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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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eine wirklich lebendige Sprache war, die man wesentlich aus der Praxis, nicht
aus Grammatiker lernte. Dies Unterrichtssystem fand dann seine vollständige
Durchbildung auf den französischen und englischen Universitäten, die seit dem
Beginne des dreizehnten Jahrhunderts aus Privatschulen neben, nicht aus den
kirchlichen Anstalten erwuchsen, aber allerdings recht eigentlich zur Vertei¬
digung der Kirchenlehre begründet wurden. Obwohl Deutschland erst mehr
als ein Jahrhundert später selbständige Hochschulen erhielt, so ergriff doch
die französische Scholastik rasch auch die deutschen geistlichen Schulen, denn
ihre Lehrer holten mittelbar oder unmittelbar aus Fraukreich ihre Bildung;
Paris war die große Zentralschule des ganzen Abendlandes.

Zu derselben Zeit bildete sich das Rittertum ebenfalls, nach französischem
Muster, als eine Genossenschaft zum Dienste der Kirche, des Lehnsherrn und
der Frauen. Aus diesen Anschauungen erwuchs zum erstenmale unter der
Herrschaft des Christentums eine reiche Dichtung in der Volkssprache. Doch
während die Kirche die Weltflucht predigte, wollte das Rittertum die Welt-
verklürung. Unmöglich also konnte die Ritterschaft ihrer Jugend eine Erziehung
geben, wie sie die geistlichen Schulen boten, vielmehr blieb die ritterliche Aus¬
bildung rein praktisch und schriftlos; die Kenntnis des Schreibens und Lesens,
die der einfachste Mönch besaß, galt selbst dem ritterlichen Dichter nicht als
unbedingt erforderlich. Dagegen beweist der Eiser, den man auf die Erlernung
des Französischen verwandte, daß sich der deutsche Ritterstand als Glied einer
allgemeinen abendländischen Genossenschaft fühlte.

Die bisherige wirtschaftliche Jsolirung der Nation verschwand unter dem
Einfluß derselben Bewegung, die durch das Rittertum hervorgerufen wurde,
der Kreuzzüge. Seit der Wende des 12. und 13. Jahrhunderts trat Deutsch-
land in den Welthandel ein, mit reißender Schnelligkeit gestalteten sich die wirt¬
schaftlichen Verhültnisfe um, die Geldwirtschaft begann die alte Naturalwirtschaft
zu verdrängen, es entstand ein selbständiges, freies Handwerk, ein weltum¬
spannender Handel, und der Träger aller dieser Veränderungen wurde ein
neuer Stand, das Bürgertum, ihr Schauplatz wurden die Städte unter der
Selbstverwaltung ihres kaufmännischen und grundbesitzenden Patriziats. Als
das Rittertum von seiner Höhe herabgesunken war, als das Kaisertum und
mit ihm die Einheit der Nation zusammenbrach, war mindestens das West- und
norddeutsche Bürgertum vollkommen ausgebildet.

Eine verwickelte Verwaltung wie die einer größern Stadt und eine schwie¬
rigere kaufmännische Rechnung ließ sich nur schriftlich führen und setzte über¬
haupt einen höhern Bildungsgrad voraus. Die rein praktische Ausbildung
der frühern Zeit genügte also nicht mehr, mindestens die leitenden Elemente
des Bürgerstandes bedurften einer gewissen wissenschaftlichen Schulung. Da¬
her entstanden überall da, wo geistliche Anstalten fehlten oder wo das Bürger¬
tum besonders kräftig war, Stadtschulen, d. h. Anstalten nicht unter dem


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eine wirklich lebendige Sprache war, die man wesentlich aus der Praxis, nicht
aus Grammatiker lernte. Dies Unterrichtssystem fand dann seine vollständige
Durchbildung auf den französischen und englischen Universitäten, die seit dem
Beginne des dreizehnten Jahrhunderts aus Privatschulen neben, nicht aus den
kirchlichen Anstalten erwuchsen, aber allerdings recht eigentlich zur Vertei¬
digung der Kirchenlehre begründet wurden. Obwohl Deutschland erst mehr
als ein Jahrhundert später selbständige Hochschulen erhielt, so ergriff doch
die französische Scholastik rasch auch die deutschen geistlichen Schulen, denn
ihre Lehrer holten mittelbar oder unmittelbar aus Fraukreich ihre Bildung;
Paris war die große Zentralschule des ganzen Abendlandes.

Zu derselben Zeit bildete sich das Rittertum ebenfalls, nach französischem
Muster, als eine Genossenschaft zum Dienste der Kirche, des Lehnsherrn und
der Frauen. Aus diesen Anschauungen erwuchs zum erstenmale unter der
Herrschaft des Christentums eine reiche Dichtung in der Volkssprache. Doch
während die Kirche die Weltflucht predigte, wollte das Rittertum die Welt-
verklürung. Unmöglich also konnte die Ritterschaft ihrer Jugend eine Erziehung
geben, wie sie die geistlichen Schulen boten, vielmehr blieb die ritterliche Aus¬
bildung rein praktisch und schriftlos; die Kenntnis des Schreibens und Lesens,
die der einfachste Mönch besaß, galt selbst dem ritterlichen Dichter nicht als
unbedingt erforderlich. Dagegen beweist der Eiser, den man auf die Erlernung
des Französischen verwandte, daß sich der deutsche Ritterstand als Glied einer
allgemeinen abendländischen Genossenschaft fühlte.

Die bisherige wirtschaftliche Jsolirung der Nation verschwand unter dem
Einfluß derselben Bewegung, die durch das Rittertum hervorgerufen wurde,
der Kreuzzüge. Seit der Wende des 12. und 13. Jahrhunderts trat Deutsch-
land in den Welthandel ein, mit reißender Schnelligkeit gestalteten sich die wirt¬
schaftlichen Verhültnisfe um, die Geldwirtschaft begann die alte Naturalwirtschaft
zu verdrängen, es entstand ein selbständiges, freies Handwerk, ein weltum¬
spannender Handel, und der Träger aller dieser Veränderungen wurde ein
neuer Stand, das Bürgertum, ihr Schauplatz wurden die Städte unter der
Selbstverwaltung ihres kaufmännischen und grundbesitzenden Patriziats. Als
das Rittertum von seiner Höhe herabgesunken war, als das Kaisertum und
mit ihm die Einheit der Nation zusammenbrach, war mindestens das West- und
norddeutsche Bürgertum vollkommen ausgebildet.

Eine verwickelte Verwaltung wie die einer größern Stadt und eine schwie¬
rigere kaufmännische Rechnung ließ sich nur schriftlich führen und setzte über¬
haupt einen höhern Bildungsgrad voraus. Die rein praktische Ausbildung
der frühern Zeit genügte also nicht mehr, mindestens die leitenden Elemente
des Bürgerstandes bedurften einer gewissen wissenschaftlichen Schulung. Da¬
her entstanden überall da, wo geistliche Anstalten fehlten oder wo das Bürger¬
tum besonders kräftig war, Stadtschulen, d. h. Anstalten nicht unter dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/289>, abgerufen am 23.07.2024.