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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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wahrscheinlich, daß Dürer während seines zweiten venezianischen Aufenthalts
Zeichnungen des großen Florentiners und Abschriften aus seinem Malerbuche
zu Gesicht bekommen hat, wie sie damals in den Kreisen der oberitalienischen
Künstler umliefen. Aber trotz einiger Anknüpfungspunkte sind die theoretischen
Schriften beider Künstler weit entfernt, sich zu decken. Auch die Vermittler¬
rolle, die man dem Freunde Leonardos, Fra Luca Pacioli, zusprechen will,
bringt uns nicht viel weiter. Denn die Behauptung, "der Krystallkörper mit
lauter (?) fünfwiukligen Flächen (Jkoscieder) in dein Stiche der Melancholie
geht auf Paciolis Lehre von den regelmäßigen Körpern zurück," ist schon des¬
halb unhaltbar, weil der fragliche Körper kein Jkoscieder, sondern ein an den
Polen abgestumpfter Rhomboeder ist. Wenn man bedenkt, daß damals Per¬
spektive und Propvrtivuslehre in vielen italienischen Malerschulen getrieben,
Mathematik aber auch an den Universitäten und in den Hörsälen der Wnnder-
lehrer gelehrt wurde, und daß wir im ganzen von den vordürerischen Studien
dieser Art nur sehr wenig wissen, so wird man vorläufig wohl darauf ver¬
zichten müssen, Dürers Kenntnisse dieser Art aus einer ganz bestimmten Quelle
herzuleiten, umsomehr, als ja auch diese italienischen Studien mehr oder weniger
an gemeinsame Quellen wie Vitruv und Euklid anknüpften, die natürlich ge-
wisse Übereinstimmungen von vornherein mit sich brachten. Dazu kommt, daß
Dürer selbst in Betreff seiner Prvportionsstndien ganz ausdrücklich sagt, daß
er die Anregung dazu durch Jacopo de' Barbari erhalten, sich aber daun
teils mit Hilfe des Vitruv, teils durch eigenes Studium weitergebildet
habe. "Jedoch so ich keinen fand, der da etwas beschrieben hätt von mensch¬
licher Maß zu machen, denn einen Mann Jakobus genannt, von Venedig
geborn, ein lieblicher Maler, der wies mir Mann und Weib, die er aus der
Maß gemacht hatt, daß ich auf diese Zeit lieber sehen wollt, was seine Mei¬
nung war gewest denn ein neu Königreich. . . . Denn mir wollt dieser vor¬
gemeldete Jacobus seinen Grund nicht klärlich anzeigen, das merket ich wohl
um ihm. Doch nahm ich mein eigen Ding vor mich und las den Vitruvium,
der beschreibt ein wenig von der Gliedmaß eines Manns: Also von oder aus
deu zweien obgenannten Manuel' hab ich meinen Anfang genommen und hab
darnach aus meinem Fürnehmen gesucht von Tag zu Tag." Hätten Leo¬
nardos Forschungen auf Dürer einen wesentlichen Einfluß gehabt, so würde
er seinen Namen um dieser Stelle wohl genannt haben. Weniger klar können
wir über die Quelle von Dürers perspektivischen Kenntnissen urteilen. Den
einzigen Anhalt giebt hierüber seine Bemerkung in einem der venezianischen
Briefe, er wolle, ehe er Italien verlasse, noch einen Abstecher nach Bologna
machen, "um Kunst willen in heimlicher Perspektive die mich einer lehren will."
Daraus geht wenigstens soviel hervor, daß Dürer seine perspektivischen Kennt¬
nisse weder aus Venedig noch aus dem benachbarten Padua geschöpft hat,
wenn es anch auffallend bleibt, daß an dieser Stelle gerade die Städte, deren


Grenzboten 1 1892 43

wahrscheinlich, daß Dürer während seines zweiten venezianischen Aufenthalts
Zeichnungen des großen Florentiners und Abschriften aus seinem Malerbuche
zu Gesicht bekommen hat, wie sie damals in den Kreisen der oberitalienischen
Künstler umliefen. Aber trotz einiger Anknüpfungspunkte sind die theoretischen
Schriften beider Künstler weit entfernt, sich zu decken. Auch die Vermittler¬
rolle, die man dem Freunde Leonardos, Fra Luca Pacioli, zusprechen will,
bringt uns nicht viel weiter. Denn die Behauptung, „der Krystallkörper mit
lauter (?) fünfwiukligen Flächen (Jkoscieder) in dein Stiche der Melancholie
geht auf Paciolis Lehre von den regelmäßigen Körpern zurück," ist schon des¬
halb unhaltbar, weil der fragliche Körper kein Jkoscieder, sondern ein an den
Polen abgestumpfter Rhomboeder ist. Wenn man bedenkt, daß damals Per¬
spektive und Propvrtivuslehre in vielen italienischen Malerschulen getrieben,
Mathematik aber auch an den Universitäten und in den Hörsälen der Wnnder-
lehrer gelehrt wurde, und daß wir im ganzen von den vordürerischen Studien
dieser Art nur sehr wenig wissen, so wird man vorläufig wohl darauf ver¬
zichten müssen, Dürers Kenntnisse dieser Art aus einer ganz bestimmten Quelle
herzuleiten, umsomehr, als ja auch diese italienischen Studien mehr oder weniger
an gemeinsame Quellen wie Vitruv und Euklid anknüpften, die natürlich ge-
wisse Übereinstimmungen von vornherein mit sich brachten. Dazu kommt, daß
Dürer selbst in Betreff seiner Prvportionsstndien ganz ausdrücklich sagt, daß
er die Anregung dazu durch Jacopo de' Barbari erhalten, sich aber daun
teils mit Hilfe des Vitruv, teils durch eigenes Studium weitergebildet
habe. „Jedoch so ich keinen fand, der da etwas beschrieben hätt von mensch¬
licher Maß zu machen, denn einen Mann Jakobus genannt, von Venedig
geborn, ein lieblicher Maler, der wies mir Mann und Weib, die er aus der
Maß gemacht hatt, daß ich auf diese Zeit lieber sehen wollt, was seine Mei¬
nung war gewest denn ein neu Königreich. . . . Denn mir wollt dieser vor¬
gemeldete Jacobus seinen Grund nicht klärlich anzeigen, das merket ich wohl
um ihm. Doch nahm ich mein eigen Ding vor mich und las den Vitruvium,
der beschreibt ein wenig von der Gliedmaß eines Manns: Also von oder aus
deu zweien obgenannten Manuel' hab ich meinen Anfang genommen und hab
darnach aus meinem Fürnehmen gesucht von Tag zu Tag." Hätten Leo¬
nardos Forschungen auf Dürer einen wesentlichen Einfluß gehabt, so würde
er seinen Namen um dieser Stelle wohl genannt haben. Weniger klar können
wir über die Quelle von Dürers perspektivischen Kenntnissen urteilen. Den
einzigen Anhalt giebt hierüber seine Bemerkung in einem der venezianischen
Briefe, er wolle, ehe er Italien verlasse, noch einen Abstecher nach Bologna
machen, „um Kunst willen in heimlicher Perspektive die mich einer lehren will."
Daraus geht wenigstens soviel hervor, daß Dürer seine perspektivischen Kennt¬
nisse weder aus Venedig noch aus dem benachbarten Padua geschöpft hat,
wenn es anch auffallend bleibt, daß an dieser Stelle gerade die Städte, deren


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[0345] wahrscheinlich, daß Dürer während seines zweiten venezianischen Aufenthalts Zeichnungen des großen Florentiners und Abschriften aus seinem Malerbuche zu Gesicht bekommen hat, wie sie damals in den Kreisen der oberitalienischen Künstler umliefen. Aber trotz einiger Anknüpfungspunkte sind die theoretischen Schriften beider Künstler weit entfernt, sich zu decken. Auch die Vermittler¬ rolle, die man dem Freunde Leonardos, Fra Luca Pacioli, zusprechen will, bringt uns nicht viel weiter. Denn die Behauptung, „der Krystallkörper mit lauter (?) fünfwiukligen Flächen (Jkoscieder) in dein Stiche der Melancholie geht auf Paciolis Lehre von den regelmäßigen Körpern zurück," ist schon des¬ halb unhaltbar, weil der fragliche Körper kein Jkoscieder, sondern ein an den Polen abgestumpfter Rhomboeder ist. Wenn man bedenkt, daß damals Per¬ spektive und Propvrtivuslehre in vielen italienischen Malerschulen getrieben, Mathematik aber auch an den Universitäten und in den Hörsälen der Wnnder- lehrer gelehrt wurde, und daß wir im ganzen von den vordürerischen Studien dieser Art nur sehr wenig wissen, so wird man vorläufig wohl darauf ver¬ zichten müssen, Dürers Kenntnisse dieser Art aus einer ganz bestimmten Quelle herzuleiten, umsomehr, als ja auch diese italienischen Studien mehr oder weniger an gemeinsame Quellen wie Vitruv und Euklid anknüpften, die natürlich ge- wisse Übereinstimmungen von vornherein mit sich brachten. Dazu kommt, daß Dürer selbst in Betreff seiner Prvportionsstndien ganz ausdrücklich sagt, daß er die Anregung dazu durch Jacopo de' Barbari erhalten, sich aber daun teils mit Hilfe des Vitruv, teils durch eigenes Studium weitergebildet habe. „Jedoch so ich keinen fand, der da etwas beschrieben hätt von mensch¬ licher Maß zu machen, denn einen Mann Jakobus genannt, von Venedig geborn, ein lieblicher Maler, der wies mir Mann und Weib, die er aus der Maß gemacht hatt, daß ich auf diese Zeit lieber sehen wollt, was seine Mei¬ nung war gewest denn ein neu Königreich. . . . Denn mir wollt dieser vor¬ gemeldete Jacobus seinen Grund nicht klärlich anzeigen, das merket ich wohl um ihm. Doch nahm ich mein eigen Ding vor mich und las den Vitruvium, der beschreibt ein wenig von der Gliedmaß eines Manns: Also von oder aus deu zweien obgenannten Manuel' hab ich meinen Anfang genommen und hab darnach aus meinem Fürnehmen gesucht von Tag zu Tag." Hätten Leo¬ nardos Forschungen auf Dürer einen wesentlichen Einfluß gehabt, so würde er seinen Namen um dieser Stelle wohl genannt haben. Weniger klar können wir über die Quelle von Dürers perspektivischen Kenntnissen urteilen. Den einzigen Anhalt giebt hierüber seine Bemerkung in einem der venezianischen Briefe, er wolle, ehe er Italien verlasse, noch einen Abstecher nach Bologna machen, „um Kunst willen in heimlicher Perspektive die mich einer lehren will." Daraus geht wenigstens soviel hervor, daß Dürer seine perspektivischen Kennt¬ nisse weder aus Venedig noch aus dem benachbarten Padua geschöpft hat, wenn es anch auffallend bleibt, daß an dieser Stelle gerade die Städte, deren Grenzboten 1 1892 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/345>, abgerufen am 23.07.2024.