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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosoxhische Gedanken

burger unbefangen anerkennt, auf derselben Grundteige, auf der in der katho¬
lischen Zeit die flandrischen Städte reich und mächtig geworden waren, nämlich
auf der Freiheit, oder wenn man lieber will, der Anarchie. Diese entfesselte
alle in den findigen Köpfen, in den ehrgeizigen und habsüchtigen Herzen der
kleinen Nation vorhandnen Kräfte und gab ihr ein ungeheures Übergewicht
über die plumpen Großstaaten, deren Kräfte durch das damals aufkommende
Bevormundungssystem gelähmt wurden. Indem nun das bis dahin blühende
Flandern durch die Rückkehr unter die spanische Herrschaft derselben Lähmung
verfiel, blieb der Vorteil der wirtschaftlichen Freiheit den Nordprovinzen allein.
Treitschke freilich möchte auch hier alles aus dem religiösen Gegensatze erklären.
"Die ungeheure Überlegenheit protestantischer Geistesfreiheit -- schreibt er --
tritt uns vor die Augen, sobald wir den finstern Druck der venetianischen
Inquisition, den grundsätzlich zu sinnlicher Schlaffheit erzognen Pöbel der
Lagunenstadt neben die kühne Presse, das trotzige Bürgertum des nordischen
Venedig stellen." Um gerecht zu sein, muß man dem aufstrebenden Amsterdam
doch nicht das sinkende, sondern das blühende Venedig gegenüberstellen. Das
wirtschaftliche Übergewicht Hollands hat nicht viel länger als zweihundert
Jahre gedauert, die Blüte des katholischen Flanderns mindestens ebenso lange,
Venedig aber ist beinahe tausend Jahre lang die Königin der Meere gewesen.
Als in Venedig das goldne Buch, das Verzeichnis der herrschenden Familien
geschlossen und die übrige Bürgerschaft ihrer politischen Rechte beraubt wurde,
hatte die Stadt schon fünfhundert Jahre lang geblüht, und die demokratische
Verfassung war durch deu Besitz ganzer Königreiche unmöglich geworden.
Die niederländische Republik ist gar nicht so alt geworden, daß sie vor die
Frage gestellt worden wäre, ob sie um der Volksfreiheit willen ihre Macht
preisgeben oder sich zur Annahme einer aristokratischen oder streng monarchischen
Verfassung bequemen wolle. Ihre Preßfreiheit verdankte sie, wie wiederum
Wenzelburger anerkennt, der Teilung in sieben auf dem Gebiete der Verwal¬
tung von einander unabhängige Miniaturstaaten: was in dem einen verboten
wurde, das ward ein paar Meilen davon im andern gedruckt. Was aber die
venetianische Inquisition anlangt, so vergißt Treitschke, daß eben damals
Venedig in einen erbitterten Kampf mit dem Papste verwickelt, und daß der
Freigeist Paolo Sarpi, dieser leidenschaftliche Gegner der Hierarchie, als
Staatskvnsultor die Seele seiner Regierung war. Der Papst hatte über
Venedig nicht viel mehr Macht als über die Niederlande; es muß also doch
wohl in der Natur des Volkes liegen, daß der Versuch, die Venetianer pro¬
testantisch zu machen, fehlschlug. Im Jahre 1611 berichtete der Hugeuott
Asselineau an Duplessis Momay: "Das Evangelium ist hier zwei Jahre lang
so rein gepredigt worden, wie es an irgend einem Ort zu Anfang hat ge¬
schehen können; allein anstatt die Unwissenden aufzuklüreu, hat es sie in ihrer
Unwissenheit uoch mehr befestigt, weil sie sich nichts anders denken können


Geschichtsphilosoxhische Gedanken

burger unbefangen anerkennt, auf derselben Grundteige, auf der in der katho¬
lischen Zeit die flandrischen Städte reich und mächtig geworden waren, nämlich
auf der Freiheit, oder wenn man lieber will, der Anarchie. Diese entfesselte
alle in den findigen Köpfen, in den ehrgeizigen und habsüchtigen Herzen der
kleinen Nation vorhandnen Kräfte und gab ihr ein ungeheures Übergewicht
über die plumpen Großstaaten, deren Kräfte durch das damals aufkommende
Bevormundungssystem gelähmt wurden. Indem nun das bis dahin blühende
Flandern durch die Rückkehr unter die spanische Herrschaft derselben Lähmung
verfiel, blieb der Vorteil der wirtschaftlichen Freiheit den Nordprovinzen allein.
Treitschke freilich möchte auch hier alles aus dem religiösen Gegensatze erklären.
„Die ungeheure Überlegenheit protestantischer Geistesfreiheit — schreibt er —
tritt uns vor die Augen, sobald wir den finstern Druck der venetianischen
Inquisition, den grundsätzlich zu sinnlicher Schlaffheit erzognen Pöbel der
Lagunenstadt neben die kühne Presse, das trotzige Bürgertum des nordischen
Venedig stellen." Um gerecht zu sein, muß man dem aufstrebenden Amsterdam
doch nicht das sinkende, sondern das blühende Venedig gegenüberstellen. Das
wirtschaftliche Übergewicht Hollands hat nicht viel länger als zweihundert
Jahre gedauert, die Blüte des katholischen Flanderns mindestens ebenso lange,
Venedig aber ist beinahe tausend Jahre lang die Königin der Meere gewesen.
Als in Venedig das goldne Buch, das Verzeichnis der herrschenden Familien
geschlossen und die übrige Bürgerschaft ihrer politischen Rechte beraubt wurde,
hatte die Stadt schon fünfhundert Jahre lang geblüht, und die demokratische
Verfassung war durch deu Besitz ganzer Königreiche unmöglich geworden.
Die niederländische Republik ist gar nicht so alt geworden, daß sie vor die
Frage gestellt worden wäre, ob sie um der Volksfreiheit willen ihre Macht
preisgeben oder sich zur Annahme einer aristokratischen oder streng monarchischen
Verfassung bequemen wolle. Ihre Preßfreiheit verdankte sie, wie wiederum
Wenzelburger anerkennt, der Teilung in sieben auf dem Gebiete der Verwal¬
tung von einander unabhängige Miniaturstaaten: was in dem einen verboten
wurde, das ward ein paar Meilen davon im andern gedruckt. Was aber die
venetianische Inquisition anlangt, so vergißt Treitschke, daß eben damals
Venedig in einen erbitterten Kampf mit dem Papste verwickelt, und daß der
Freigeist Paolo Sarpi, dieser leidenschaftliche Gegner der Hierarchie, als
Staatskvnsultor die Seele seiner Regierung war. Der Papst hatte über
Venedig nicht viel mehr Macht als über die Niederlande; es muß also doch
wohl in der Natur des Volkes liegen, daß der Versuch, die Venetianer pro¬
testantisch zu machen, fehlschlug. Im Jahre 1611 berichtete der Hugeuott
Asselineau an Duplessis Momay: „Das Evangelium ist hier zwei Jahre lang
so rein gepredigt worden, wie es an irgend einem Ort zu Anfang hat ge¬
schehen können; allein anstatt die Unwissenden aufzuklüreu, hat es sie in ihrer
Unwissenheit uoch mehr befestigt, weil sie sich nichts anders denken können


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[0511] Geschichtsphilosoxhische Gedanken burger unbefangen anerkennt, auf derselben Grundteige, auf der in der katho¬ lischen Zeit die flandrischen Städte reich und mächtig geworden waren, nämlich auf der Freiheit, oder wenn man lieber will, der Anarchie. Diese entfesselte alle in den findigen Köpfen, in den ehrgeizigen und habsüchtigen Herzen der kleinen Nation vorhandnen Kräfte und gab ihr ein ungeheures Übergewicht über die plumpen Großstaaten, deren Kräfte durch das damals aufkommende Bevormundungssystem gelähmt wurden. Indem nun das bis dahin blühende Flandern durch die Rückkehr unter die spanische Herrschaft derselben Lähmung verfiel, blieb der Vorteil der wirtschaftlichen Freiheit den Nordprovinzen allein. Treitschke freilich möchte auch hier alles aus dem religiösen Gegensatze erklären. „Die ungeheure Überlegenheit protestantischer Geistesfreiheit — schreibt er — tritt uns vor die Augen, sobald wir den finstern Druck der venetianischen Inquisition, den grundsätzlich zu sinnlicher Schlaffheit erzognen Pöbel der Lagunenstadt neben die kühne Presse, das trotzige Bürgertum des nordischen Venedig stellen." Um gerecht zu sein, muß man dem aufstrebenden Amsterdam doch nicht das sinkende, sondern das blühende Venedig gegenüberstellen. Das wirtschaftliche Übergewicht Hollands hat nicht viel länger als zweihundert Jahre gedauert, die Blüte des katholischen Flanderns mindestens ebenso lange, Venedig aber ist beinahe tausend Jahre lang die Königin der Meere gewesen. Als in Venedig das goldne Buch, das Verzeichnis der herrschenden Familien geschlossen und die übrige Bürgerschaft ihrer politischen Rechte beraubt wurde, hatte die Stadt schon fünfhundert Jahre lang geblüht, und die demokratische Verfassung war durch deu Besitz ganzer Königreiche unmöglich geworden. Die niederländische Republik ist gar nicht so alt geworden, daß sie vor die Frage gestellt worden wäre, ob sie um der Volksfreiheit willen ihre Macht preisgeben oder sich zur Annahme einer aristokratischen oder streng monarchischen Verfassung bequemen wolle. Ihre Preßfreiheit verdankte sie, wie wiederum Wenzelburger anerkennt, der Teilung in sieben auf dem Gebiete der Verwal¬ tung von einander unabhängige Miniaturstaaten: was in dem einen verboten wurde, das ward ein paar Meilen davon im andern gedruckt. Was aber die venetianische Inquisition anlangt, so vergißt Treitschke, daß eben damals Venedig in einen erbitterten Kampf mit dem Papste verwickelt, und daß der Freigeist Paolo Sarpi, dieser leidenschaftliche Gegner der Hierarchie, als Staatskvnsultor die Seele seiner Regierung war. Der Papst hatte über Venedig nicht viel mehr Macht als über die Niederlande; es muß also doch wohl in der Natur des Volkes liegen, daß der Versuch, die Venetianer pro¬ testantisch zu machen, fehlschlug. Im Jahre 1611 berichtete der Hugeuott Asselineau an Duplessis Momay: „Das Evangelium ist hier zwei Jahre lang so rein gepredigt worden, wie es an irgend einem Ort zu Anfang hat ge¬ schehen können; allein anstatt die Unwissenden aufzuklüreu, hat es sie in ihrer Unwissenheit uoch mehr befestigt, weil sie sich nichts anders denken können

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/511>, abgerufen am 26.08.2024.