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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Schweizer Dichter

rechte Künstler wird durch ein Gefühl der Scheu vor Entweihung seines hei
ligsten Innern davon zurückgehalten, über deu Genius in sich Betrachtungen
anzustellen, wie sie der Knnstphilvsoph von Berufs wegen liebt. Den Künstler
muß es wie Verrat an dem Gott anmuten, uuter dessen gnadenreicher Herrschaft
er schafft. Daraus ist Kellers Abneigung uicht bloß gegen gedruckte Knnst-
philosophien zu erklären, sondern auch seine Reizbarkeit im Verkehr mit Li¬
terarhistorikern und Kunstphilosophen, die ihn sozusagen bei lebendigem Leibe
seciren wollten. So unangenehm der Dichter auch unter dem Drucke dieses
peinlichen Gefühls werden konnte, so muß man doch sagen, daß sich gerade
in diesem Mißbehagen seine Größe bekundete: es war die Rückwirkung seiner
wahrhaften und mächtigen Naivität, die in unsrer konventionellen und hypo¬
chondrischen Zeit notwendigerweise hie und dn Anstoß erregen mußte. Frey
erzählt, daß Keller nur das Reinthatsächliche, also Biographie, Bibliographie,
Motivenforschnng u. dergl. in der Litteraturgeschichte schätzte; aber er erklärt
nicht diese Haltung des Dichters.

Frey leistet jedoch etwas andres von großem Wert. Keller selbst konnte
uicht in Worte fassen, was er mit der "Poesie" meinte. In seinen guten
Jahren schuf er sie, aber er definirte sie nicht; das war jedenfalls für die
Welt wichtiger. Aber Frey führt uns durch seine Beobachtungen an dem
Dichter zur Erkenntnis dessen, was seine Poesie machte, und das ist von
großer Wichtigkeit, denn diese Beobachtungen beleuchten uns das Wesen der
Kunst Kellers. Frey erzählt nach den Mitteilungen des Dichters selbst, daß
in vielen seiner Dichtungen, aus denen man manches autobiographische Be¬
kenntnis herauslesen wollte, seine Phantasie weit freier geschaltet habe,
als man gewöhnlich annahm. So im "Grünen Heinrich," der nicht bloß die
Eltern des Dichters idealisirt, sondern auch das so schön geschilderte idyllische
Landleben beim Oheim. Ferner verschwieg Keller aus rein künstlerischen
Gründen die Existenz seiner Schwester swas, nebenbei bemerkt, die Jungfer
Regula. mit der der Bruder bis ans Lebensende zusammenwohnte, ihm nie
verzeihen konnte). Die wundersame Geschichte vom Meretlcin gleich im An¬
fange des Romans beruht ganz und gar auf freier Erfindung. Man hat auch
aus "Pankraz dem Schmoller" zu viel Autobiographisches herausgelesen ; das
Gegenteil von dem, was Pankraz bei der Wiederkunft in der Heimat erlebt,
geschah dem Dichter: er trat in nichts weniger als gemütlich anheimelnde Zu¬
stünde, als er nach langjähriger Abwesenheit von München zurückkam.
Aus solchen Vergleichen der Wirklichkeit mit dem, was Keller aus seinen Er¬
lebnissen dichterisch gemacht hat, gewinnen wir mit Frey die Erkenntnis, daß
der Dichter gerade den Kontrast der Wirklichkeit, gerade das, was er ver¬
mißt, was er sich gewünscht hat, dichterisch gestaltete. Die Sehnsucht nach
dem Bessern, schönern, Glücklichern machte ihn schöpferisch, er war -- bei
allem Streben nach dem Auffangen des Weltinhalts ^ doch wesentlich ein


Grenzboten I I8"2 17
Schweizer Dichter

rechte Künstler wird durch ein Gefühl der Scheu vor Entweihung seines hei
ligsten Innern davon zurückgehalten, über deu Genius in sich Betrachtungen
anzustellen, wie sie der Knnstphilvsoph von Berufs wegen liebt. Den Künstler
muß es wie Verrat an dem Gott anmuten, uuter dessen gnadenreicher Herrschaft
er schafft. Daraus ist Kellers Abneigung uicht bloß gegen gedruckte Knnst-
philosophien zu erklären, sondern auch seine Reizbarkeit im Verkehr mit Li¬
terarhistorikern und Kunstphilosophen, die ihn sozusagen bei lebendigem Leibe
seciren wollten. So unangenehm der Dichter auch unter dem Drucke dieses
peinlichen Gefühls werden konnte, so muß man doch sagen, daß sich gerade
in diesem Mißbehagen seine Größe bekundete: es war die Rückwirkung seiner
wahrhaften und mächtigen Naivität, die in unsrer konventionellen und hypo¬
chondrischen Zeit notwendigerweise hie und dn Anstoß erregen mußte. Frey
erzählt, daß Keller nur das Reinthatsächliche, also Biographie, Bibliographie,
Motivenforschnng u. dergl. in der Litteraturgeschichte schätzte; aber er erklärt
nicht diese Haltung des Dichters.

Frey leistet jedoch etwas andres von großem Wert. Keller selbst konnte
uicht in Worte fassen, was er mit der „Poesie" meinte. In seinen guten
Jahren schuf er sie, aber er definirte sie nicht; das war jedenfalls für die
Welt wichtiger. Aber Frey führt uns durch seine Beobachtungen an dem
Dichter zur Erkenntnis dessen, was seine Poesie machte, und das ist von
großer Wichtigkeit, denn diese Beobachtungen beleuchten uns das Wesen der
Kunst Kellers. Frey erzählt nach den Mitteilungen des Dichters selbst, daß
in vielen seiner Dichtungen, aus denen man manches autobiographische Be¬
kenntnis herauslesen wollte, seine Phantasie weit freier geschaltet habe,
als man gewöhnlich annahm. So im „Grünen Heinrich," der nicht bloß die
Eltern des Dichters idealisirt, sondern auch das so schön geschilderte idyllische
Landleben beim Oheim. Ferner verschwieg Keller aus rein künstlerischen
Gründen die Existenz seiner Schwester swas, nebenbei bemerkt, die Jungfer
Regula. mit der der Bruder bis ans Lebensende zusammenwohnte, ihm nie
verzeihen konnte). Die wundersame Geschichte vom Meretlcin gleich im An¬
fange des Romans beruht ganz und gar auf freier Erfindung. Man hat auch
aus „Pankraz dem Schmoller" zu viel Autobiographisches herausgelesen ; das
Gegenteil von dem, was Pankraz bei der Wiederkunft in der Heimat erlebt,
geschah dem Dichter: er trat in nichts weniger als gemütlich anheimelnde Zu¬
stünde, als er nach langjähriger Abwesenheit von München zurückkam.
Aus solchen Vergleichen der Wirklichkeit mit dem, was Keller aus seinen Er¬
lebnissen dichterisch gemacht hat, gewinnen wir mit Frey die Erkenntnis, daß
der Dichter gerade den Kontrast der Wirklichkeit, gerade das, was er ver¬
mißt, was er sich gewünscht hat, dichterisch gestaltete. Die Sehnsucht nach
dem Bessern, schönern, Glücklichern machte ihn schöpferisch, er war — bei
allem Streben nach dem Auffangen des Weltinhalts ^ doch wesentlich ein


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[0137] Schweizer Dichter rechte Künstler wird durch ein Gefühl der Scheu vor Entweihung seines hei ligsten Innern davon zurückgehalten, über deu Genius in sich Betrachtungen anzustellen, wie sie der Knnstphilvsoph von Berufs wegen liebt. Den Künstler muß es wie Verrat an dem Gott anmuten, uuter dessen gnadenreicher Herrschaft er schafft. Daraus ist Kellers Abneigung uicht bloß gegen gedruckte Knnst- philosophien zu erklären, sondern auch seine Reizbarkeit im Verkehr mit Li¬ terarhistorikern und Kunstphilosophen, die ihn sozusagen bei lebendigem Leibe seciren wollten. So unangenehm der Dichter auch unter dem Drucke dieses peinlichen Gefühls werden konnte, so muß man doch sagen, daß sich gerade in diesem Mißbehagen seine Größe bekundete: es war die Rückwirkung seiner wahrhaften und mächtigen Naivität, die in unsrer konventionellen und hypo¬ chondrischen Zeit notwendigerweise hie und dn Anstoß erregen mußte. Frey erzählt, daß Keller nur das Reinthatsächliche, also Biographie, Bibliographie, Motivenforschnng u. dergl. in der Litteraturgeschichte schätzte; aber er erklärt nicht diese Haltung des Dichters. Frey leistet jedoch etwas andres von großem Wert. Keller selbst konnte uicht in Worte fassen, was er mit der „Poesie" meinte. In seinen guten Jahren schuf er sie, aber er definirte sie nicht; das war jedenfalls für die Welt wichtiger. Aber Frey führt uns durch seine Beobachtungen an dem Dichter zur Erkenntnis dessen, was seine Poesie machte, und das ist von großer Wichtigkeit, denn diese Beobachtungen beleuchten uns das Wesen der Kunst Kellers. Frey erzählt nach den Mitteilungen des Dichters selbst, daß in vielen seiner Dichtungen, aus denen man manches autobiographische Be¬ kenntnis herauslesen wollte, seine Phantasie weit freier geschaltet habe, als man gewöhnlich annahm. So im „Grünen Heinrich," der nicht bloß die Eltern des Dichters idealisirt, sondern auch das so schön geschilderte idyllische Landleben beim Oheim. Ferner verschwieg Keller aus rein künstlerischen Gründen die Existenz seiner Schwester swas, nebenbei bemerkt, die Jungfer Regula. mit der der Bruder bis ans Lebensende zusammenwohnte, ihm nie verzeihen konnte). Die wundersame Geschichte vom Meretlcin gleich im An¬ fange des Romans beruht ganz und gar auf freier Erfindung. Man hat auch aus „Pankraz dem Schmoller" zu viel Autobiographisches herausgelesen ; das Gegenteil von dem, was Pankraz bei der Wiederkunft in der Heimat erlebt, geschah dem Dichter: er trat in nichts weniger als gemütlich anheimelnde Zu¬ stünde, als er nach langjähriger Abwesenheit von München zurückkam. Aus solchen Vergleichen der Wirklichkeit mit dem, was Keller aus seinen Er¬ lebnissen dichterisch gemacht hat, gewinnen wir mit Frey die Erkenntnis, daß der Dichter gerade den Kontrast der Wirklichkeit, gerade das, was er ver¬ mißt, was er sich gewünscht hat, dichterisch gestaltete. Die Sehnsucht nach dem Bessern, schönern, Glücklichern machte ihn schöpferisch, er war — bei allem Streben nach dem Auffangen des Weltinhalts ^ doch wesentlich ein Grenzboten I I8»2 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/137>, abgerufen am 23.07.2024.