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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Joseph Joachim der Bauenidichrer

So bedeutend wie diese Volksgeschichte sind die andern Erzählungen
Joachims nicht; man schreibt nicht oft solche Universalgeschichten. Immerhin
verdienen sie als gute und anziehende Erzählungen Beachtung. Der Charakter
des Dichters bleibt sich überall treu : Bekämpfung bünerlicher Engherzigkeit;
herbe Lebensanschauung, gemildert durch eine unversiegliche Menschenliebe und
durch einen zuweilen (leider nur zuweilen) goldig aufblitzenden Humor; ver¬
traute Kenntnis des Bauernvolks in Geist und Beruf; Liebe zur Natur; eine
auffallend ruhige sachliche Darstellung, die Haltung und Sprache eines Mannes,
der über den Dingen steht, weiß, was er will, und konkret denkt, ein echter
Künstler, wenn auch mitunter etwas zu kühl und zu überlegen. Joachim ist
herb, aber beileibe kein Pessimist; er ist künstlerisch ein Realist, er verschönert
das Vauernvvlk nicht um ein Titelchen, er vermeidet alle Sentimentalität,
aber er entläßt seinen Leser auch nicht verstimmt, sein Realismus ist keine
modische Wahrmalerei. Er hat auch romantische Neigungen, und merkwürdig
ist es, wie er die Romantik des zigeunernden Wanderlebens einer zur Zeit
schon ausgestorbenen Menschengattung mit der Ruhe und Sorgfalt des klein¬
malerischen Realisten darzustellen vermag. Diese Mischung von Nüchternheit
und Phantasie bietet namentlich die Erzählung "Lorry die Heimatlose".

Der Leser kennt die Szene in Gottfried Kellers Dorfgeschichte, wo Sau
und Vroni bei Mondscheinbeleuchtung inmitten des vagirenden Volkes ihr
Hochzeitsfest feiern, und einer der vagirenden Geiger ihnen dazu aufspielt.
Dieses Volk von Hciusirem, diese schweizerischen Zigeuner, schildert Joachim
auf Grund genauer .Kenntnisse in der "Louis." Was man dem Stoffe nur
nbgewinuen kann, hat er ihm abgewonnen, ohne sich von dem Stil einer
historische" Charakteristik zu entfernen und ohne der Versuchung zu erliegen,
Phantasten phantastisch zu schildern. Mit seinem dichterischen Streben nach
Gerechtigkeit weist er auch die guten Seiten des Zigeunervolkes nach. Mit dem
Hasse gegen alle Seßhaftigkeit ist wicht alles sittliche Gefühl bei ihnen unter¬
graben. So gut wie der Bauer an seiner Familienüberlieferung festhält, so
ant pflegen auch die Heimatlosen ihre Tradition. Joachim führt uns Typen der
verschiedensten Art vor, in der Gestalt der Großmutter ein Prachtexemplar einer
durchtriebnen alten Hexe, dem es uicht an Humor fehlt. Dieses Weib versteht
sich noch meisterlich aufs Wahrsagen und Vetteln; die jüngere Generation
verliert dieses Talent und fällt der alles gleichmachenden Polizei in die Hände.
Denkt man an den humoristischen Schulmeister Varthel in den "Brüdern,"
an die Ausfälle Sylvans des Unchristen gegen die Allmacht des Staates, an
seinen Spott über die Bureaukratie, dann erkennt man die Brücke, die von
Joachim zu dem außer dem Gesetze stehenden Vagantenvolke führt; man be¬
greift, wie es einen Mann, der sich im Geiste hoch über die ihn einengendem
Schranken erhebt, dichterisch interessiren konnte, eine Geschichte der Heimatlosen
zu schreiben; ihn, den nicht ganz freiwillig seßhaften, reizte es, sich in das


Joseph Joachim der Bauenidichrer

So bedeutend wie diese Volksgeschichte sind die andern Erzählungen
Joachims nicht; man schreibt nicht oft solche Universalgeschichten. Immerhin
verdienen sie als gute und anziehende Erzählungen Beachtung. Der Charakter
des Dichters bleibt sich überall treu : Bekämpfung bünerlicher Engherzigkeit;
herbe Lebensanschauung, gemildert durch eine unversiegliche Menschenliebe und
durch einen zuweilen (leider nur zuweilen) goldig aufblitzenden Humor; ver¬
traute Kenntnis des Bauernvolks in Geist und Beruf; Liebe zur Natur; eine
auffallend ruhige sachliche Darstellung, die Haltung und Sprache eines Mannes,
der über den Dingen steht, weiß, was er will, und konkret denkt, ein echter
Künstler, wenn auch mitunter etwas zu kühl und zu überlegen. Joachim ist
herb, aber beileibe kein Pessimist; er ist künstlerisch ein Realist, er verschönert
das Vauernvvlk nicht um ein Titelchen, er vermeidet alle Sentimentalität,
aber er entläßt seinen Leser auch nicht verstimmt, sein Realismus ist keine
modische Wahrmalerei. Er hat auch romantische Neigungen, und merkwürdig
ist es, wie er die Romantik des zigeunernden Wanderlebens einer zur Zeit
schon ausgestorbenen Menschengattung mit der Ruhe und Sorgfalt des klein¬
malerischen Realisten darzustellen vermag. Diese Mischung von Nüchternheit
und Phantasie bietet namentlich die Erzählung „Lorry die Heimatlose".

Der Leser kennt die Szene in Gottfried Kellers Dorfgeschichte, wo Sau
und Vroni bei Mondscheinbeleuchtung inmitten des vagirenden Volkes ihr
Hochzeitsfest feiern, und einer der vagirenden Geiger ihnen dazu aufspielt.
Dieses Volk von Hciusirem, diese schweizerischen Zigeuner, schildert Joachim
auf Grund genauer .Kenntnisse in der „Louis." Was man dem Stoffe nur
nbgewinuen kann, hat er ihm abgewonnen, ohne sich von dem Stil einer
historische» Charakteristik zu entfernen und ohne der Versuchung zu erliegen,
Phantasten phantastisch zu schildern. Mit seinem dichterischen Streben nach
Gerechtigkeit weist er auch die guten Seiten des Zigeunervolkes nach. Mit dem
Hasse gegen alle Seßhaftigkeit ist wicht alles sittliche Gefühl bei ihnen unter¬
graben. So gut wie der Bauer an seiner Familienüberlieferung festhält, so
ant pflegen auch die Heimatlosen ihre Tradition. Joachim führt uns Typen der
verschiedensten Art vor, in der Gestalt der Großmutter ein Prachtexemplar einer
durchtriebnen alten Hexe, dem es uicht an Humor fehlt. Dieses Weib versteht
sich noch meisterlich aufs Wahrsagen und Vetteln; die jüngere Generation
verliert dieses Talent und fällt der alles gleichmachenden Polizei in die Hände.
Denkt man an den humoristischen Schulmeister Varthel in den „Brüdern,"
an die Ausfälle Sylvans des Unchristen gegen die Allmacht des Staates, an
seinen Spott über die Bureaukratie, dann erkennt man die Brücke, die von
Joachim zu dem außer dem Gesetze stehenden Vagantenvolke führt; man be¬
greift, wie es einen Mann, der sich im Geiste hoch über die ihn einengendem
Schranken erhebt, dichterisch interessiren konnte, eine Geschichte der Heimatlosen
zu schreiben; ihn, den nicht ganz freiwillig seßhaften, reizte es, sich in das


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[0357] Joseph Joachim der Bauenidichrer So bedeutend wie diese Volksgeschichte sind die andern Erzählungen Joachims nicht; man schreibt nicht oft solche Universalgeschichten. Immerhin verdienen sie als gute und anziehende Erzählungen Beachtung. Der Charakter des Dichters bleibt sich überall treu : Bekämpfung bünerlicher Engherzigkeit; herbe Lebensanschauung, gemildert durch eine unversiegliche Menschenliebe und durch einen zuweilen (leider nur zuweilen) goldig aufblitzenden Humor; ver¬ traute Kenntnis des Bauernvolks in Geist und Beruf; Liebe zur Natur; eine auffallend ruhige sachliche Darstellung, die Haltung und Sprache eines Mannes, der über den Dingen steht, weiß, was er will, und konkret denkt, ein echter Künstler, wenn auch mitunter etwas zu kühl und zu überlegen. Joachim ist herb, aber beileibe kein Pessimist; er ist künstlerisch ein Realist, er verschönert das Vauernvvlk nicht um ein Titelchen, er vermeidet alle Sentimentalität, aber er entläßt seinen Leser auch nicht verstimmt, sein Realismus ist keine modische Wahrmalerei. Er hat auch romantische Neigungen, und merkwürdig ist es, wie er die Romantik des zigeunernden Wanderlebens einer zur Zeit schon ausgestorbenen Menschengattung mit der Ruhe und Sorgfalt des klein¬ malerischen Realisten darzustellen vermag. Diese Mischung von Nüchternheit und Phantasie bietet namentlich die Erzählung „Lorry die Heimatlose". Der Leser kennt die Szene in Gottfried Kellers Dorfgeschichte, wo Sau und Vroni bei Mondscheinbeleuchtung inmitten des vagirenden Volkes ihr Hochzeitsfest feiern, und einer der vagirenden Geiger ihnen dazu aufspielt. Dieses Volk von Hciusirem, diese schweizerischen Zigeuner, schildert Joachim auf Grund genauer .Kenntnisse in der „Louis." Was man dem Stoffe nur nbgewinuen kann, hat er ihm abgewonnen, ohne sich von dem Stil einer historische» Charakteristik zu entfernen und ohne der Versuchung zu erliegen, Phantasten phantastisch zu schildern. Mit seinem dichterischen Streben nach Gerechtigkeit weist er auch die guten Seiten des Zigeunervolkes nach. Mit dem Hasse gegen alle Seßhaftigkeit ist wicht alles sittliche Gefühl bei ihnen unter¬ graben. So gut wie der Bauer an seiner Familienüberlieferung festhält, so ant pflegen auch die Heimatlosen ihre Tradition. Joachim führt uns Typen der verschiedensten Art vor, in der Gestalt der Großmutter ein Prachtexemplar einer durchtriebnen alten Hexe, dem es uicht an Humor fehlt. Dieses Weib versteht sich noch meisterlich aufs Wahrsagen und Vetteln; die jüngere Generation verliert dieses Talent und fällt der alles gleichmachenden Polizei in die Hände. Denkt man an den humoristischen Schulmeister Varthel in den „Brüdern," an die Ausfälle Sylvans des Unchristen gegen die Allmacht des Staates, an seinen Spott über die Bureaukratie, dann erkennt man die Brücke, die von Joachim zu dem außer dem Gesetze stehenden Vagantenvolke führt; man be¬ greift, wie es einen Mann, der sich im Geiste hoch über die ihn einengendem Schranken erhebt, dichterisch interessiren konnte, eine Geschichte der Heimatlosen zu schreiben; ihn, den nicht ganz freiwillig seßhaften, reizte es, sich in das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/357>, abgerufen am 23.07.2024.