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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Homunculus und Herr Nemo

derselben göttlichen Beschaffenheit wie früher den Menschen ausstattete. Je
"lehr sich die Unterschiede innerhalb des organischen Reiches verwischten, desto
schärfer suchte die Philosophie die Grenze zwischen diesem und der unorga¬
nischen Natur zu ziehen. Sie verbiß sich auf die "Lebenskraft" der alten
Schulen und behauptete in ihr etwas höheres und von den übrigen Natur-
kräften, wie Schwere, Elektrizität, chemische Verwandtschaft, dein Wesen nach
verschiednes zu besitzen.

Aber auch dieser Glaube hielt nicht lange vor. Mehr und mehr gelang
es den Untersuchungen der Biologen, die einzelnen Vorgänge des organischen
Lebens in chemische, elektrische, mechanische aufzulösen, und immer klarer und
unabweisbarer wurde die Wahrheit, daß die sogenannten Lebenserscheinungen
nichts andres sind, als physikalische Vorgänge verwickelter Art.

Zwei Jahrhunderte lang ging nun die Wissenschaft den mühsamen Weg
der Analyse, oft schien er endlos; war ein Rätsel gelöst, so zeigten sich zehn
neue, noch schwerere. Aber man ließ sich nicht abschrecken, man forschte weiter,
man löste auch diese, und heute -- ich darf es mit Stolz sagen --, heute sind
wir am Ziele. Es giebt für den Vorgeschrittener,! im Wissen keine unerklärte
Erscheinung mehr im organischen Leben, jede, jede läßt sich auf einfache me¬
chanische Vorgänge zurückführen, es giebt nnr noch zwei Dinge, die einfache
Materie und die einfache Kraft.

Wenn dem aber so ist, wenn z. B. der Mensch nichts weiter ist, als
eine bestimmte Menge von Atomen in bestimmter Ordnung über und neben
einander gelegt und an allen Stellen mit bestimmten Mengen von Kraft ver¬
sehen, so muß es auch möglich sein, einen solchen Menschen zu schaffen.
Denn wenn es gelingt, die Atome eben so zu ordnen und die Kräfte eben so
zu verteilen, wie in meinem Vorbilde, so muß auch derselbe Mensch entstehen
mit denselben Sinnen, denselben Gedanken, demselben Willen.

5ieA0, rief der Philosoph heftig, nöAO nmjoreKi. Zeigen Sie mir
immerhin alle Schwingungen, in die die Gehörnerven durch die Schallwellen
versetzt werden, zeigen Sie mir jede Veweguug der Gehirnfaser infolge dieser
Erschütterungen, jeden chemischen und elektrischen Vorgang, der dadurch ver¬
ursacht wird, immer werde ich Ihnen erwidern: von dem Tone selbst, den
ich vernehme, von der Vorstellung, die in mir entsteht, und von dem Bewußt¬
sein, daß dies meine Vorstellung ist, davon ist alles, was Sie mir zeigen,
himmelweit verschieden. Oder meinen Sie etwa, wenn ich im Homer lese und
vor meinem innern Auge die kämpfenden Helden sehe, hier gehe wirklich nichts
andres vor als ein Verbrennungsprozeß der Gehirnmasse? Nein, sage ich,
und abermals nein, die eine Erscheinung mag eine Ursache der andern sein,
oder sie mögen neben einander hergehen, dasselbe sind sie nimmermehr. Darum
mögen Sie immerhin Ihren künstlichen Menschen schaffen, leben wird er
vielleicht, d. h. die in ihm verteilten Kräfte mögen einige dem Leben ähnliche


Homunculus und Herr Nemo

derselben göttlichen Beschaffenheit wie früher den Menschen ausstattete. Je
»lehr sich die Unterschiede innerhalb des organischen Reiches verwischten, desto
schärfer suchte die Philosophie die Grenze zwischen diesem und der unorga¬
nischen Natur zu ziehen. Sie verbiß sich auf die „Lebenskraft" der alten
Schulen und behauptete in ihr etwas höheres und von den übrigen Natur-
kräften, wie Schwere, Elektrizität, chemische Verwandtschaft, dein Wesen nach
verschiednes zu besitzen.

Aber auch dieser Glaube hielt nicht lange vor. Mehr und mehr gelang
es den Untersuchungen der Biologen, die einzelnen Vorgänge des organischen
Lebens in chemische, elektrische, mechanische aufzulösen, und immer klarer und
unabweisbarer wurde die Wahrheit, daß die sogenannten Lebenserscheinungen
nichts andres sind, als physikalische Vorgänge verwickelter Art.

Zwei Jahrhunderte lang ging nun die Wissenschaft den mühsamen Weg
der Analyse, oft schien er endlos; war ein Rätsel gelöst, so zeigten sich zehn
neue, noch schwerere. Aber man ließ sich nicht abschrecken, man forschte weiter,
man löste auch diese, und heute — ich darf es mit Stolz sagen —, heute sind
wir am Ziele. Es giebt für den Vorgeschrittener,! im Wissen keine unerklärte
Erscheinung mehr im organischen Leben, jede, jede läßt sich auf einfache me¬
chanische Vorgänge zurückführen, es giebt nnr noch zwei Dinge, die einfache
Materie und die einfache Kraft.

Wenn dem aber so ist, wenn z. B. der Mensch nichts weiter ist, als
eine bestimmte Menge von Atomen in bestimmter Ordnung über und neben
einander gelegt und an allen Stellen mit bestimmten Mengen von Kraft ver¬
sehen, so muß es auch möglich sein, einen solchen Menschen zu schaffen.
Denn wenn es gelingt, die Atome eben so zu ordnen und die Kräfte eben so
zu verteilen, wie in meinem Vorbilde, so muß auch derselbe Mensch entstehen
mit denselben Sinnen, denselben Gedanken, demselben Willen.

5ieA0, rief der Philosoph heftig, nöAO nmjoreKi. Zeigen Sie mir
immerhin alle Schwingungen, in die die Gehörnerven durch die Schallwellen
versetzt werden, zeigen Sie mir jede Veweguug der Gehirnfaser infolge dieser
Erschütterungen, jeden chemischen und elektrischen Vorgang, der dadurch ver¬
ursacht wird, immer werde ich Ihnen erwidern: von dem Tone selbst, den
ich vernehme, von der Vorstellung, die in mir entsteht, und von dem Bewußt¬
sein, daß dies meine Vorstellung ist, davon ist alles, was Sie mir zeigen,
himmelweit verschieden. Oder meinen Sie etwa, wenn ich im Homer lese und
vor meinem innern Auge die kämpfenden Helden sehe, hier gehe wirklich nichts
andres vor als ein Verbrennungsprozeß der Gehirnmasse? Nein, sage ich,
und abermals nein, die eine Erscheinung mag eine Ursache der andern sein,
oder sie mögen neben einander hergehen, dasselbe sind sie nimmermehr. Darum
mögen Sie immerhin Ihren künstlichen Menschen schaffen, leben wird er
vielleicht, d. h. die in ihm verteilten Kräfte mögen einige dem Leben ähnliche


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[0484] Homunculus und Herr Nemo derselben göttlichen Beschaffenheit wie früher den Menschen ausstattete. Je »lehr sich die Unterschiede innerhalb des organischen Reiches verwischten, desto schärfer suchte die Philosophie die Grenze zwischen diesem und der unorga¬ nischen Natur zu ziehen. Sie verbiß sich auf die „Lebenskraft" der alten Schulen und behauptete in ihr etwas höheres und von den übrigen Natur- kräften, wie Schwere, Elektrizität, chemische Verwandtschaft, dein Wesen nach verschiednes zu besitzen. Aber auch dieser Glaube hielt nicht lange vor. Mehr und mehr gelang es den Untersuchungen der Biologen, die einzelnen Vorgänge des organischen Lebens in chemische, elektrische, mechanische aufzulösen, und immer klarer und unabweisbarer wurde die Wahrheit, daß die sogenannten Lebenserscheinungen nichts andres sind, als physikalische Vorgänge verwickelter Art. Zwei Jahrhunderte lang ging nun die Wissenschaft den mühsamen Weg der Analyse, oft schien er endlos; war ein Rätsel gelöst, so zeigten sich zehn neue, noch schwerere. Aber man ließ sich nicht abschrecken, man forschte weiter, man löste auch diese, und heute — ich darf es mit Stolz sagen —, heute sind wir am Ziele. Es giebt für den Vorgeschrittener,! im Wissen keine unerklärte Erscheinung mehr im organischen Leben, jede, jede läßt sich auf einfache me¬ chanische Vorgänge zurückführen, es giebt nnr noch zwei Dinge, die einfache Materie und die einfache Kraft. Wenn dem aber so ist, wenn z. B. der Mensch nichts weiter ist, als eine bestimmte Menge von Atomen in bestimmter Ordnung über und neben einander gelegt und an allen Stellen mit bestimmten Mengen von Kraft ver¬ sehen, so muß es auch möglich sein, einen solchen Menschen zu schaffen. Denn wenn es gelingt, die Atome eben so zu ordnen und die Kräfte eben so zu verteilen, wie in meinem Vorbilde, so muß auch derselbe Mensch entstehen mit denselben Sinnen, denselben Gedanken, demselben Willen. 5ieA0, rief der Philosoph heftig, nöAO nmjoreKi. Zeigen Sie mir immerhin alle Schwingungen, in die die Gehörnerven durch die Schallwellen versetzt werden, zeigen Sie mir jede Veweguug der Gehirnfaser infolge dieser Erschütterungen, jeden chemischen und elektrischen Vorgang, der dadurch ver¬ ursacht wird, immer werde ich Ihnen erwidern: von dem Tone selbst, den ich vernehme, von der Vorstellung, die in mir entsteht, und von dem Bewußt¬ sein, daß dies meine Vorstellung ist, davon ist alles, was Sie mir zeigen, himmelweit verschieden. Oder meinen Sie etwa, wenn ich im Homer lese und vor meinem innern Auge die kämpfenden Helden sehe, hier gehe wirklich nichts andres vor als ein Verbrennungsprozeß der Gehirnmasse? Nein, sage ich, und abermals nein, die eine Erscheinung mag eine Ursache der andern sein, oder sie mögen neben einander hergehen, dasselbe sind sie nimmermehr. Darum mögen Sie immerhin Ihren künstlichen Menschen schaffen, leben wird er vielleicht, d. h. die in ihm verteilten Kräfte mögen einige dem Leben ähnliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/484>, abgerufen am 26.08.2024.