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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Rimstphyswlogie

Sehr wohlthuend berührt der frische Hauch einer kerngesunden Natur,
der durch das ganze Buch weht. Rücksichtslos eifert Hirth gegen alles Un¬
gesunde. "Vertauschen wir einmal frohgemnt den entnervenden Weihrauch und
die siuubcrückendeu Nuditnteu des Jesniteustils ebenso wie die Odeurs und die
mythologische olironi^us so-mdicksuse, der alten koketten Tante Ästhetik, dieser
wunderlich aufgeputzten Himmelbettstatt leine großartige Tante, die zugleich
ein Himmelbett zu sein imstande istlj, vertauschen wir sie mit dem kräftigen
Ruch aus deutschen Harzwaldmitten, auf daß unsre Lunge weiter, unser Herz
kräftiger, unser Geist klarer, unser Hoffen frommer werde! Hinaus mit allem,
was bresthaft ist!" Zu dein Vresthafteu rechnet er mit vollem Recht auch die
Vererbungstheorie Lombrosos und widerlegt das von diesem aufs neue mit
allerlei Scheingründen befestigte Vorurteil von der angeblichen Verwandtschaft
zwischen Genie und Wahnsinn in einer langen Abhandlung. Es wäre wohl
gut, sagt er u. a., "gerade die Reichstbegabten fsie^ über die natürlichen
Grenzen ihrer Kraftentfaltung, über die Subtilität des Schatzbehalters "Gehirn,"
über seine meist nicht beachtete, oft nicht einmal gekannte Abhängigkeit von
der normalen Funktion der niedern Organe, über die Gefährlichkeit substantieller
Gifte (Alkohol, Syphilis n. f. w.) und ungeordneten Lebenswandels u. s. w.
aufzuklären, aber ihnen schlechtweg zu sagen: "Du bist verdammt unter den
Menschen, da dn reichen Geistes bist, denn eben dein Reichtum ist Krankheit,"
das ist unmenschlich und unwissenschaftlich zugleich." Und ungeschichtlich dazu,
wie aus einer Übersicht von Meistern der bildenden Künste hervorgeht, die er
mit dem Ausruf schließt: "Auf deu Hohen des künstlerischen Schaffens ist
horniges Leben, ist Gesundheit!"

Mit derselben Entschiedenheit eifert er gegen allen Materialismus und
Pessimismus. "Neid, Menschenverachtung, Nirwana, Kismet und Weltschmerz
sind für den bildenden Künstler langsam tötende Gifte, es sei denn, daß er
sie als besiegte Drachen darstellte; und ein Band Schopenhauer oder Hart¬
mann, mit mehr Andacht als Zorn gelesen, setzt sich in seinem Hirn fest wie
ein Polyp, der früher oder später das Entfernteste unter den Bann seiner
saugenden Fangarme bringt. "Um der Wahrheit willen," so heißt es ja wohl;
aber giebt es für den Menschen eine höhere Wahrheit, als die, daß die Er¬
haltung und Steigerung seiner Gesundheit, seiner Lebens- und Leistungskraft,
seiner Tugenden, seiner Gottähnlichkeit die sicherste Grundlage einer bessern
Zukunft auf Erden ist? In diesem Dogma konnten sich wohl die Gläubigen
aller Konfessionen und philosophischen Schulen einigen; ich meine diejenigen,
die auf das Prädikat "gesund" Anspruch machen. Eine Philosophie, deren
Witz nur darin besteht, daß sie ihren Schülern die durch tausend Generationen
leidlich gut erhaltenen Gedächtnislokale in Unordnung bringt und zum Schaden
der Nachkommen das Nervenkapital verpraßt, das die Urväter in ihrer geraden,
ehrlichen Natürlichkeit gespart hatten, eine solche "Philosophie" sollte be-


Rimstphyswlogie

Sehr wohlthuend berührt der frische Hauch einer kerngesunden Natur,
der durch das ganze Buch weht. Rücksichtslos eifert Hirth gegen alles Un¬
gesunde. „Vertauschen wir einmal frohgemnt den entnervenden Weihrauch und
die siuubcrückendeu Nuditnteu des Jesniteustils ebenso wie die Odeurs und die
mythologische olironi^us so-mdicksuse, der alten koketten Tante Ästhetik, dieser
wunderlich aufgeputzten Himmelbettstatt leine großartige Tante, die zugleich
ein Himmelbett zu sein imstande istlj, vertauschen wir sie mit dem kräftigen
Ruch aus deutschen Harzwaldmitten, auf daß unsre Lunge weiter, unser Herz
kräftiger, unser Geist klarer, unser Hoffen frommer werde! Hinaus mit allem,
was bresthaft ist!" Zu dein Vresthafteu rechnet er mit vollem Recht auch die
Vererbungstheorie Lombrosos und widerlegt das von diesem aufs neue mit
allerlei Scheingründen befestigte Vorurteil von der angeblichen Verwandtschaft
zwischen Genie und Wahnsinn in einer langen Abhandlung. Es wäre wohl
gut, sagt er u. a., „gerade die Reichstbegabten fsie^ über die natürlichen
Grenzen ihrer Kraftentfaltung, über die Subtilität des Schatzbehalters »Gehirn,«
über seine meist nicht beachtete, oft nicht einmal gekannte Abhängigkeit von
der normalen Funktion der niedern Organe, über die Gefährlichkeit substantieller
Gifte (Alkohol, Syphilis n. f. w.) und ungeordneten Lebenswandels u. s. w.
aufzuklären, aber ihnen schlechtweg zu sagen: »Du bist verdammt unter den
Menschen, da dn reichen Geistes bist, denn eben dein Reichtum ist Krankheit,«
das ist unmenschlich und unwissenschaftlich zugleich." Und ungeschichtlich dazu,
wie aus einer Übersicht von Meistern der bildenden Künste hervorgeht, die er
mit dem Ausruf schließt: „Auf deu Hohen des künstlerischen Schaffens ist
horniges Leben, ist Gesundheit!"

Mit derselben Entschiedenheit eifert er gegen allen Materialismus und
Pessimismus. „Neid, Menschenverachtung, Nirwana, Kismet und Weltschmerz
sind für den bildenden Künstler langsam tötende Gifte, es sei denn, daß er
sie als besiegte Drachen darstellte; und ein Band Schopenhauer oder Hart¬
mann, mit mehr Andacht als Zorn gelesen, setzt sich in seinem Hirn fest wie
ein Polyp, der früher oder später das Entfernteste unter den Bann seiner
saugenden Fangarme bringt. »Um der Wahrheit willen,« so heißt es ja wohl;
aber giebt es für den Menschen eine höhere Wahrheit, als die, daß die Er¬
haltung und Steigerung seiner Gesundheit, seiner Lebens- und Leistungskraft,
seiner Tugenden, seiner Gottähnlichkeit die sicherste Grundlage einer bessern
Zukunft auf Erden ist? In diesem Dogma konnten sich wohl die Gläubigen
aller Konfessionen und philosophischen Schulen einigen; ich meine diejenigen,
die auf das Prädikat »gesund« Anspruch machen. Eine Philosophie, deren
Witz nur darin besteht, daß sie ihren Schülern die durch tausend Generationen
leidlich gut erhaltenen Gedächtnislokale in Unordnung bringt und zum Schaden
der Nachkommen das Nervenkapital verpraßt, das die Urväter in ihrer geraden,
ehrlichen Natürlichkeit gespart hatten, eine solche »Philosophie« sollte be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/85>, abgerufen am 23.07.2024.