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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die sozicildemokratische Presse

entweder der Schulbildung, oder der andern drei: entweder die Armen dumm
machen, oder ihnen Besitz, eine sichere Existenz und möglichste Freiheit der
Selbsthilfe gewähren, ein drittes giebt es nicht, Otto von Leixner, den ich
übrigens sehr hoch schätze, wirft dem "Fabrikarbeiter" Göhre Unreife vor,
weil er von Veredlung der Sozialdemokratie spreche; eine durch und durch
schlechte Sache könne weder verbessert noch veredelt, sondern müsse unbedingt
"bekämpft" werden. Diese ewige Aufforderung zum Kampf, worunter man
einerseits Unterdrückung durch Zwangsmaßregeln und andrerseits Widerlegung
der sozialdemokratischen Meinungen zu verstehen scheint, beruht doch wohl auf
Unkenntnis der Lage. Die Unterdrückung der Arbeiterbewegung würde, wenn
sie gelänge, die körperliche Entartung des deutscheu Volkes zur Folge haben.
Wenn zuguderletzt der Kriegsminister Einspruch erhöbe, würde es zu spät
sein; deun bei der sehr unvollständigen Durchführung der allgemeinen Wehr¬
pflicht kann die Entartung schon sehr weit um sich fressen, ehe sie die Aus¬
hebung erschwert. Ohne die sozialdemokratische Bewegung hätten wir noch
kein einziges Gesetz für die arbeitenden Klassen, und wie wenig wirksam der
eingeführte Arbeiterschutz auch jetzt noch ist, sieht man an den Schwierigkeiten,
die dem Fabrikiuspektor Wörrishoser in Mannheim bereitet worden sind, als
er die Wahrheit der Angabe eines sozialdemokratischen Blattes untersuchen
wollte, daß in einer Fabrik, noch dazu unter gesundheitsschädlichen Umständen,
oft vierundzwanzig, zuweilen sogar sechsunddreißig Stunden hinter einander ge¬
arbeitet würde, lind was die Widerlegung anlangt, so bin ich zwar nicht
allein in philosophischer, sondern als Freund der ständischen Gliederung und
des Kleinbetriebes auch in sozialer und wirtschaftlicher Beziehung ein ganz
entschiedner Gegner der Sozialdemokratie, aber eine Polemik mit den Sozial¬
demokraten halte ich trotzdem für die einfältigste Zeitverschwendung. Die Wahl
der Weltanschauung ist ein Glaubensakt; der Glaube aber wurzelt im Willen
und läßt sich nicht audcmvstriren. Und die Ungläubigen unter den Armen
für den Glauben gewinnen, das haben zu allen Zeiten nur solche Apostel
vermocht, die über deu Verdacht erhaben waren, daß sie im Auftrage der
herrschenden Klassen kämen- Die Schönheit der ständischen Gliederung sodann
den Arbeitern zu predigen wäre geradezu albern in einer Zeit, wo die Neste
der alten Stände vollends zertreten, wo alle Leute unter 2000 Mark Ein¬
kommen, sie mögen Kaufleute oder Handwerksgesellen oder Fabrikarbeiter
oder Tagelöhner sein, aus dem natürlichen Verbände mit ihren Berufsgenossen
herausgerissen, in den Brei der Versicherungspflichtigen "Arbeitnehmer" gestopft
und gestampft und den "Arbeitgebern" als Klasse gegenübergestellt werden.
Nicht den Arbeitern, sondern den Negierungsräten muß man klar machen, wie
verderblich es ist, das Volk in zwei Klassen zu spalten, die gar nicht anders
können, als sich auf Tod und Leben bekämpfen, da ihre Interessen in un¬
versöhnlichem Gegensatze gegen einander stehen. Und am allerlächerlichsten


Die sozicildemokratische Presse

entweder der Schulbildung, oder der andern drei: entweder die Armen dumm
machen, oder ihnen Besitz, eine sichere Existenz und möglichste Freiheit der
Selbsthilfe gewähren, ein drittes giebt es nicht, Otto von Leixner, den ich
übrigens sehr hoch schätze, wirft dem „Fabrikarbeiter" Göhre Unreife vor,
weil er von Veredlung der Sozialdemokratie spreche; eine durch und durch
schlechte Sache könne weder verbessert noch veredelt, sondern müsse unbedingt
„bekämpft" werden. Diese ewige Aufforderung zum Kampf, worunter man
einerseits Unterdrückung durch Zwangsmaßregeln und andrerseits Widerlegung
der sozialdemokratischen Meinungen zu verstehen scheint, beruht doch wohl auf
Unkenntnis der Lage. Die Unterdrückung der Arbeiterbewegung würde, wenn
sie gelänge, die körperliche Entartung des deutscheu Volkes zur Folge haben.
Wenn zuguderletzt der Kriegsminister Einspruch erhöbe, würde es zu spät
sein; deun bei der sehr unvollständigen Durchführung der allgemeinen Wehr¬
pflicht kann die Entartung schon sehr weit um sich fressen, ehe sie die Aus¬
hebung erschwert. Ohne die sozialdemokratische Bewegung hätten wir noch
kein einziges Gesetz für die arbeitenden Klassen, und wie wenig wirksam der
eingeführte Arbeiterschutz auch jetzt noch ist, sieht man an den Schwierigkeiten,
die dem Fabrikiuspektor Wörrishoser in Mannheim bereitet worden sind, als
er die Wahrheit der Angabe eines sozialdemokratischen Blattes untersuchen
wollte, daß in einer Fabrik, noch dazu unter gesundheitsschädlichen Umständen,
oft vierundzwanzig, zuweilen sogar sechsunddreißig Stunden hinter einander ge¬
arbeitet würde, lind was die Widerlegung anlangt, so bin ich zwar nicht
allein in philosophischer, sondern als Freund der ständischen Gliederung und
des Kleinbetriebes auch in sozialer und wirtschaftlicher Beziehung ein ganz
entschiedner Gegner der Sozialdemokratie, aber eine Polemik mit den Sozial¬
demokraten halte ich trotzdem für die einfältigste Zeitverschwendung. Die Wahl
der Weltanschauung ist ein Glaubensakt; der Glaube aber wurzelt im Willen
und läßt sich nicht audcmvstriren. Und die Ungläubigen unter den Armen
für den Glauben gewinnen, das haben zu allen Zeiten nur solche Apostel
vermocht, die über deu Verdacht erhaben waren, daß sie im Auftrage der
herrschenden Klassen kämen- Die Schönheit der ständischen Gliederung sodann
den Arbeitern zu predigen wäre geradezu albern in einer Zeit, wo die Neste
der alten Stände vollends zertreten, wo alle Leute unter 2000 Mark Ein¬
kommen, sie mögen Kaufleute oder Handwerksgesellen oder Fabrikarbeiter
oder Tagelöhner sein, aus dem natürlichen Verbände mit ihren Berufsgenossen
herausgerissen, in den Brei der Versicherungspflichtigen „Arbeitnehmer" gestopft
und gestampft und den „Arbeitgebern" als Klasse gegenübergestellt werden.
Nicht den Arbeitern, sondern den Negierungsräten muß man klar machen, wie
verderblich es ist, das Volk in zwei Klassen zu spalten, die gar nicht anders
können, als sich auf Tod und Leben bekämpfen, da ihre Interessen in un¬
versöhnlichem Gegensatze gegen einander stehen. Und am allerlächerlichsten


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[0362] Die sozicildemokratische Presse entweder der Schulbildung, oder der andern drei: entweder die Armen dumm machen, oder ihnen Besitz, eine sichere Existenz und möglichste Freiheit der Selbsthilfe gewähren, ein drittes giebt es nicht, Otto von Leixner, den ich übrigens sehr hoch schätze, wirft dem „Fabrikarbeiter" Göhre Unreife vor, weil er von Veredlung der Sozialdemokratie spreche; eine durch und durch schlechte Sache könne weder verbessert noch veredelt, sondern müsse unbedingt „bekämpft" werden. Diese ewige Aufforderung zum Kampf, worunter man einerseits Unterdrückung durch Zwangsmaßregeln und andrerseits Widerlegung der sozialdemokratischen Meinungen zu verstehen scheint, beruht doch wohl auf Unkenntnis der Lage. Die Unterdrückung der Arbeiterbewegung würde, wenn sie gelänge, die körperliche Entartung des deutscheu Volkes zur Folge haben. Wenn zuguderletzt der Kriegsminister Einspruch erhöbe, würde es zu spät sein; deun bei der sehr unvollständigen Durchführung der allgemeinen Wehr¬ pflicht kann die Entartung schon sehr weit um sich fressen, ehe sie die Aus¬ hebung erschwert. Ohne die sozialdemokratische Bewegung hätten wir noch kein einziges Gesetz für die arbeitenden Klassen, und wie wenig wirksam der eingeführte Arbeiterschutz auch jetzt noch ist, sieht man an den Schwierigkeiten, die dem Fabrikiuspektor Wörrishoser in Mannheim bereitet worden sind, als er die Wahrheit der Angabe eines sozialdemokratischen Blattes untersuchen wollte, daß in einer Fabrik, noch dazu unter gesundheitsschädlichen Umständen, oft vierundzwanzig, zuweilen sogar sechsunddreißig Stunden hinter einander ge¬ arbeitet würde, lind was die Widerlegung anlangt, so bin ich zwar nicht allein in philosophischer, sondern als Freund der ständischen Gliederung und des Kleinbetriebes auch in sozialer und wirtschaftlicher Beziehung ein ganz entschiedner Gegner der Sozialdemokratie, aber eine Polemik mit den Sozial¬ demokraten halte ich trotzdem für die einfältigste Zeitverschwendung. Die Wahl der Weltanschauung ist ein Glaubensakt; der Glaube aber wurzelt im Willen und läßt sich nicht audcmvstriren. Und die Ungläubigen unter den Armen für den Glauben gewinnen, das haben zu allen Zeiten nur solche Apostel vermocht, die über deu Verdacht erhaben waren, daß sie im Auftrage der herrschenden Klassen kämen- Die Schönheit der ständischen Gliederung sodann den Arbeitern zu predigen wäre geradezu albern in einer Zeit, wo die Neste der alten Stände vollends zertreten, wo alle Leute unter 2000 Mark Ein¬ kommen, sie mögen Kaufleute oder Handwerksgesellen oder Fabrikarbeiter oder Tagelöhner sein, aus dem natürlichen Verbände mit ihren Berufsgenossen herausgerissen, in den Brei der Versicherungspflichtigen „Arbeitnehmer" gestopft und gestampft und den „Arbeitgebern" als Klasse gegenübergestellt werden. Nicht den Arbeitern, sondern den Negierungsräten muß man klar machen, wie verderblich es ist, das Volk in zwei Klassen zu spalten, die gar nicht anders können, als sich auf Tod und Leben bekämpfen, da ihre Interessen in un¬ versöhnlichem Gegensatze gegen einander stehen. Und am allerlächerlichsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/362>, abgerufen am 23.07.2024.