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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die kritische Schreckensherrschaft

Kleinheit nicht viel Zeit braucht, es vollkommen auszufüllen. Ist dies ein¬
mal geschehen, so hört in dem betreffenden Gehirn jede Selbstbeherrschung auf.
Der Inhaber eiues solchen Gehirns ist im wahren Sinne des Wortes ein
besessener Mensch. Etwas, was nicht zu ihm gehört, ein ungeheuerlicher Para¬
sit, ein fremdartiger, zu seinen bisherigen Anschauungen nicht in dem richtigen
Verhältnis stehender Gedanke lebt in seinem Kopfe, entwickelt sich dort und weckt
die bösen Begierden, die in ihm latent sind." Wie der echte Schrecken tritt
auch unsere kritische Schreckensherrschaft auf. Eine allgemeine, völlig vage
Idee von der notwendigen Erneuerung der Kunst, von einer großen Um¬
wälzung, die angeblich der Natur zum Rechte verhelfen soll und einstweilen die
niedrigste Unnatur auf den Thron setzt, hat sich in gewissen Köpfen zu einem
fanatischen Glaubensbekenntnis verhärtet. Sie ist auf keinen Widerstand ge¬
stoßen, weil die Apostel der neuen Lehre durch die Kenntnis nicht beschwert
wurden, daß die neue Idee schon hundertmal erfrischend und erhebend und
hundert andremale zerstörend und verwirrend in der Geschichte der Kunst
und der Dichtung gewirkt hat, je nachdem die Naturen waren, in die ihr
Funke fiel. Sie ist diesmal, wenigstens bei uns in Deutschland, von keinen
schöpferischen Menschen, keinen lcbenerfüllten Naturen aufgenommen worden, da¬
für hat sie einen Schwarm unklarer und von brennendem Ehrgeiz erfüllter,
von der Effekt- und Ersolgsncht nervös erregter Gehirne verwirrt, hat ihre
Jünger zu Besessenen gemacht, die nach Wirklichkeit schreien, aber als Wirk¬
lichkeit ein für allemal nichts gelten lassen, was nicht Kohlstrunkfeld, Trocken¬
platz oder Pfütze, was nicht Schmutz, Greuel und Krankheit ist. Der unge-
heuerliche Parasit einer Lebensschilderung, die jeder normalen und gesunden
Erscheinung aus dem Wege geht und nur Abnormitäten kennt, einer
Lebensauffassung, wonach die Kultur in neuen Sensationen der Nerven gipfelt,
hat sich bei nur allzuvielen der "Modernen" entwickelt und böse Begierden
geweckt, die nicht einmal latent waren, die aber wenigstens von einem Reste
deutschen Schamgefühls etwas gezügelt und gelegentlich erstickt wurden.

Wie weit die neueste Kunst und Litteratur die Geschäfte des Anarchismus
besorgt, haben wir hier nicht zu untersuchen. Einer und der andre der "Mo¬
dernen" möchte geneigt sein, mit ruhiger Aufrichtigkeit zu erwidern, daß die
Litteratur von jeher das Vorrecht gehabt habe, die Zukunft vorwegzunehmen,
daß die Zukunft Europas die Anarchie sei und die verschenken neuesten Rich¬
tungen nnr als Sturmvögel der kommenden Zeiten betrachtet werden müßten.
Da wir vor der Hand noch nicht so weit sind, sucht man uns wenigstens
durch ein Stuck Schreckensherrschaft in Zeitungen und Wochenblättern an die
künftige Herrlichkeit zu gewöhnen. Es wird, gleichsam vor ernsteren Dingen, im
Spiel die Probe gemacht, wie viele Faustschlüge ins Antlitz hinein und Fu߬
tritte die Bildung unsrer Tage ertragen könne. Der rhätische Bauer, der den
Edelmann, der ihm in die Schüssel spuckte, mit dem Kopf in den kochenden


Die kritische Schreckensherrschaft

Kleinheit nicht viel Zeit braucht, es vollkommen auszufüllen. Ist dies ein¬
mal geschehen, so hört in dem betreffenden Gehirn jede Selbstbeherrschung auf.
Der Inhaber eiues solchen Gehirns ist im wahren Sinne des Wortes ein
besessener Mensch. Etwas, was nicht zu ihm gehört, ein ungeheuerlicher Para¬
sit, ein fremdartiger, zu seinen bisherigen Anschauungen nicht in dem richtigen
Verhältnis stehender Gedanke lebt in seinem Kopfe, entwickelt sich dort und weckt
die bösen Begierden, die in ihm latent sind." Wie der echte Schrecken tritt
auch unsere kritische Schreckensherrschaft auf. Eine allgemeine, völlig vage
Idee von der notwendigen Erneuerung der Kunst, von einer großen Um¬
wälzung, die angeblich der Natur zum Rechte verhelfen soll und einstweilen die
niedrigste Unnatur auf den Thron setzt, hat sich in gewissen Köpfen zu einem
fanatischen Glaubensbekenntnis verhärtet. Sie ist auf keinen Widerstand ge¬
stoßen, weil die Apostel der neuen Lehre durch die Kenntnis nicht beschwert
wurden, daß die neue Idee schon hundertmal erfrischend und erhebend und
hundert andremale zerstörend und verwirrend in der Geschichte der Kunst
und der Dichtung gewirkt hat, je nachdem die Naturen waren, in die ihr
Funke fiel. Sie ist diesmal, wenigstens bei uns in Deutschland, von keinen
schöpferischen Menschen, keinen lcbenerfüllten Naturen aufgenommen worden, da¬
für hat sie einen Schwarm unklarer und von brennendem Ehrgeiz erfüllter,
von der Effekt- und Ersolgsncht nervös erregter Gehirne verwirrt, hat ihre
Jünger zu Besessenen gemacht, die nach Wirklichkeit schreien, aber als Wirk¬
lichkeit ein für allemal nichts gelten lassen, was nicht Kohlstrunkfeld, Trocken¬
platz oder Pfütze, was nicht Schmutz, Greuel und Krankheit ist. Der unge-
heuerliche Parasit einer Lebensschilderung, die jeder normalen und gesunden
Erscheinung aus dem Wege geht und nur Abnormitäten kennt, einer
Lebensauffassung, wonach die Kultur in neuen Sensationen der Nerven gipfelt,
hat sich bei nur allzuvielen der „Modernen" entwickelt und böse Begierden
geweckt, die nicht einmal latent waren, die aber wenigstens von einem Reste
deutschen Schamgefühls etwas gezügelt und gelegentlich erstickt wurden.

Wie weit die neueste Kunst und Litteratur die Geschäfte des Anarchismus
besorgt, haben wir hier nicht zu untersuchen. Einer und der andre der „Mo¬
dernen" möchte geneigt sein, mit ruhiger Aufrichtigkeit zu erwidern, daß die
Litteratur von jeher das Vorrecht gehabt habe, die Zukunft vorwegzunehmen,
daß die Zukunft Europas die Anarchie sei und die verschenken neuesten Rich¬
tungen nnr als Sturmvögel der kommenden Zeiten betrachtet werden müßten.
Da wir vor der Hand noch nicht so weit sind, sucht man uns wenigstens
durch ein Stuck Schreckensherrschaft in Zeitungen und Wochenblättern an die
künftige Herrlichkeit zu gewöhnen. Es wird, gleichsam vor ernsteren Dingen, im
Spiel die Probe gemacht, wie viele Faustschlüge ins Antlitz hinein und Fu߬
tritte die Bildung unsrer Tage ertragen könne. Der rhätische Bauer, der den
Edelmann, der ihm in die Schüssel spuckte, mit dem Kopf in den kochenden


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[0242] Die kritische Schreckensherrschaft Kleinheit nicht viel Zeit braucht, es vollkommen auszufüllen. Ist dies ein¬ mal geschehen, so hört in dem betreffenden Gehirn jede Selbstbeherrschung auf. Der Inhaber eiues solchen Gehirns ist im wahren Sinne des Wortes ein besessener Mensch. Etwas, was nicht zu ihm gehört, ein ungeheuerlicher Para¬ sit, ein fremdartiger, zu seinen bisherigen Anschauungen nicht in dem richtigen Verhältnis stehender Gedanke lebt in seinem Kopfe, entwickelt sich dort und weckt die bösen Begierden, die in ihm latent sind." Wie der echte Schrecken tritt auch unsere kritische Schreckensherrschaft auf. Eine allgemeine, völlig vage Idee von der notwendigen Erneuerung der Kunst, von einer großen Um¬ wälzung, die angeblich der Natur zum Rechte verhelfen soll und einstweilen die niedrigste Unnatur auf den Thron setzt, hat sich in gewissen Köpfen zu einem fanatischen Glaubensbekenntnis verhärtet. Sie ist auf keinen Widerstand ge¬ stoßen, weil die Apostel der neuen Lehre durch die Kenntnis nicht beschwert wurden, daß die neue Idee schon hundertmal erfrischend und erhebend und hundert andremale zerstörend und verwirrend in der Geschichte der Kunst und der Dichtung gewirkt hat, je nachdem die Naturen waren, in die ihr Funke fiel. Sie ist diesmal, wenigstens bei uns in Deutschland, von keinen schöpferischen Menschen, keinen lcbenerfüllten Naturen aufgenommen worden, da¬ für hat sie einen Schwarm unklarer und von brennendem Ehrgeiz erfüllter, von der Effekt- und Ersolgsncht nervös erregter Gehirne verwirrt, hat ihre Jünger zu Besessenen gemacht, die nach Wirklichkeit schreien, aber als Wirk¬ lichkeit ein für allemal nichts gelten lassen, was nicht Kohlstrunkfeld, Trocken¬ platz oder Pfütze, was nicht Schmutz, Greuel und Krankheit ist. Der unge- heuerliche Parasit einer Lebensschilderung, die jeder normalen und gesunden Erscheinung aus dem Wege geht und nur Abnormitäten kennt, einer Lebensauffassung, wonach die Kultur in neuen Sensationen der Nerven gipfelt, hat sich bei nur allzuvielen der „Modernen" entwickelt und böse Begierden geweckt, die nicht einmal latent waren, die aber wenigstens von einem Reste deutschen Schamgefühls etwas gezügelt und gelegentlich erstickt wurden. Wie weit die neueste Kunst und Litteratur die Geschäfte des Anarchismus besorgt, haben wir hier nicht zu untersuchen. Einer und der andre der „Mo¬ dernen" möchte geneigt sein, mit ruhiger Aufrichtigkeit zu erwidern, daß die Litteratur von jeher das Vorrecht gehabt habe, die Zukunft vorwegzunehmen, daß die Zukunft Europas die Anarchie sei und die verschenken neuesten Rich¬ tungen nnr als Sturmvögel der kommenden Zeiten betrachtet werden müßten. Da wir vor der Hand noch nicht so weit sind, sucht man uns wenigstens durch ein Stuck Schreckensherrschaft in Zeitungen und Wochenblättern an die künftige Herrlichkeit zu gewöhnen. Es wird, gleichsam vor ernsteren Dingen, im Spiel die Probe gemacht, wie viele Faustschlüge ins Antlitz hinein und Fu߬ tritte die Bildung unsrer Tage ertragen könne. Der rhätische Bauer, der den Edelmann, der ihm in die Schüssel spuckte, mit dem Kopf in den kochenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/242>, abgerufen am 23.07.2024.