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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Nordwestafrika und die transsccharische Bahn

dieses alten kranken Staates, dessen Schwäche es besser auszubeuten versteht,
als irgend eine andre Macht."

^ In Ägypten schien der plötzliche Tod des Khediven Mehmet Tewfik Pascha
Verwicklungen ernster Art herbeizuführen. Die Franzosen glaubten nun den
Zeitpunkt gekommen, wo sie etwas gegen die verhaßte Schutzherrschast der
Engländer unternehmen könnten. Doch hat hier der eben mündig gewordene
Abbas den väterlichen Thron am 15. Januar bestiegen, und das jugendliche
Alter des Thronfolgers wird England guten Grund zur Verlängerung der
Besetzung geben.

Hier wie dort haben sich diesmal die Verhältnisse ruhig geordnet,
doch wird den beiden Staaten unausgesetzt besondre Aufmerksamkeit von
England und den Mittelmeermächten gewidmet werden. Namentlich dürften
in Marokko Verwicklungen ernsterer Art bevorstehen, wenn der seit 1873
regierende Sultan Mutes Hassan stürbe, denn hier übt keine Macht so be¬
herrschenden Einfluß aus wie England in Ägypten; dann ist auch die Erb¬
folge hier nicht so geregelt. Sprach es doch auch Lord Scilisbury offen in
einer Wahlrede zu Glasgow am 20. Mai 1891 aus: Früher oder später wird
Marokko eine ebenso große Bedrohung des europäischen Friedens werden, wie
es die mohammedanischen Gemeinwesen weiter im Osten vor zwanzig und
dreißig Jahren waren.

Welches Interesse können nun England, Spanien und Frankreich an
diesem Reiche haben, das es bisher am besten von allen mohammedanischen
Staaten verstanden hat, sich europäischem Einfluß zu entziehen?

Für England hat das Land und besonders Tanger und Umgegend große
Bedeutung, da ja sein Besitz England vollständig zum Herrn der Straße von
Gibraltar, des Schlüssels zum Wege nach Ostindien, machen würde. Und es
ist bemerkenswert genug, daß jüngst der konservative 8eg,u6g,rei eine Betrach¬
tung anstellte über die Erwerbung Tangers durch England.

Spanien glaubt die begründetsten Ansprüche auf Marokko zu haben, erstens
wegen seiner Nachbarschaft, sodann wegen seiner jahrhundertelangen Beziehungen.
Stehen doch die Spanier schon mit einem Fuße im Lande, denn sie besitzen
an der Nordküste die einst von dem König Johann den Mauren abgenommenen
Presidios, darunter das starkbefestigte Ceuta. An der marokkanischen Küste
haben sie außerdem einige Inseln besetzt, die sie meist als Strafkolonien be¬
nutzen, und schließlich sind die im Lande ansässigen Europäer zum großen
Teile Spanier. Besonders zahlreich sitzen sie in Tanger und Tetuan, wo sie
sich vor allem mit .Korkschneiderei befassen.

Den Franzosen, den östlichen Nachbarn, erscheint Marokko als ein sehr
erstrebenswertes Ziel, denn erstens ist es fast doppelt so groß als Algier,
sodann ist es aber auch viel fruchtbarer und wasserreicher; besonders gilt dies
von der großen Ebene El Gharb. Schon seit längerer Zeit lebt Frankreich


Nordwestafrika und die transsccharische Bahn

dieses alten kranken Staates, dessen Schwäche es besser auszubeuten versteht,
als irgend eine andre Macht."

^ In Ägypten schien der plötzliche Tod des Khediven Mehmet Tewfik Pascha
Verwicklungen ernster Art herbeizuführen. Die Franzosen glaubten nun den
Zeitpunkt gekommen, wo sie etwas gegen die verhaßte Schutzherrschast der
Engländer unternehmen könnten. Doch hat hier der eben mündig gewordene
Abbas den väterlichen Thron am 15. Januar bestiegen, und das jugendliche
Alter des Thronfolgers wird England guten Grund zur Verlängerung der
Besetzung geben.

Hier wie dort haben sich diesmal die Verhältnisse ruhig geordnet,
doch wird den beiden Staaten unausgesetzt besondre Aufmerksamkeit von
England und den Mittelmeermächten gewidmet werden. Namentlich dürften
in Marokko Verwicklungen ernsterer Art bevorstehen, wenn der seit 1873
regierende Sultan Mutes Hassan stürbe, denn hier übt keine Macht so be¬
herrschenden Einfluß aus wie England in Ägypten; dann ist auch die Erb¬
folge hier nicht so geregelt. Sprach es doch auch Lord Scilisbury offen in
einer Wahlrede zu Glasgow am 20. Mai 1891 aus: Früher oder später wird
Marokko eine ebenso große Bedrohung des europäischen Friedens werden, wie
es die mohammedanischen Gemeinwesen weiter im Osten vor zwanzig und
dreißig Jahren waren.

Welches Interesse können nun England, Spanien und Frankreich an
diesem Reiche haben, das es bisher am besten von allen mohammedanischen
Staaten verstanden hat, sich europäischem Einfluß zu entziehen?

Für England hat das Land und besonders Tanger und Umgegend große
Bedeutung, da ja sein Besitz England vollständig zum Herrn der Straße von
Gibraltar, des Schlüssels zum Wege nach Ostindien, machen würde. Und es
ist bemerkenswert genug, daß jüngst der konservative 8eg,u6g,rei eine Betrach¬
tung anstellte über die Erwerbung Tangers durch England.

Spanien glaubt die begründetsten Ansprüche auf Marokko zu haben, erstens
wegen seiner Nachbarschaft, sodann wegen seiner jahrhundertelangen Beziehungen.
Stehen doch die Spanier schon mit einem Fuße im Lande, denn sie besitzen
an der Nordküste die einst von dem König Johann den Mauren abgenommenen
Presidios, darunter das starkbefestigte Ceuta. An der marokkanischen Küste
haben sie außerdem einige Inseln besetzt, die sie meist als Strafkolonien be¬
nutzen, und schließlich sind die im Lande ansässigen Europäer zum großen
Teile Spanier. Besonders zahlreich sitzen sie in Tanger und Tetuan, wo sie
sich vor allem mit .Korkschneiderei befassen.

Den Franzosen, den östlichen Nachbarn, erscheint Marokko als ein sehr
erstrebenswertes Ziel, denn erstens ist es fast doppelt so groß als Algier,
sodann ist es aber auch viel fruchtbarer und wasserreicher; besonders gilt dies
von der großen Ebene El Gharb. Schon seit längerer Zeit lebt Frankreich


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[0322] Nordwestafrika und die transsccharische Bahn dieses alten kranken Staates, dessen Schwäche es besser auszubeuten versteht, als irgend eine andre Macht." ^ In Ägypten schien der plötzliche Tod des Khediven Mehmet Tewfik Pascha Verwicklungen ernster Art herbeizuführen. Die Franzosen glaubten nun den Zeitpunkt gekommen, wo sie etwas gegen die verhaßte Schutzherrschast der Engländer unternehmen könnten. Doch hat hier der eben mündig gewordene Abbas den väterlichen Thron am 15. Januar bestiegen, und das jugendliche Alter des Thronfolgers wird England guten Grund zur Verlängerung der Besetzung geben. Hier wie dort haben sich diesmal die Verhältnisse ruhig geordnet, doch wird den beiden Staaten unausgesetzt besondre Aufmerksamkeit von England und den Mittelmeermächten gewidmet werden. Namentlich dürften in Marokko Verwicklungen ernsterer Art bevorstehen, wenn der seit 1873 regierende Sultan Mutes Hassan stürbe, denn hier übt keine Macht so be¬ herrschenden Einfluß aus wie England in Ägypten; dann ist auch die Erb¬ folge hier nicht so geregelt. Sprach es doch auch Lord Scilisbury offen in einer Wahlrede zu Glasgow am 20. Mai 1891 aus: Früher oder später wird Marokko eine ebenso große Bedrohung des europäischen Friedens werden, wie es die mohammedanischen Gemeinwesen weiter im Osten vor zwanzig und dreißig Jahren waren. Welches Interesse können nun England, Spanien und Frankreich an diesem Reiche haben, das es bisher am besten von allen mohammedanischen Staaten verstanden hat, sich europäischem Einfluß zu entziehen? Für England hat das Land und besonders Tanger und Umgegend große Bedeutung, da ja sein Besitz England vollständig zum Herrn der Straße von Gibraltar, des Schlüssels zum Wege nach Ostindien, machen würde. Und es ist bemerkenswert genug, daß jüngst der konservative 8eg,u6g,rei eine Betrach¬ tung anstellte über die Erwerbung Tangers durch England. Spanien glaubt die begründetsten Ansprüche auf Marokko zu haben, erstens wegen seiner Nachbarschaft, sodann wegen seiner jahrhundertelangen Beziehungen. Stehen doch die Spanier schon mit einem Fuße im Lande, denn sie besitzen an der Nordküste die einst von dem König Johann den Mauren abgenommenen Presidios, darunter das starkbefestigte Ceuta. An der marokkanischen Küste haben sie außerdem einige Inseln besetzt, die sie meist als Strafkolonien be¬ nutzen, und schließlich sind die im Lande ansässigen Europäer zum großen Teile Spanier. Besonders zahlreich sitzen sie in Tanger und Tetuan, wo sie sich vor allem mit .Korkschneiderei befassen. Den Franzosen, den östlichen Nachbarn, erscheint Marokko als ein sehr erstrebenswertes Ziel, denn erstens ist es fast doppelt so groß als Algier, sodann ist es aber auch viel fruchtbarer und wasserreicher; besonders gilt dies von der großen Ebene El Gharb. Schon seit längerer Zeit lebt Frankreich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/322>, abgerufen am 23.07.2024.