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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Homunculus und Herr Nemo

da waren Sie nicht dabei; richtig bei dem großen Fackelzug zu Ehren Pro¬
fessor Zöllners oder vielmehr bei dem Kommers nachher, wo Sie an unsern
Tisch herüberkamen.

Richtig, richtig! -- sagte Wirklich -- ich entsinne mich jetzt. Mit dem
Fackelzug und dem Kommers hatte es in der That seine Richtigkeit, nur hatte
er natürlich einen Herrn Homunculus dort nicht kennen lernen. Es fiel ihm
aber ein, daß er dem Geheimrat einmal ausführlich von dieser Feier erzählt
hatte.

Man kam auf Jugeuderimierungen zu sprechen. Homunculus erzählte,
daß er seine Eltern früh verloren und nur ein undeutliches Bild von ihnen
bewahrt habe. Aber mitunter -- sagte er -- ist es mir, als sähe ich sie
gegenwärtig, dann ist es mir plötzlich, als würde ein Schleier von der Ver¬
gangenheit gezogen.

Inzwischen war das Frühstück beendet, und der Geheimrat bat Homun-
culus, ihm wieder in das Laboratorium zu folgen. Ich will -- sagte er --
noch einige Vorbereitungen zu dem Experimente machen, und Herr Homun¬
culus, der mir schon in den letzten Tagen behilflich war, wird mir dabei
assistiren. Wenn alles fertig ist, rufe ich die Herren herein.

Die beiden Doktoren blieben allein. Anfangs sprach keiner. Wirklich
starrte auf das Tischtuch, und Simmer ging mit großen Schritten im Zimmer
auf und nieder. Das ist sonderbar, höchst sonderbar, begann Wirklich endlich,
und ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Was sagt deine Philo¬
sophie dazu, Simmer? Idealismus oder Realismus?

Simmer war stehen geblieben. Idealismus -- sagte er -- mehr denn je,
ja ich muß gestehen, daß diese praktische Demonstration der Kantischen Lehre
von der Idealität der Zeit, die wir soeben gesehen haben, mich fast mit Grauen
erfüllt. Denn an diesen Teil des Systems wollte ich bisher nie recht glnnben.
Ich gönnte der Seele, die ich mir als eine träumende vorstellte, wenigstens
die Zeit, sich ihre Phantasiegebilde auszumalen. Auch das wird mir jetzt ge¬
nommen. Die ganze Vergangenheit kann, wie wir eben gesehen haben, Täu¬
schung sein. Ich brauche alles das nicht gesehen und erlebt zu haben, an
was ich mich so deutlich erinnere. Nichts, nichts ist mein, als der flüchtige,
armselige Augenblick, den wir Gegenwart nennen, und auch seine Realität
wird im nächsten Augenblick, wo er Vergangenheit geworden ist, wieder proble¬
matisch. Du schüttelst mit dem Kopfe? Wer sagt dir denn, daß du nicht
auch, daß nicht vielleicht wir beide Homuneeln sind, von diesem Professor hier
angefertigt, kurz zuvor, ehe er uns sein drittes Präparat vorführte?

Aber lieber Freund, wir find doch zusammen hergekommen?

Kann das nicht auch Täuschung sein, die uus beiden in gleicher Weise
eingepflanzt worden ist? Vielleicht sind wir auch erst nach dem andern Ho¬
munculus fertig geworden, erst nach diesem Frühstück hier, von dem wir noch


Homunculus und Herr Nemo

da waren Sie nicht dabei; richtig bei dem großen Fackelzug zu Ehren Pro¬
fessor Zöllners oder vielmehr bei dem Kommers nachher, wo Sie an unsern
Tisch herüberkamen.

Richtig, richtig! — sagte Wirklich — ich entsinne mich jetzt. Mit dem
Fackelzug und dem Kommers hatte es in der That seine Richtigkeit, nur hatte
er natürlich einen Herrn Homunculus dort nicht kennen lernen. Es fiel ihm
aber ein, daß er dem Geheimrat einmal ausführlich von dieser Feier erzählt
hatte.

Man kam auf Jugeuderimierungen zu sprechen. Homunculus erzählte,
daß er seine Eltern früh verloren und nur ein undeutliches Bild von ihnen
bewahrt habe. Aber mitunter — sagte er — ist es mir, als sähe ich sie
gegenwärtig, dann ist es mir plötzlich, als würde ein Schleier von der Ver¬
gangenheit gezogen.

Inzwischen war das Frühstück beendet, und der Geheimrat bat Homun-
culus, ihm wieder in das Laboratorium zu folgen. Ich will — sagte er —
noch einige Vorbereitungen zu dem Experimente machen, und Herr Homun¬
culus, der mir schon in den letzten Tagen behilflich war, wird mir dabei
assistiren. Wenn alles fertig ist, rufe ich die Herren herein.

Die beiden Doktoren blieben allein. Anfangs sprach keiner. Wirklich
starrte auf das Tischtuch, und Simmer ging mit großen Schritten im Zimmer
auf und nieder. Das ist sonderbar, höchst sonderbar, begann Wirklich endlich,
und ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Was sagt deine Philo¬
sophie dazu, Simmer? Idealismus oder Realismus?

Simmer war stehen geblieben. Idealismus — sagte er — mehr denn je,
ja ich muß gestehen, daß diese praktische Demonstration der Kantischen Lehre
von der Idealität der Zeit, die wir soeben gesehen haben, mich fast mit Grauen
erfüllt. Denn an diesen Teil des Systems wollte ich bisher nie recht glnnben.
Ich gönnte der Seele, die ich mir als eine träumende vorstellte, wenigstens
die Zeit, sich ihre Phantasiegebilde auszumalen. Auch das wird mir jetzt ge¬
nommen. Die ganze Vergangenheit kann, wie wir eben gesehen haben, Täu¬
schung sein. Ich brauche alles das nicht gesehen und erlebt zu haben, an
was ich mich so deutlich erinnere. Nichts, nichts ist mein, als der flüchtige,
armselige Augenblick, den wir Gegenwart nennen, und auch seine Realität
wird im nächsten Augenblick, wo er Vergangenheit geworden ist, wieder proble¬
matisch. Du schüttelst mit dem Kopfe? Wer sagt dir denn, daß du nicht
auch, daß nicht vielleicht wir beide Homuneeln sind, von diesem Professor hier
angefertigt, kurz zuvor, ehe er uns sein drittes Präparat vorführte?

Aber lieber Freund, wir find doch zusammen hergekommen?

Kann das nicht auch Täuschung sein, die uus beiden in gleicher Weise
eingepflanzt worden ist? Vielleicht sind wir auch erst nach dem andern Ho¬
munculus fertig geworden, erst nach diesem Frühstück hier, von dem wir noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/527>, abgerufen am 23.07.2024.