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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Runstphysiologie

für den "göttlichen Wahnsinn," für dus Genie. Es liegt mir aber sehr viel
daran, daß die kunstphysiologischen Gesetze und Motivirungen, welche ich in
diesem Buche dargelegt habe, nicht bloß für Werktagsschüler fsind hier viel¬
leicht Sonntagsschüler gemeint, Werkstättenschüler, Lehrlinge des Kunsthand¬
werkes ?j und mäßig begabte Akademiker, sondern auch für das höchste künstle¬
rische Schaffen als maßgebend anerkannt werden; daß man nicht zweierlei
Naturrechte für niedere und höhere Talente zulasse, und daß nicht gerade die
Begabtesten, wie es schon so oft geschehen, sich durch den phrasenhaften Weih¬
rauch metaphysischer Schönredner von den Wegen bescheidner, ehrlicher, ver¬
nünftiger Arbeit abbringen lassen." Gewiß ein vortrefflicher pädagogischer
Grundsatz! Für die Theorie aber möchten wir die Frage offen lassen, ob
nicht dennoch beim Genie etwas Metaphysisches mitwirke. An eine Aufhebung
der Naturgesetze braucht man dabei nicht zu denken; das Metaphysische kann
durch eine besondre Anordnung der Gehirnmoleküle wirken, die weder aus
Vererbung noch aus den Einflüssen der Erziehung zu erklären ist. Mit der
Vererbung beschäftigt sich der Verfasser sehr eingehend, und er stellt da uuter
andern einen Grundsatz auf, den wir sehr hübsch finden, daß nämlich die
Eltern vorzugsweise solche Anlagen vererben, die sie "geschont" haben. Darum
fallen die Kinder genialer Leute oft so wenig genial aus, weil die Väter von
der Anlage, mit der sie glänzten, selbst zuviel verbraucht haben, um ihren
Nachkommen noch etwas Ansehnliches übrig lassen zu können, während ge¬
wöhnliche Menschen umso mehr auf berühmte Söhne rechnen dürfen, je sorg¬
licher sie ihre in^ inatsr geschont und sich vor Überanstrengung im Denken
gehütet haben.

Wir möchten darauf wetten, daß sich Hirth niemals mit Herbart be¬
schäftigt hat. Bei seiner Ehrlichkeit und Offenheit, die ans jeder Seite seines
Buches spricht, würde er es uicht machen, wie manche Leute, die gerade den
Vorgänger nicht nennen, dem sie das meiste verdanken. Die Art und Weise
nämlich, wie er das ganze geistige Leben aus "Gruudgedächtnissen" und "Merk¬
systemen" aufbaut, deren jedes, nachdem es einmal vorhanden ist, gewisser¬
maßen sein selbständiges Leben führt und von seiner verborgnen Lagerstatt
aus die bewußte Thätigkeit des Menschen aus das mannichfaltigste beeinflußt
und oft in überraschender und scheinbar wunderbarer Weise leitet, hat die
größte Ähnlichkeit mit Herbarts Beschreibung des Vorstellungsverlaufes und
der Einwirkung von Vorstellungsmassen auf ihn, die sich unterhalb der Schwelle
des Bewußtseins drängen. Daß der Prozeß bei Hirth rein physiologischer,
bei Herbart rein psychologischer Natur ist, das begründet, wie wir bei näherm
Eingehen auf die Sache wohl zu zeigen vermöchten, nur scheinbar einen grund¬
sätzlichen Unterschied. Wir haben also hier wieder einmal den nicht gerade
seltenen Fall, daß zwei Denker, von ganz verschiednen Grundlagen ausgehend,
zu denselben Ergebnissen kommen.


Runstphysiologie

für den »göttlichen Wahnsinn,« für dus Genie. Es liegt mir aber sehr viel
daran, daß die kunstphysiologischen Gesetze und Motivirungen, welche ich in
diesem Buche dargelegt habe, nicht bloß für Werktagsschüler fsind hier viel¬
leicht Sonntagsschüler gemeint, Werkstättenschüler, Lehrlinge des Kunsthand¬
werkes ?j und mäßig begabte Akademiker, sondern auch für das höchste künstle¬
rische Schaffen als maßgebend anerkannt werden; daß man nicht zweierlei
Naturrechte für niedere und höhere Talente zulasse, und daß nicht gerade die
Begabtesten, wie es schon so oft geschehen, sich durch den phrasenhaften Weih¬
rauch metaphysischer Schönredner von den Wegen bescheidner, ehrlicher, ver¬
nünftiger Arbeit abbringen lassen." Gewiß ein vortrefflicher pädagogischer
Grundsatz! Für die Theorie aber möchten wir die Frage offen lassen, ob
nicht dennoch beim Genie etwas Metaphysisches mitwirke. An eine Aufhebung
der Naturgesetze braucht man dabei nicht zu denken; das Metaphysische kann
durch eine besondre Anordnung der Gehirnmoleküle wirken, die weder aus
Vererbung noch aus den Einflüssen der Erziehung zu erklären ist. Mit der
Vererbung beschäftigt sich der Verfasser sehr eingehend, und er stellt da uuter
andern einen Grundsatz auf, den wir sehr hübsch finden, daß nämlich die
Eltern vorzugsweise solche Anlagen vererben, die sie „geschont" haben. Darum
fallen die Kinder genialer Leute oft so wenig genial aus, weil die Väter von
der Anlage, mit der sie glänzten, selbst zuviel verbraucht haben, um ihren
Nachkommen noch etwas Ansehnliches übrig lassen zu können, während ge¬
wöhnliche Menschen umso mehr auf berühmte Söhne rechnen dürfen, je sorg¬
licher sie ihre in^ inatsr geschont und sich vor Überanstrengung im Denken
gehütet haben.

Wir möchten darauf wetten, daß sich Hirth niemals mit Herbart be¬
schäftigt hat. Bei seiner Ehrlichkeit und Offenheit, die ans jeder Seite seines
Buches spricht, würde er es uicht machen, wie manche Leute, die gerade den
Vorgänger nicht nennen, dem sie das meiste verdanken. Die Art und Weise
nämlich, wie er das ganze geistige Leben aus „Gruudgedächtnissen" und „Merk¬
systemen" aufbaut, deren jedes, nachdem es einmal vorhanden ist, gewisser¬
maßen sein selbständiges Leben führt und von seiner verborgnen Lagerstatt
aus die bewußte Thätigkeit des Menschen aus das mannichfaltigste beeinflußt
und oft in überraschender und scheinbar wunderbarer Weise leitet, hat die
größte Ähnlichkeit mit Herbarts Beschreibung des Vorstellungsverlaufes und
der Einwirkung von Vorstellungsmassen auf ihn, die sich unterhalb der Schwelle
des Bewußtseins drängen. Daß der Prozeß bei Hirth rein physiologischer,
bei Herbart rein psychologischer Natur ist, das begründet, wie wir bei näherm
Eingehen auf die Sache wohl zu zeigen vermöchten, nur scheinbar einen grund¬
sätzlichen Unterschied. Wir haben also hier wieder einmal den nicht gerade
seltenen Fall, daß zwei Denker, von ganz verschiednen Grundlagen ausgehend,
zu denselben Ergebnissen kommen.


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[0084] Runstphysiologie für den »göttlichen Wahnsinn,« für dus Genie. Es liegt mir aber sehr viel daran, daß die kunstphysiologischen Gesetze und Motivirungen, welche ich in diesem Buche dargelegt habe, nicht bloß für Werktagsschüler fsind hier viel¬ leicht Sonntagsschüler gemeint, Werkstättenschüler, Lehrlinge des Kunsthand¬ werkes ?j und mäßig begabte Akademiker, sondern auch für das höchste künstle¬ rische Schaffen als maßgebend anerkannt werden; daß man nicht zweierlei Naturrechte für niedere und höhere Talente zulasse, und daß nicht gerade die Begabtesten, wie es schon so oft geschehen, sich durch den phrasenhaften Weih¬ rauch metaphysischer Schönredner von den Wegen bescheidner, ehrlicher, ver¬ nünftiger Arbeit abbringen lassen." Gewiß ein vortrefflicher pädagogischer Grundsatz! Für die Theorie aber möchten wir die Frage offen lassen, ob nicht dennoch beim Genie etwas Metaphysisches mitwirke. An eine Aufhebung der Naturgesetze braucht man dabei nicht zu denken; das Metaphysische kann durch eine besondre Anordnung der Gehirnmoleküle wirken, die weder aus Vererbung noch aus den Einflüssen der Erziehung zu erklären ist. Mit der Vererbung beschäftigt sich der Verfasser sehr eingehend, und er stellt da uuter andern einen Grundsatz auf, den wir sehr hübsch finden, daß nämlich die Eltern vorzugsweise solche Anlagen vererben, die sie „geschont" haben. Darum fallen die Kinder genialer Leute oft so wenig genial aus, weil die Väter von der Anlage, mit der sie glänzten, selbst zuviel verbraucht haben, um ihren Nachkommen noch etwas Ansehnliches übrig lassen zu können, während ge¬ wöhnliche Menschen umso mehr auf berühmte Söhne rechnen dürfen, je sorg¬ licher sie ihre in^ inatsr geschont und sich vor Überanstrengung im Denken gehütet haben. Wir möchten darauf wetten, daß sich Hirth niemals mit Herbart be¬ schäftigt hat. Bei seiner Ehrlichkeit und Offenheit, die ans jeder Seite seines Buches spricht, würde er es uicht machen, wie manche Leute, die gerade den Vorgänger nicht nennen, dem sie das meiste verdanken. Die Art und Weise nämlich, wie er das ganze geistige Leben aus „Gruudgedächtnissen" und „Merk¬ systemen" aufbaut, deren jedes, nachdem es einmal vorhanden ist, gewisser¬ maßen sein selbständiges Leben führt und von seiner verborgnen Lagerstatt aus die bewußte Thätigkeit des Menschen aus das mannichfaltigste beeinflußt und oft in überraschender und scheinbar wunderbarer Weise leitet, hat die größte Ähnlichkeit mit Herbarts Beschreibung des Vorstellungsverlaufes und der Einwirkung von Vorstellungsmassen auf ihn, die sich unterhalb der Schwelle des Bewußtseins drängen. Daß der Prozeß bei Hirth rein physiologischer, bei Herbart rein psychologischer Natur ist, das begründet, wie wir bei näherm Eingehen auf die Sache wohl zu zeigen vermöchten, nur scheinbar einen grund¬ sätzlichen Unterschied. Wir haben also hier wieder einmal den nicht gerade seltenen Fall, daß zwei Denker, von ganz verschiednen Grundlagen ausgehend, zu denselben Ergebnissen kommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/84>, abgerufen am 26.08.2024.