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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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wandelnd sich eine Cigarre anzündet. Es ist demnach eine Perspektive auf ein
unabsehbares Material, das der Gesetzentwurf in seinem h 17 Staatsanwälten
und Gerichten eröffnet! Oder sollten wir ihm eine zu weite Ausdehnung ge¬
geben, die Bedeutung des Wortes "besondre Aufmerksamkeit" nicht richtig ge-'
würdigt haben? Wir sind nicht geneigt, uns dieses Irrtums schuldig zu be-
kennen. In der That würden wir wenig befriedigt fein, wenn z, B. unfer
Friseur neben der Aufmerksamkeit, die sein Geschäft im allgemeinen verlangt,
der Gefahr, die es für die Gesundheit seiner Kunden mit sich bringen kann
-- einer Gefahr, die neuerdings sogar Gegenstand besondrer Polizeivorschriften
geworden ist --, nicht eine ganz besondre Aufmerksamkeit verdiente. Oder geht
der Gesetzentwurf dennoch von dem Gedanken aus, daß wir uns mit einer all¬
gemeinen zu begnügen hätten?

Was aber versteht der Entwurf unter "Notfällen"? Gesetzt, der fahrplan¬
mäßige Abgang eines Schnellzuges würde um Stunden verzögert werden, falls
der angetrunkene Lokomotivetlführer, dessen Stellvertreter erkrankt ist, seinen Dienst
nicht antritt. Wir wollen nicht bestreuten, daß es sich hier um eiuen Notfall
handelt. Recht bedenklich aber will es uns scheinen, den Trunknen, anstatt
ihn durch Strafandrohung davon abzuhalten, durch Zusicherung von Straf¬
losigkeit dazu aufzumuntern, seinen Posten einzunehmen und Leben und Ge¬
sundheit der Reisenden dadurch in Gefahr zu setzen. Die Verrichtungen eines
Krankenwärters sind sicherlich den in H 17 gemeinten ebenfalls beizuzählen.
Mau stelle sich nun einen Angehörigen dieser, wenn man den Schilderungen
von Dickens Glauben schenken darf, von Trunksucht vorzugsweise heimgesuchten
Berufsklasse vor, zugleich einen Notfall der Krankenpflege und die selbst ohne
Mitschuld des Alkohols leider bisweilen verwirklichte Möglichkeit, daß der
Kranke infolge einer Verwechslung von Arzneien oder andrer grober Versehen
das Leben einbüßt. Will auch in solchem Fall der Gesetzgeber die Verantwortung
auf sich laden, das Leben des Kranken dadurch preiszugeben, daß er dein
Trnnknen Zutritt zu seinem Lager verstattet und ihn? dasür Straflosigkeit zu¬
sichert? Auf der andern Seite sind die unbequemen Folgen unverkennbar, die
die Streichung der "Notfalle" nach sich ziehen würde. Die Strafbarkeit einer
Handlungsweise von der unter derartigen Verhältnissen fast immer fließenden
Grenze zwischen dem, was Zweckmäßigkeit und Pflicht gebieten oder verbieten,
abhängig zu machen, ist jedoch kriminalpolitisch gewiß nicht zu billigen. Es
handelt sich hier um einen Stoff, von dem man eine strafrechtliche Ausbeute
ebeu uicht beauspruchen darf. Die von dem Entwurf vorgeschlagene Aus¬
dehnung der im Eingange erwähnten Strafvorschrift der Seemannsordnnng auf
andre Fälle scheint uns nicht geboten. Wer sich in seinem Dienste vergeht, den
möge man entlassen. Diese Maßregel ist im Seedienst nicht, sonst aber überall
ausführbar. Wir sind überdies mit den Zweifeln, die uns die Auslegung des
h 17 verursacht, noch nicht am Ende. Gesetzt, es Hütte in keinem der beiden


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wandelnd sich eine Cigarre anzündet. Es ist demnach eine Perspektive auf ein
unabsehbares Material, das der Gesetzentwurf in seinem h 17 Staatsanwälten
und Gerichten eröffnet! Oder sollten wir ihm eine zu weite Ausdehnung ge¬
geben, die Bedeutung des Wortes „besondre Aufmerksamkeit" nicht richtig ge-'
würdigt haben? Wir sind nicht geneigt, uns dieses Irrtums schuldig zu be-
kennen. In der That würden wir wenig befriedigt fein, wenn z, B. unfer
Friseur neben der Aufmerksamkeit, die sein Geschäft im allgemeinen verlangt,
der Gefahr, die es für die Gesundheit seiner Kunden mit sich bringen kann
— einer Gefahr, die neuerdings sogar Gegenstand besondrer Polizeivorschriften
geworden ist —, nicht eine ganz besondre Aufmerksamkeit verdiente. Oder geht
der Gesetzentwurf dennoch von dem Gedanken aus, daß wir uns mit einer all¬
gemeinen zu begnügen hätten?

Was aber versteht der Entwurf unter „Notfällen"? Gesetzt, der fahrplan¬
mäßige Abgang eines Schnellzuges würde um Stunden verzögert werden, falls
der angetrunkene Lokomotivetlführer, dessen Stellvertreter erkrankt ist, seinen Dienst
nicht antritt. Wir wollen nicht bestreuten, daß es sich hier um eiuen Notfall
handelt. Recht bedenklich aber will es uns scheinen, den Trunknen, anstatt
ihn durch Strafandrohung davon abzuhalten, durch Zusicherung von Straf¬
losigkeit dazu aufzumuntern, seinen Posten einzunehmen und Leben und Ge¬
sundheit der Reisenden dadurch in Gefahr zu setzen. Die Verrichtungen eines
Krankenwärters sind sicherlich den in H 17 gemeinten ebenfalls beizuzählen.
Mau stelle sich nun einen Angehörigen dieser, wenn man den Schilderungen
von Dickens Glauben schenken darf, von Trunksucht vorzugsweise heimgesuchten
Berufsklasse vor, zugleich einen Notfall der Krankenpflege und die selbst ohne
Mitschuld des Alkohols leider bisweilen verwirklichte Möglichkeit, daß der
Kranke infolge einer Verwechslung von Arzneien oder andrer grober Versehen
das Leben einbüßt. Will auch in solchem Fall der Gesetzgeber die Verantwortung
auf sich laden, das Leben des Kranken dadurch preiszugeben, daß er dein
Trnnknen Zutritt zu seinem Lager verstattet und ihn? dasür Straflosigkeit zu¬
sichert? Auf der andern Seite sind die unbequemen Folgen unverkennbar, die
die Streichung der „Notfalle" nach sich ziehen würde. Die Strafbarkeit einer
Handlungsweise von der unter derartigen Verhältnissen fast immer fließenden
Grenze zwischen dem, was Zweckmäßigkeit und Pflicht gebieten oder verbieten,
abhängig zu machen, ist jedoch kriminalpolitisch gewiß nicht zu billigen. Es
handelt sich hier um einen Stoff, von dem man eine strafrechtliche Ausbeute
ebeu uicht beauspruchen darf. Die von dem Entwurf vorgeschlagene Aus¬
dehnung der im Eingange erwähnten Strafvorschrift der Seemannsordnnng auf
andre Fälle scheint uns nicht geboten. Wer sich in seinem Dienste vergeht, den
möge man entlassen. Diese Maßregel ist im Seedienst nicht, sonst aber überall
ausführbar. Wir sind überdies mit den Zweifeln, die uns die Auslegung des
h 17 verursacht, noch nicht am Ende. Gesetzt, es Hütte in keinem der beiden


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[0021] Zum Trnnksnchtsgesetzentwnrf wandelnd sich eine Cigarre anzündet. Es ist demnach eine Perspektive auf ein unabsehbares Material, das der Gesetzentwurf in seinem h 17 Staatsanwälten und Gerichten eröffnet! Oder sollten wir ihm eine zu weite Ausdehnung ge¬ geben, die Bedeutung des Wortes „besondre Aufmerksamkeit" nicht richtig ge-' würdigt haben? Wir sind nicht geneigt, uns dieses Irrtums schuldig zu be- kennen. In der That würden wir wenig befriedigt fein, wenn z, B. unfer Friseur neben der Aufmerksamkeit, die sein Geschäft im allgemeinen verlangt, der Gefahr, die es für die Gesundheit seiner Kunden mit sich bringen kann — einer Gefahr, die neuerdings sogar Gegenstand besondrer Polizeivorschriften geworden ist —, nicht eine ganz besondre Aufmerksamkeit verdiente. Oder geht der Gesetzentwurf dennoch von dem Gedanken aus, daß wir uns mit einer all¬ gemeinen zu begnügen hätten? Was aber versteht der Entwurf unter „Notfällen"? Gesetzt, der fahrplan¬ mäßige Abgang eines Schnellzuges würde um Stunden verzögert werden, falls der angetrunkene Lokomotivetlführer, dessen Stellvertreter erkrankt ist, seinen Dienst nicht antritt. Wir wollen nicht bestreuten, daß es sich hier um eiuen Notfall handelt. Recht bedenklich aber will es uns scheinen, den Trunknen, anstatt ihn durch Strafandrohung davon abzuhalten, durch Zusicherung von Straf¬ losigkeit dazu aufzumuntern, seinen Posten einzunehmen und Leben und Ge¬ sundheit der Reisenden dadurch in Gefahr zu setzen. Die Verrichtungen eines Krankenwärters sind sicherlich den in H 17 gemeinten ebenfalls beizuzählen. Mau stelle sich nun einen Angehörigen dieser, wenn man den Schilderungen von Dickens Glauben schenken darf, von Trunksucht vorzugsweise heimgesuchten Berufsklasse vor, zugleich einen Notfall der Krankenpflege und die selbst ohne Mitschuld des Alkohols leider bisweilen verwirklichte Möglichkeit, daß der Kranke infolge einer Verwechslung von Arzneien oder andrer grober Versehen das Leben einbüßt. Will auch in solchem Fall der Gesetzgeber die Verantwortung auf sich laden, das Leben des Kranken dadurch preiszugeben, daß er dein Trnnknen Zutritt zu seinem Lager verstattet und ihn? dasür Straflosigkeit zu¬ sichert? Auf der andern Seite sind die unbequemen Folgen unverkennbar, die die Streichung der „Notfalle" nach sich ziehen würde. Die Strafbarkeit einer Handlungsweise von der unter derartigen Verhältnissen fast immer fließenden Grenze zwischen dem, was Zweckmäßigkeit und Pflicht gebieten oder verbieten, abhängig zu machen, ist jedoch kriminalpolitisch gewiß nicht zu billigen. Es handelt sich hier um einen Stoff, von dem man eine strafrechtliche Ausbeute ebeu uicht beauspruchen darf. Die von dem Entwurf vorgeschlagene Aus¬ dehnung der im Eingange erwähnten Strafvorschrift der Seemannsordnnng auf andre Fälle scheint uns nicht geboten. Wer sich in seinem Dienste vergeht, den möge man entlassen. Diese Maßregel ist im Seedienst nicht, sonst aber überall ausführbar. Wir sind überdies mit den Zweifeln, die uns die Auslegung des h 17 verursacht, noch nicht am Ende. Gesetzt, es Hütte in keinem der beiden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/21>, abgerufen am 23.07.2024.