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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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überflüssige Beschäftigung, die noch dazu die Arbeitszeit und -Lust nicht aus¬
füllt, ein Gefühl der Leere erzeugt, das je mit der Bedeutung und dein Werte
der Persönlichkeit wachsen u>uß. Es kommt ferner hinzu, daß in Wirklichkeit
nur die unbesoldete Arbeit der fast 2000 Assessoren an viele" Orte" die einiger¬
maßen prompte Erledigung aller Geschäfte ermöglicht, da, wie wir schon be¬
merkten, zahlreiche Gerichte etatsmäßig so schwach besetzt sind, daß sie den
regelmäßigen Dienst nicht bewältigen können, wenn nicht anderweite Hilfe
zugreift. So kommt es, daß sich immer mehr die Ansicht verbreitet, daß auf
diese Weise die definitive Anstellung geradezu künstlich hintnngehalten werde.
Diese Ansicht findet ja auch ihre Bestätigung, wenn man die Vermehrung der
Bevölkerung innerhalb der letzten zwölf Jahre mit der Vermehrung der Richter¬
stellen vergleicht. Sind doch zur Zeit allein bei dem Amtsgericht I in Berlin
neben 113 etatsmäßigen Richtern 44 Assessoren thätig, von denen die volle
Hälfte nicht vertretungsweise, sondern selbständig organisirte Dezernate und
Abteilungen versieht, also Arbeiten leistet, die einzig von etatsmäßig und auf
Lebenszeit nnabsetzlich angestellte" Richtern, nicht von stehende" Hilfsarbeiter"
erledigt werden sollte", ein Punkt, der sogar verfassungsmäßig im höchsten
Grade bedenklich werden kann. Und der neue Etat sür 1892/93 weist trotz
des nachgewiesene" Notstandes der Rechtspflege in der Hauptstadt sage
und schreibe drei (!) neu kreirte Amtsrichterstellen ans, obwohl der Minister
erst jüngst wieder Anlaß genommen hat, Beschleunigung bei Erledigung nament¬
lich von Strafsachen zu verlangen. Und was die "Unabhängigkeit" der Ge¬
richte angeht, so "lag nur darauf hingewiesen sei", daß am Kammergericht,
also einer Art preußischen obersten Landesgerichts, die "Hilfsrichter," die ans
Zeit einberufen sind, jedoch absolut uuabkönunlichen Senaten zugeteilt sind,
sich bereits bald auf Dutzende belaufen. Das sind Dinge, die doch endlich im
Landtage zur Sprache gebracht werden sollten, zumal da sie sich bei politischen
und verwandten Prozessen doch unter Umstände" recht fühlbar machen konnte".
Während die Volkszahl der Gerichtssprengel oft um Hunderttausende zuge¬
nommen hat, ist die Zahl der Richter entweder dieselbe geblieben oder so
unbedeutend vergrößert worden. Daß auch die Besoldung der Assessoren, die
mit Kommissorien bedacht werden, im Vergleich zu andern Ressorts und
unter Berücksichtigung der Bedürfnisse selbst der einfachsten Lebensführung
völlig unzulänglich ist, mag nnr nebenher bemerkt werden.

Endlich erheben auch die Referendare berechtigte Klagen. Alles, was
bisher gesagt ist, gilt in gewissem Siime much von ihnen und vor allem von
der Absicht, schon in ihnen nach Möglichkeit jede Selbständigkeit zu unter¬
drücken. Dazu kommt, daß wirklich juristisch-pädagogisch begabte Richter eine
außerordentliche Seltenheit sind, daß fähigere Köpfe unter den Referendaren
oft ohne jede gediegene Anleitung bleiben. Und auch daß ihre Kräfte oft zur
Ersparung von Gerichtsschreiberu ausgenutzt werden, ist ein Mißbrauch, der


überflüssige Beschäftigung, die noch dazu die Arbeitszeit und -Lust nicht aus¬
füllt, ein Gefühl der Leere erzeugt, das je mit der Bedeutung und dein Werte
der Persönlichkeit wachsen u>uß. Es kommt ferner hinzu, daß in Wirklichkeit
nur die unbesoldete Arbeit der fast 2000 Assessoren an viele» Orte» die einiger¬
maßen prompte Erledigung aller Geschäfte ermöglicht, da, wie wir schon be¬
merkten, zahlreiche Gerichte etatsmäßig so schwach besetzt sind, daß sie den
regelmäßigen Dienst nicht bewältigen können, wenn nicht anderweite Hilfe
zugreift. So kommt es, daß sich immer mehr die Ansicht verbreitet, daß auf
diese Weise die definitive Anstellung geradezu künstlich hintnngehalten werde.
Diese Ansicht findet ja auch ihre Bestätigung, wenn man die Vermehrung der
Bevölkerung innerhalb der letzten zwölf Jahre mit der Vermehrung der Richter¬
stellen vergleicht. Sind doch zur Zeit allein bei dem Amtsgericht I in Berlin
neben 113 etatsmäßigen Richtern 44 Assessoren thätig, von denen die volle
Hälfte nicht vertretungsweise, sondern selbständig organisirte Dezernate und
Abteilungen versieht, also Arbeiten leistet, die einzig von etatsmäßig und auf
Lebenszeit nnabsetzlich angestellte» Richtern, nicht von stehende» Hilfsarbeiter»
erledigt werden sollte», ein Punkt, der sogar verfassungsmäßig im höchsten
Grade bedenklich werden kann. Und der neue Etat sür 1892/93 weist trotz
des nachgewiesene» Notstandes der Rechtspflege in der Hauptstadt sage
und schreibe drei (!) neu kreirte Amtsrichterstellen ans, obwohl der Minister
erst jüngst wieder Anlaß genommen hat, Beschleunigung bei Erledigung nament¬
lich von Strafsachen zu verlangen. Und was die „Unabhängigkeit" der Ge¬
richte angeht, so »lag nur darauf hingewiesen sei», daß am Kammergericht,
also einer Art preußischen obersten Landesgerichts, die „Hilfsrichter," die ans
Zeit einberufen sind, jedoch absolut uuabkönunlichen Senaten zugeteilt sind,
sich bereits bald auf Dutzende belaufen. Das sind Dinge, die doch endlich im
Landtage zur Sprache gebracht werden sollten, zumal da sie sich bei politischen
und verwandten Prozessen doch unter Umstände» recht fühlbar machen konnte».
Während die Volkszahl der Gerichtssprengel oft um Hunderttausende zuge¬
nommen hat, ist die Zahl der Richter entweder dieselbe geblieben oder so
unbedeutend vergrößert worden. Daß auch die Besoldung der Assessoren, die
mit Kommissorien bedacht werden, im Vergleich zu andern Ressorts und
unter Berücksichtigung der Bedürfnisse selbst der einfachsten Lebensführung
völlig unzulänglich ist, mag nnr nebenher bemerkt werden.

Endlich erheben auch die Referendare berechtigte Klagen. Alles, was
bisher gesagt ist, gilt in gewissem Siime much von ihnen und vor allem von
der Absicht, schon in ihnen nach Möglichkeit jede Selbständigkeit zu unter¬
drücken. Dazu kommt, daß wirklich juristisch-pädagogisch begabte Richter eine
außerordentliche Seltenheit sind, daß fähigere Köpfe unter den Referendaren
oft ohne jede gediegene Anleitung bleiben. Und auch daß ihre Kräfte oft zur
Ersparung von Gerichtsschreiberu ausgenutzt werden, ist ein Mißbrauch, der


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[0284] überflüssige Beschäftigung, die noch dazu die Arbeitszeit und -Lust nicht aus¬ füllt, ein Gefühl der Leere erzeugt, das je mit der Bedeutung und dein Werte der Persönlichkeit wachsen u>uß. Es kommt ferner hinzu, daß in Wirklichkeit nur die unbesoldete Arbeit der fast 2000 Assessoren an viele» Orte» die einiger¬ maßen prompte Erledigung aller Geschäfte ermöglicht, da, wie wir schon be¬ merkten, zahlreiche Gerichte etatsmäßig so schwach besetzt sind, daß sie den regelmäßigen Dienst nicht bewältigen können, wenn nicht anderweite Hilfe zugreift. So kommt es, daß sich immer mehr die Ansicht verbreitet, daß auf diese Weise die definitive Anstellung geradezu künstlich hintnngehalten werde. Diese Ansicht findet ja auch ihre Bestätigung, wenn man die Vermehrung der Bevölkerung innerhalb der letzten zwölf Jahre mit der Vermehrung der Richter¬ stellen vergleicht. Sind doch zur Zeit allein bei dem Amtsgericht I in Berlin neben 113 etatsmäßigen Richtern 44 Assessoren thätig, von denen die volle Hälfte nicht vertretungsweise, sondern selbständig organisirte Dezernate und Abteilungen versieht, also Arbeiten leistet, die einzig von etatsmäßig und auf Lebenszeit nnabsetzlich angestellte» Richtern, nicht von stehende» Hilfsarbeiter» erledigt werden sollte», ein Punkt, der sogar verfassungsmäßig im höchsten Grade bedenklich werden kann. Und der neue Etat sür 1892/93 weist trotz des nachgewiesene» Notstandes der Rechtspflege in der Hauptstadt sage und schreibe drei (!) neu kreirte Amtsrichterstellen ans, obwohl der Minister erst jüngst wieder Anlaß genommen hat, Beschleunigung bei Erledigung nament¬ lich von Strafsachen zu verlangen. Und was die „Unabhängigkeit" der Ge¬ richte angeht, so »lag nur darauf hingewiesen sei», daß am Kammergericht, also einer Art preußischen obersten Landesgerichts, die „Hilfsrichter," die ans Zeit einberufen sind, jedoch absolut uuabkönunlichen Senaten zugeteilt sind, sich bereits bald auf Dutzende belaufen. Das sind Dinge, die doch endlich im Landtage zur Sprache gebracht werden sollten, zumal da sie sich bei politischen und verwandten Prozessen doch unter Umstände» recht fühlbar machen konnte». Während die Volkszahl der Gerichtssprengel oft um Hunderttausende zuge¬ nommen hat, ist die Zahl der Richter entweder dieselbe geblieben oder so unbedeutend vergrößert worden. Daß auch die Besoldung der Assessoren, die mit Kommissorien bedacht werden, im Vergleich zu andern Ressorts und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse selbst der einfachsten Lebensführung völlig unzulänglich ist, mag nnr nebenher bemerkt werden. Endlich erheben auch die Referendare berechtigte Klagen. Alles, was bisher gesagt ist, gilt in gewissem Siime much von ihnen und vor allem von der Absicht, schon in ihnen nach Möglichkeit jede Selbständigkeit zu unter¬ drücken. Dazu kommt, daß wirklich juristisch-pädagogisch begabte Richter eine außerordentliche Seltenheit sind, daß fähigere Köpfe unter den Referendaren oft ohne jede gediegene Anleitung bleiben. Und auch daß ihre Kräfte oft zur Ersparung von Gerichtsschreiberu ausgenutzt werden, ist ein Mißbrauch, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/284>, abgerufen am 23.07.2024.