Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Pflicht zu reden "ut das Recht zu schweigen

vom Angeklagten gewählte" lind dem Offizialverteidiger, d. h. dem ihm von
Amts wegen beigegebenen Verteidiger zu beachten: der Wahlverteidiger, nicht
aber der Offizialverteidiger kann und darf die Verteidigung ablehnen, die über¬
nommene niederlegen; von einer Verpflichtung zur Ablehnung oder Nieder¬
legung kann also von vornherein nur beim Wahlverteidiger die Rede sein.

Auf die Freisprechung des Angeklagten, den er schuldig weiß oder für
schuldig hält, darf weder der eine noch der audere Verteidiger antragen;
seinem Wissen um die Schuld darf er, seinem Glauben an die Schuld soll
er mindestens keinen Ausdruck geben; wie hat er sich in diesem Dilemma zu
verhalten? Hier ist wohl nur die Antwort möglich: der Wahlverteidiger hat
dem Angeklagten, der leugnen will, seinen Beistand zu versagen, der Offizial¬
verteidiger hat sich auf die Erklärung zu beschränken, daß er dem Gericht die
Entscheidung über die Schuldfrage überlasse; daß in solchem Falle der vom
einen oder vom andern Verteidiger dem Angeklagten gegebene Rat, die Aussage zu
verweigern, pflichtwidrig wäre, bedarf keiner weitern Auseinandersetzung. Eine
Pflichtwidrigkeit lüge aber auch schou dann vor, wenn die Schuld des Ange¬
klagten dem Verteidiger zwar nicht zweifellos, aber doch wahrscheinlich wäre;
ein streng gewissenhafter Verteidiger wird sich hier darauf beschränken, die
Mangelhaftigkeit des vorliegenden Beweises darzulegen, er wird sich aber ent¬
halten, dem Gericht "aus vollster Überzeugung" die Freisprechung des Ange¬
klagten wegen erwiesener Unschuld zu empfehle". Solange aber freilich Staats¬
anwälte ungeahndet mit Feuereifer die gewagtesten Verurteilungen vertreten,
-- wir erinnern nur um die Verfolgungen des "Korrektors" und des "Maschinen¬
meisters" ! -- solange wird man auch gegen einen Verteidiger, der eine gewagte
Freisprechung befürwortet, mit dem Borwurf der Pflichtwidrigkeit zurückhaltend
sein müssen; kommt jenem die Vermutung des guten Glaubens an die Schuld
des Angeklagten zu statten, so muß für diesen ebenso die Vermutung des guten
Glaubens an die Unschuld seines Klienten gelten.

Ist aber der Verteidiger vou der Unschuld des Angeklagten überzeugt,
oder ist ihm diese Unschuld auch nur wahrschemich, denn kaun in dem Rat
zur Verweigerung der Aussage nicht mehr von vornherein eine Pflichtverletzung
erblickt werden, ja noch mehr: es kann Fälle geben, wo dieser Rat vollkommen
Pflichtmüßig ist.

Es sind hier zunächst zwei Arten von Fällen zu unterscheiden. Das eine
mal räumt der Angeklagte dem Verteidiger gegenüber ein, die ihm zur Last
gelegte That vollbracht zu haben, bestreitet aber eine kriminelle Schuld; es ist
z- B- gegen ihn die Anklage wegen Totschlags erhoben, er räumt ein, den
Getöteten erstochen zu haben, behauptet aber, er habe in der Notwehr gehan¬
delt. Das andre mal bestreitet der Angeklagte in einer dem Verteidiger glaub¬
haften Art nicht bloß seine Schuld, sondern seine Thäterschaft.

- Betrachten wir zunächst die Fälle der ersten Art: der Angeklagte befürchtet,


Die Pflicht zu reden »ut das Recht zu schweigen

vom Angeklagten gewählte» lind dem Offizialverteidiger, d. h. dem ihm von
Amts wegen beigegebenen Verteidiger zu beachten: der Wahlverteidiger, nicht
aber der Offizialverteidiger kann und darf die Verteidigung ablehnen, die über¬
nommene niederlegen; von einer Verpflichtung zur Ablehnung oder Nieder¬
legung kann also von vornherein nur beim Wahlverteidiger die Rede sein.

Auf die Freisprechung des Angeklagten, den er schuldig weiß oder für
schuldig hält, darf weder der eine noch der audere Verteidiger antragen;
seinem Wissen um die Schuld darf er, seinem Glauben an die Schuld soll
er mindestens keinen Ausdruck geben; wie hat er sich in diesem Dilemma zu
verhalten? Hier ist wohl nur die Antwort möglich: der Wahlverteidiger hat
dem Angeklagten, der leugnen will, seinen Beistand zu versagen, der Offizial¬
verteidiger hat sich auf die Erklärung zu beschränken, daß er dem Gericht die
Entscheidung über die Schuldfrage überlasse; daß in solchem Falle der vom
einen oder vom andern Verteidiger dem Angeklagten gegebene Rat, die Aussage zu
verweigern, pflichtwidrig wäre, bedarf keiner weitern Auseinandersetzung. Eine
Pflichtwidrigkeit lüge aber auch schou dann vor, wenn die Schuld des Ange¬
klagten dem Verteidiger zwar nicht zweifellos, aber doch wahrscheinlich wäre;
ein streng gewissenhafter Verteidiger wird sich hier darauf beschränken, die
Mangelhaftigkeit des vorliegenden Beweises darzulegen, er wird sich aber ent¬
halten, dem Gericht „aus vollster Überzeugung" die Freisprechung des Ange¬
klagten wegen erwiesener Unschuld zu empfehle». Solange aber freilich Staats¬
anwälte ungeahndet mit Feuereifer die gewagtesten Verurteilungen vertreten,
— wir erinnern nur um die Verfolgungen des „Korrektors" und des „Maschinen¬
meisters" ! — solange wird man auch gegen einen Verteidiger, der eine gewagte
Freisprechung befürwortet, mit dem Borwurf der Pflichtwidrigkeit zurückhaltend
sein müssen; kommt jenem die Vermutung des guten Glaubens an die Schuld
des Angeklagten zu statten, so muß für diesen ebenso die Vermutung des guten
Glaubens an die Unschuld seines Klienten gelten.

Ist aber der Verteidiger vou der Unschuld des Angeklagten überzeugt,
oder ist ihm diese Unschuld auch nur wahrschemich, denn kaun in dem Rat
zur Verweigerung der Aussage nicht mehr von vornherein eine Pflichtverletzung
erblickt werden, ja noch mehr: es kann Fälle geben, wo dieser Rat vollkommen
Pflichtmüßig ist.

Es sind hier zunächst zwei Arten von Fällen zu unterscheiden. Das eine
mal räumt der Angeklagte dem Verteidiger gegenüber ein, die ihm zur Last
gelegte That vollbracht zu haben, bestreitet aber eine kriminelle Schuld; es ist
z- B- gegen ihn die Anklage wegen Totschlags erhoben, er räumt ein, den
Getöteten erstochen zu haben, behauptet aber, er habe in der Notwehr gehan¬
delt. Das andre mal bestreitet der Angeklagte in einer dem Verteidiger glaub¬
haften Art nicht bloß seine Schuld, sondern seine Thäterschaft.

- Betrachten wir zunächst die Fälle der ersten Art: der Angeklagte befürchtet,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211555"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Pflicht zu reden »ut das Recht zu schweigen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1162" prev="#ID_1161"> vom Angeklagten gewählte» lind dem Offizialverteidiger, d. h. dem ihm von<lb/>
Amts wegen beigegebenen Verteidiger zu beachten: der Wahlverteidiger, nicht<lb/>
aber der Offizialverteidiger kann und darf die Verteidigung ablehnen, die über¬<lb/>
nommene niederlegen; von einer Verpflichtung zur Ablehnung oder Nieder¬<lb/>
legung kann also von vornherein nur beim Wahlverteidiger die Rede sein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1163"> Auf die Freisprechung des Angeklagten, den er schuldig weiß oder für<lb/>
schuldig hält, darf weder der eine noch der audere Verteidiger antragen;<lb/>
seinem Wissen um die Schuld darf er, seinem Glauben an die Schuld soll<lb/>
er mindestens keinen Ausdruck geben; wie hat er sich in diesem Dilemma zu<lb/>
verhalten? Hier ist wohl nur die Antwort möglich: der Wahlverteidiger hat<lb/>
dem Angeklagten, der leugnen will, seinen Beistand zu versagen, der Offizial¬<lb/>
verteidiger hat sich auf die Erklärung zu beschränken, daß er dem Gericht die<lb/>
Entscheidung über die Schuldfrage überlasse; daß in solchem Falle der vom<lb/>
einen oder vom andern Verteidiger dem Angeklagten gegebene Rat, die Aussage zu<lb/>
verweigern, pflichtwidrig wäre, bedarf keiner weitern Auseinandersetzung. Eine<lb/>
Pflichtwidrigkeit lüge aber auch schou dann vor, wenn die Schuld des Ange¬<lb/>
klagten dem Verteidiger zwar nicht zweifellos, aber doch wahrscheinlich wäre;<lb/>
ein streng gewissenhafter Verteidiger wird sich hier darauf beschränken, die<lb/>
Mangelhaftigkeit des vorliegenden Beweises darzulegen, er wird sich aber ent¬<lb/>
halten, dem Gericht &#x201E;aus vollster Überzeugung" die Freisprechung des Ange¬<lb/>
klagten wegen erwiesener Unschuld zu empfehle». Solange aber freilich Staats¬<lb/>
anwälte ungeahndet mit Feuereifer die gewagtesten Verurteilungen vertreten,<lb/>
&#x2014; wir erinnern nur um die Verfolgungen des &#x201E;Korrektors" und des &#x201E;Maschinen¬<lb/>
meisters" ! &#x2014; solange wird man auch gegen einen Verteidiger, der eine gewagte<lb/>
Freisprechung befürwortet, mit dem Borwurf der Pflichtwidrigkeit zurückhaltend<lb/>
sein müssen; kommt jenem die Vermutung des guten Glaubens an die Schuld<lb/>
des Angeklagten zu statten, so muß für diesen ebenso die Vermutung des guten<lb/>
Glaubens an die Unschuld seines Klienten gelten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1164"> Ist aber der Verteidiger vou der Unschuld des Angeklagten überzeugt,<lb/>
oder ist ihm diese Unschuld auch nur wahrschemich, denn kaun in dem Rat<lb/>
zur Verweigerung der Aussage nicht mehr von vornherein eine Pflichtverletzung<lb/>
erblickt werden, ja noch mehr: es kann Fälle geben, wo dieser Rat vollkommen<lb/>
Pflichtmüßig ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1165"> Es sind hier zunächst zwei Arten von Fällen zu unterscheiden. Das eine<lb/>
mal räumt der Angeklagte dem Verteidiger gegenüber ein, die ihm zur Last<lb/>
gelegte That vollbracht zu haben, bestreitet aber eine kriminelle Schuld; es ist<lb/>
z- B- gegen ihn die Anklage wegen Totschlags erhoben, er räumt ein, den<lb/>
Getöteten erstochen zu haben, behauptet aber, er habe in der Notwehr gehan¬<lb/>
delt. Das andre mal bestreitet der Angeklagte in einer dem Verteidiger glaub¬<lb/>
haften Art nicht bloß seine Schuld, sondern seine Thäterschaft.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1166" next="#ID_1167"> - Betrachten wir zunächst die Fälle der ersten Art: der Angeklagte befürchtet,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0387] Die Pflicht zu reden »ut das Recht zu schweigen vom Angeklagten gewählte» lind dem Offizialverteidiger, d. h. dem ihm von Amts wegen beigegebenen Verteidiger zu beachten: der Wahlverteidiger, nicht aber der Offizialverteidiger kann und darf die Verteidigung ablehnen, die über¬ nommene niederlegen; von einer Verpflichtung zur Ablehnung oder Nieder¬ legung kann also von vornherein nur beim Wahlverteidiger die Rede sein. Auf die Freisprechung des Angeklagten, den er schuldig weiß oder für schuldig hält, darf weder der eine noch der audere Verteidiger antragen; seinem Wissen um die Schuld darf er, seinem Glauben an die Schuld soll er mindestens keinen Ausdruck geben; wie hat er sich in diesem Dilemma zu verhalten? Hier ist wohl nur die Antwort möglich: der Wahlverteidiger hat dem Angeklagten, der leugnen will, seinen Beistand zu versagen, der Offizial¬ verteidiger hat sich auf die Erklärung zu beschränken, daß er dem Gericht die Entscheidung über die Schuldfrage überlasse; daß in solchem Falle der vom einen oder vom andern Verteidiger dem Angeklagten gegebene Rat, die Aussage zu verweigern, pflichtwidrig wäre, bedarf keiner weitern Auseinandersetzung. Eine Pflichtwidrigkeit lüge aber auch schou dann vor, wenn die Schuld des Ange¬ klagten dem Verteidiger zwar nicht zweifellos, aber doch wahrscheinlich wäre; ein streng gewissenhafter Verteidiger wird sich hier darauf beschränken, die Mangelhaftigkeit des vorliegenden Beweises darzulegen, er wird sich aber ent¬ halten, dem Gericht „aus vollster Überzeugung" die Freisprechung des Ange¬ klagten wegen erwiesener Unschuld zu empfehle». Solange aber freilich Staats¬ anwälte ungeahndet mit Feuereifer die gewagtesten Verurteilungen vertreten, — wir erinnern nur um die Verfolgungen des „Korrektors" und des „Maschinen¬ meisters" ! — solange wird man auch gegen einen Verteidiger, der eine gewagte Freisprechung befürwortet, mit dem Borwurf der Pflichtwidrigkeit zurückhaltend sein müssen; kommt jenem die Vermutung des guten Glaubens an die Schuld des Angeklagten zu statten, so muß für diesen ebenso die Vermutung des guten Glaubens an die Unschuld seines Klienten gelten. Ist aber der Verteidiger vou der Unschuld des Angeklagten überzeugt, oder ist ihm diese Unschuld auch nur wahrschemich, denn kaun in dem Rat zur Verweigerung der Aussage nicht mehr von vornherein eine Pflichtverletzung erblickt werden, ja noch mehr: es kann Fälle geben, wo dieser Rat vollkommen Pflichtmüßig ist. Es sind hier zunächst zwei Arten von Fällen zu unterscheiden. Das eine mal räumt der Angeklagte dem Verteidiger gegenüber ein, die ihm zur Last gelegte That vollbracht zu haben, bestreitet aber eine kriminelle Schuld; es ist z- B- gegen ihn die Anklage wegen Totschlags erhoben, er räumt ein, den Getöteten erstochen zu haben, behauptet aber, er habe in der Notwehr gehan¬ delt. Das andre mal bestreitet der Angeklagte in einer dem Verteidiger glaub¬ haften Art nicht bloß seine Schuld, sondern seine Thäterschaft. - Betrachten wir zunächst die Fälle der ersten Art: der Angeklagte befürchtet,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/387
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/387>, abgerufen am 23.07.2024.