für den Maler ein absolut Schönes nicht giebt. Es ist nun sehr
interessant und wahrhaft rührend zu sehen, wie sich Dürer trotzdem immer
wieder mit der Definition des Schönen abmüht. Einmal erklärt er für schön
das, was nichts überflüssiges an sich hat. Dann wieder ist ihm die Symmetrie
das Wesen des Schönen. Wieder ein andermal behauptet er, schön sei, was
die meisten Menschen für schön hielten. Dann wieder giebt er zu, daß die
Schönheit nach dem Geschmack ganz verschieden sei, daß uns selbst an der
einen Stelle schön erscheine, was uns um der andern häßlich erscheinen würde.
Kurz, er kommt zu keinem Ergebnis. Offenbar hat ihm dunkel die Thatsache
vorgeschwebt, die ja auch vielen Ästhetikern unseres Jahrhunderts unklar
geblieben ist, daß das Schöne in der Natur mit dem in der Kunst keineswegs
zusammenfällt, daß zwar das Schöne in der Natur, indem es Wirklichkeit ist, auf
der Vollkommenheit beruht, daß aber in der Kunst auch das Häßliche ein Recht
hat, da sie ja nur ein Scheinbild giebt und die Schönheit hier nicht auf der
Vollkommenheit des Urbildes, sondern auf der künstlerischen Belebung
des Scheinbildes beruht. Da aber Dürer diese Thatsache nicht klar erkannt
hat, bemüht er sich fortwährend, in der Kunst das absolut Schöne zu finden,
das doch als solches gar nicht existirt. Wir können mit Bestimmtheit behaupten,
daß dieses ganze Streben bei ihm nichts andres ist als ein Zugeständnis an
die Ästhetik der Antike und der italienischen Renaissance. Von Vitruv und
Jacopo de' Barbari war er bei seinen Proportionsstudien ausgegangen.
Jacopo de' Barbaris angebliche Normalproportion war das "Ding," das
ihm in seiner Jugend in Venedig so sehr gefallen hatte. Aber schon nach
elf Jahren gefiel es ihm nicht mehr. Er hatte inzwischen "sein eigen Ding
vor sich genommen," das heißt nach eignem Sinn die Natur studirt. Und
das Ergebnis? In seiner Proportionslehre liegt es vor. Das, was ur¬
sprünglich ein Nachweis der normalen Schönheit werden sollte, ist ihm unter
den Händen zu einem Bekenntnis geworden, daß es kein normal Schönes gebe, daß
selbst die Proportionen des menschlichen Körpers innerhalb gewisser Grenzen ver¬
schieden sein könnten. Und selbst an die verschiednen Proportionen, die er giebt, will
er den Leser nicht binden, dieser solle sich vielmehr zwischen ihnen die Pro-


Albrecht Dürer

und für die Richtung seiner Gedanken bedeutsam ist die Gleichstellung mensch¬
licher Vollkommenheit mit der formalen Schönheit." Es ist mir nicht gelungen,
einen Beleg für diese Sätze in Dürers Schriften zu finden. Allerdings hat
Conway (S. 151 und 166) seine Auffassung von Dürers Proportiousstudieu
in ähnlicher Weise formulirt, ich kann aber diese Auffassung nicht für richtig
halten. Nach ihr Hütte Dürers Ästhetik einen dogmatischen Hintergrund
gehabt, wäre sie im wesentlichen eine idealistische Ästhetik gewesen. Beides
war nicht der Fall. Allerdings sagt Dürer einmal, nur Gott wisse die Schönheit,
wem er sie mitteile, der wisse sie auch. Das will aber nur so viel heißen,
daß die Menschen ein klares Urteil über das Schöne nicht haben können,
daß es für den Maler ein absolut Schönes nicht giebt. Es ist nun sehr
interessant und wahrhaft rührend zu sehen, wie sich Dürer trotzdem immer
wieder mit der Definition des Schönen abmüht. Einmal erklärt er für schön
das, was nichts überflüssiges an sich hat. Dann wieder ist ihm die Symmetrie
das Wesen des Schönen. Wieder ein andermal behauptet er, schön sei, was
die meisten Menschen für schön hielten. Dann wieder giebt er zu, daß die
Schönheit nach dem Geschmack ganz verschieden sei, daß uns selbst an der
einen Stelle schön erscheine, was uns um der andern häßlich erscheinen würde.
Kurz, er kommt zu keinem Ergebnis. Offenbar hat ihm dunkel die Thatsache
vorgeschwebt, die ja auch vielen Ästhetikern unseres Jahrhunderts unklar
geblieben ist, daß das Schöne in der Natur mit dem in der Kunst keineswegs
zusammenfällt, daß zwar das Schöne in der Natur, indem es Wirklichkeit ist, auf
der Vollkommenheit beruht, daß aber in der Kunst auch das Häßliche ein Recht
hat, da sie ja nur ein Scheinbild giebt und die Schönheit hier nicht auf der
Vollkommenheit des Urbildes, sondern auf der künstlerischen Belebung
des Scheinbildes beruht. Da aber Dürer diese Thatsache nicht klar erkannt
hat, bemüht er sich fortwährend, in der Kunst das absolut Schöne zu finden,
das doch als solches gar nicht existirt. Wir können mit Bestimmtheit behaupten,
daß dieses ganze Streben bei ihm nichts andres ist als ein Zugeständnis an
die Ästhetik der Antike und der italienischen Renaissance. Von Vitruv und
Jacopo de' Barbari war er bei seinen Proportionsstudien ausgegangen.
Jacopo de' Barbaris angebliche Normalproportion war das „Ding," das
ihm in seiner Jugend in Venedig so sehr gefallen hatte. Aber schon nach
elf Jahren gefiel es ihm nicht mehr. Er hatte inzwischen „sein eigen Ding
vor sich genommen," das heißt nach eignem Sinn die Natur studirt. Und
das Ergebnis? In seiner Proportionslehre liegt es vor. Das, was ur¬
sprünglich ein Nachweis der normalen Schönheit werden sollte, ist ihm unter
den Händen zu einem Bekenntnis geworden, daß es kein normal Schönes gebe, daß
selbst die Proportionen des menschlichen Körpers innerhalb gewisser Grenzen ver¬
schieden sein könnten. Und selbst an die verschiednen Proportionen, die er giebt, will
er den Leser nicht binden, dieser solle sich vielmehr zwischen ihnen die Pro-


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[0402] Albrecht Dürer und für die Richtung seiner Gedanken bedeutsam ist die Gleichstellung mensch¬ licher Vollkommenheit mit der formalen Schönheit." Es ist mir nicht gelungen, einen Beleg für diese Sätze in Dürers Schriften zu finden. Allerdings hat Conway (S. 151 und 166) seine Auffassung von Dürers Proportiousstudieu in ähnlicher Weise formulirt, ich kann aber diese Auffassung nicht für richtig halten. Nach ihr Hütte Dürers Ästhetik einen dogmatischen Hintergrund gehabt, wäre sie im wesentlichen eine idealistische Ästhetik gewesen. Beides war nicht der Fall. Allerdings sagt Dürer einmal, nur Gott wisse die Schönheit, wem er sie mitteile, der wisse sie auch. Das will aber nur so viel heißen, daß die Menschen ein klares Urteil über das Schöne nicht haben können, daß es für den Maler ein absolut Schönes nicht giebt. Es ist nun sehr interessant und wahrhaft rührend zu sehen, wie sich Dürer trotzdem immer wieder mit der Definition des Schönen abmüht. Einmal erklärt er für schön das, was nichts überflüssiges an sich hat. Dann wieder ist ihm die Symmetrie das Wesen des Schönen. Wieder ein andermal behauptet er, schön sei, was die meisten Menschen für schön hielten. Dann wieder giebt er zu, daß die Schönheit nach dem Geschmack ganz verschieden sei, daß uns selbst an der einen Stelle schön erscheine, was uns um der andern häßlich erscheinen würde. Kurz, er kommt zu keinem Ergebnis. Offenbar hat ihm dunkel die Thatsache vorgeschwebt, die ja auch vielen Ästhetikern unseres Jahrhunderts unklar geblieben ist, daß das Schöne in der Natur mit dem in der Kunst keineswegs zusammenfällt, daß zwar das Schöne in der Natur, indem es Wirklichkeit ist, auf der Vollkommenheit beruht, daß aber in der Kunst auch das Häßliche ein Recht hat, da sie ja nur ein Scheinbild giebt und die Schönheit hier nicht auf der Vollkommenheit des Urbildes, sondern auf der künstlerischen Belebung des Scheinbildes beruht. Da aber Dürer diese Thatsache nicht klar erkannt hat, bemüht er sich fortwährend, in der Kunst das absolut Schöne zu finden, das doch als solches gar nicht existirt. Wir können mit Bestimmtheit behaupten, daß dieses ganze Streben bei ihm nichts andres ist als ein Zugeständnis an die Ästhetik der Antike und der italienischen Renaissance. Von Vitruv und Jacopo de' Barbari war er bei seinen Proportionsstudien ausgegangen. Jacopo de' Barbaris angebliche Normalproportion war das „Ding," das ihm in seiner Jugend in Venedig so sehr gefallen hatte. Aber schon nach elf Jahren gefiel es ihm nicht mehr. Er hatte inzwischen „sein eigen Ding vor sich genommen," das heißt nach eignem Sinn die Natur studirt. Und das Ergebnis? In seiner Proportionslehre liegt es vor. Das, was ur¬ sprünglich ein Nachweis der normalen Schönheit werden sollte, ist ihm unter den Händen zu einem Bekenntnis geworden, daß es kein normal Schönes gebe, daß selbst die Proportionen des menschlichen Körpers innerhalb gewisser Grenzen ver¬ schieden sein könnten. Und selbst an die verschiednen Proportionen, die er giebt, will er den Leser nicht binden, dieser solle sich vielmehr zwischen ihnen die Pro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/402>, abgerufen am 23.07.2024.