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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die kritische Schreckensherrschaft

oder vielmehr sie bliebe ein Rätsel, wenn man nicht jeden Tag im kleinen
sähe, was damals in Frankreich im großen geschah. Wenn Taine in seinem
Hauptwerk ,,Die Entstehung des modernen Frankreichs" bei Erwähnung der
Verurteilung des Dichters Andrv Chenier und des zu seinem Prozeß gehörigen
Protokolls sagt: "Das Schriftstück, ein Meisterstück von Kauderwelsch und
Barbarei, giebt einen Begriff davon, welchen rohen, viehisch wütenden Des¬
poten die begabten Männer der Zeit in die Hände gefallen waren, eine
Borstellung von den wilden Tieren, die absolut nichts verstehen, nicht ein¬
mal die allgemein gebräuchlichen Worte, die über ihre Schnitzer stolpern und
sich in Eheleien verrennen. Der Umsturz aller Verhältnisse war nnter der
Herrschaft der Revolution so vollkommen, daß Frankreich einem menschlichen
Geschöpfe glich, das gezwungen wird, auf dem Kopfe zu gehen und mit den
Füße" zu denken," so kann man diese" Ausspruch anwenden auf die Natur
und Geschichte jedes Terrorismus, der längst vor und verschiedenemal nach
1793 irgendwo durchgebrochen ist. Mit der gleichen Brutalität und der
gleiche" Sinnlosigkeit wird gegen die allgemeine Empfindung gefrevelt, und mit
derselben blöde" Geduld erträgt die Masse der Beleidigten und Verletzten die
heillose Vergewaltigung, bis ihr das Ding eines Tages zu toll wird und sie
nun wieder, wie nach dem neunten Thermidor, die Abwehr mit blutiger Rache
verquickt und befleckt.

Wir brauchen heute die "cuc Schreckensherrschaft, die uns von der Sozial-
demokratie für den Ausgang des Jahrhunderts verheißen wird und gegen die
1793 ein Kinderspiel sein soll, nicht ins Auge zu fassen. Wir denke" zunächst
nicht an künftige politische und historische Vorgänge, sonder" a" Erscheinungen
der Gegenwart, des Augenblicks, die nun auch schon einige Jahre hindurch
währen, und die ihre einzige Erklärung in der träge" Gleichgiltigkeit der Durch¬
schnittsbildung finden gegen alle nicht materiellen Interessen, in der unselige"
Gewöhnung, alle Fragen des öffentlichen Lebens, der Gesellschaft, der Litteratur
und Kunst als bloße Gesprüchsgegenstcmde zu behandeln, die nicht ins Lebe"
greifen u"d Herz und Sinn nicht erregen. Keiner, der tiefern Anteil an diesen
Dingen nimmt, kann mehr daran zweifeln, daß an uns seit mehreren Jahren
mit wachsender Gewaltthätigkeit das Ansinnen gestellt wird, auf dem Kopfe
zu gehen und mit den Füßen zu denken, keiner, der die Tageslitteratur der
letzten Jahre mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt hat, kann sich darüber
täuschen, daß wir einer kritischen Schreckensherrschaft anheinugesallen sind und
immer mehr cucheimzufallen drohe". Von ihr gilt, was Taine um einer
andern Stelle seines Buches über die Revolution und zur Geschichte des
Schreckens hervorhebt. "Nichts kann gefährlicher sein, sagt Taine, als eine
allgemeine Idee in einem kleinen leeren Gehirn. Die Idee begegnet in einem
solchen Gehirn infolge seiner Leere keinem Widerstande, keinen sich ihr hinder¬
lich in den Weg stellenden Kenntnissen, während sie andrerseits infolge seiner


Grenzboten I 1892 30
Die kritische Schreckensherrschaft

oder vielmehr sie bliebe ein Rätsel, wenn man nicht jeden Tag im kleinen
sähe, was damals in Frankreich im großen geschah. Wenn Taine in seinem
Hauptwerk ,,Die Entstehung des modernen Frankreichs" bei Erwähnung der
Verurteilung des Dichters Andrv Chenier und des zu seinem Prozeß gehörigen
Protokolls sagt: „Das Schriftstück, ein Meisterstück von Kauderwelsch und
Barbarei, giebt einen Begriff davon, welchen rohen, viehisch wütenden Des¬
poten die begabten Männer der Zeit in die Hände gefallen waren, eine
Borstellung von den wilden Tieren, die absolut nichts verstehen, nicht ein¬
mal die allgemein gebräuchlichen Worte, die über ihre Schnitzer stolpern und
sich in Eheleien verrennen. Der Umsturz aller Verhältnisse war nnter der
Herrschaft der Revolution so vollkommen, daß Frankreich einem menschlichen
Geschöpfe glich, das gezwungen wird, auf dem Kopfe zu gehen und mit den
Füße» zu denken," so kann man diese» Ausspruch anwenden auf die Natur
und Geschichte jedes Terrorismus, der längst vor und verschiedenemal nach
1793 irgendwo durchgebrochen ist. Mit der gleichen Brutalität und der
gleiche» Sinnlosigkeit wird gegen die allgemeine Empfindung gefrevelt, und mit
derselben blöde» Geduld erträgt die Masse der Beleidigten und Verletzten die
heillose Vergewaltigung, bis ihr das Ding eines Tages zu toll wird und sie
nun wieder, wie nach dem neunten Thermidor, die Abwehr mit blutiger Rache
verquickt und befleckt.

Wir brauchen heute die »cuc Schreckensherrschaft, die uns von der Sozial-
demokratie für den Ausgang des Jahrhunderts verheißen wird und gegen die
1793 ein Kinderspiel sein soll, nicht ins Auge zu fassen. Wir denke» zunächst
nicht an künftige politische und historische Vorgänge, sonder» a» Erscheinungen
der Gegenwart, des Augenblicks, die nun auch schon einige Jahre hindurch
währen, und die ihre einzige Erklärung in der träge» Gleichgiltigkeit der Durch¬
schnittsbildung finden gegen alle nicht materiellen Interessen, in der unselige»
Gewöhnung, alle Fragen des öffentlichen Lebens, der Gesellschaft, der Litteratur
und Kunst als bloße Gesprüchsgegenstcmde zu behandeln, die nicht ins Lebe»
greifen u»d Herz und Sinn nicht erregen. Keiner, der tiefern Anteil an diesen
Dingen nimmt, kann mehr daran zweifeln, daß an uns seit mehreren Jahren
mit wachsender Gewaltthätigkeit das Ansinnen gestellt wird, auf dem Kopfe
zu gehen und mit den Füßen zu denken, keiner, der die Tageslitteratur der
letzten Jahre mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt hat, kann sich darüber
täuschen, daß wir einer kritischen Schreckensherrschaft anheinugesallen sind und
immer mehr cucheimzufallen drohe». Von ihr gilt, was Taine um einer
andern Stelle seines Buches über die Revolution und zur Geschichte des
Schreckens hervorhebt. „Nichts kann gefährlicher sein, sagt Taine, als eine
allgemeine Idee in einem kleinen leeren Gehirn. Die Idee begegnet in einem
solchen Gehirn infolge seiner Leere keinem Widerstande, keinen sich ihr hinder¬
lich in den Weg stellenden Kenntnissen, während sie andrerseits infolge seiner


Grenzboten I 1892 30
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[0241] Die kritische Schreckensherrschaft oder vielmehr sie bliebe ein Rätsel, wenn man nicht jeden Tag im kleinen sähe, was damals in Frankreich im großen geschah. Wenn Taine in seinem Hauptwerk ,,Die Entstehung des modernen Frankreichs" bei Erwähnung der Verurteilung des Dichters Andrv Chenier und des zu seinem Prozeß gehörigen Protokolls sagt: „Das Schriftstück, ein Meisterstück von Kauderwelsch und Barbarei, giebt einen Begriff davon, welchen rohen, viehisch wütenden Des¬ poten die begabten Männer der Zeit in die Hände gefallen waren, eine Borstellung von den wilden Tieren, die absolut nichts verstehen, nicht ein¬ mal die allgemein gebräuchlichen Worte, die über ihre Schnitzer stolpern und sich in Eheleien verrennen. Der Umsturz aller Verhältnisse war nnter der Herrschaft der Revolution so vollkommen, daß Frankreich einem menschlichen Geschöpfe glich, das gezwungen wird, auf dem Kopfe zu gehen und mit den Füße» zu denken," so kann man diese» Ausspruch anwenden auf die Natur und Geschichte jedes Terrorismus, der längst vor und verschiedenemal nach 1793 irgendwo durchgebrochen ist. Mit der gleichen Brutalität und der gleiche» Sinnlosigkeit wird gegen die allgemeine Empfindung gefrevelt, und mit derselben blöde» Geduld erträgt die Masse der Beleidigten und Verletzten die heillose Vergewaltigung, bis ihr das Ding eines Tages zu toll wird und sie nun wieder, wie nach dem neunten Thermidor, die Abwehr mit blutiger Rache verquickt und befleckt. Wir brauchen heute die »cuc Schreckensherrschaft, die uns von der Sozial- demokratie für den Ausgang des Jahrhunderts verheißen wird und gegen die 1793 ein Kinderspiel sein soll, nicht ins Auge zu fassen. Wir denke» zunächst nicht an künftige politische und historische Vorgänge, sonder» a» Erscheinungen der Gegenwart, des Augenblicks, die nun auch schon einige Jahre hindurch währen, und die ihre einzige Erklärung in der träge» Gleichgiltigkeit der Durch¬ schnittsbildung finden gegen alle nicht materiellen Interessen, in der unselige» Gewöhnung, alle Fragen des öffentlichen Lebens, der Gesellschaft, der Litteratur und Kunst als bloße Gesprüchsgegenstcmde zu behandeln, die nicht ins Lebe» greifen u»d Herz und Sinn nicht erregen. Keiner, der tiefern Anteil an diesen Dingen nimmt, kann mehr daran zweifeln, daß an uns seit mehreren Jahren mit wachsender Gewaltthätigkeit das Ansinnen gestellt wird, auf dem Kopfe zu gehen und mit den Füßen zu denken, keiner, der die Tageslitteratur der letzten Jahre mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt hat, kann sich darüber täuschen, daß wir einer kritischen Schreckensherrschaft anheinugesallen sind und immer mehr cucheimzufallen drohe». Von ihr gilt, was Taine um einer andern Stelle seines Buches über die Revolution und zur Geschichte des Schreckens hervorhebt. „Nichts kann gefährlicher sein, sagt Taine, als eine allgemeine Idee in einem kleinen leeren Gehirn. Die Idee begegnet in einem solchen Gehirn infolge seiner Leere keinem Widerstande, keinen sich ihr hinder¬ lich in den Weg stellenden Kenntnissen, während sie andrerseits infolge seiner Grenzboten I 1892 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/241>, abgerufen am 23.07.2024.