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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanke"

mit Fingern zeigte, und daß ihn seine derben Satiren auf die Geistlichkeit
weder die Gunst seines Bischofs, noch die Liebe seiner Gemeinde kosteten, noch
überhaupt irgend welche Belästigung zuzogen.

Und gar die Glaubensfreiheit! Wie elend stand es um die am Eude des
großen Jahrhunderts! Die Inquisition, die sich im Lichte des Humanismus
kaum hervorgewagt hatte, war zu neuem Leben erwacht und wütete in dein
Gebiete jeder der drei Konfessionen gegen die beiden andern. Um 1500 durfte
man jede Meinung ungestraft aussprechen, wofern man nur nichts that, Ums
den materiellen Bestand der Hierarchie zu gefährden geeignet schien. Um 1578
wurden in lutherischen Landen fromme gläubige Prediger von Amt und Brot
gejagt, wenn sie sich weigerten, die ihnen vorgelegte Zwangsformel zu unter¬
schreiben, und die Pfarrersfrauen lagen dem Ehegemahl mit dem Sprüchlein
im Ohr: Schreibt, lieber Herre, schreibt, daß ihr bei der Pfarre bleibt. "Mit
byzantinischem Fanatismus und byzantinischer Gedankenarmut -- schreibt
H. von Treitschke in seinem prachtvollen Essay über die Republik der vereinigten
Niederlande -- hadern die Theologen über die wie zum Hohne sogenannten
Konkordienfvrmeln der Albertiner, über die dogmatischen Schrullen der erne-
stinischen "Betefürsten," die Pfaffen der neuen Kirche fluchen einander hinab
in die Tiefen der Hölle um der Frage willen, ob die Erbsünde auch in den
Leibern der selig Verstorbnen fest hafte bis zum jüngsten Tage." Leider wahr!
Wenn er aber im Eingange der genannten Abhandlung sagt: "Reiner, herr¬
licher hat nie eine Umwälzung begonnen, als unsre Kirchenreformation begann.
Alles Eigenste und Höchste unsers Wesens war im Aufruhr, der Ernst deut¬
schen Forschermutes und die Wahrhaftigkeit des deutschen Gewissens. Und
wie Luthers Werk aus den Tiefen der deutschen Volksseele entsprang, so war
es auch die letzte große That, welche die Söhne aller unsrer Stämme zu ge¬
meinsamem Schaffen vereinigte. Deutschland war protestantisch"; und wenn
er gleich darauf beklagt, daß die schöpferische Kraft des Luthertums schon in
der Mitte des Jahrhunderts versiegt gewesen sei, daß sich die Nation unfähig
erwiesen habe, einem Geguer von sehr mäßiger Stärke gegenüber die Selbst-
ständigkeit ihres Glaubens und ihres Staates zu beweisen; wenn er über den
Teil, der nicht unter das Joch des Katholizismus zurückgeführt wurde, mit
schmerzlicher Entrüstung das harte Urteil fällt: ,,Es ist nicht anders, das
Luthertum jener Tage stand nicht nur politisch, sondern auch sittlich tief unter
dem verjüngten Katholizismus" -- so giebt das zwar ein Bild von packender
Tragik ab, aber eben die Größe des Gegensatzes zwingt doch zu der kritischen
Frage, ob ein so plötzlicher Verfall einer ganzen großen Nation wohl denkbar
sei? Was Treitschke von der Reinheit und Herrlichkeit des Anfangs sagt, das
gilt ganz gewiß von Luther und einigen ihm verwandten Seelen, aber es gilt
nicht von der "deutschen Volksseele," wenn damit die Gesamtheit der Seelen
der Deutschen gemeint ist. Denn die Deutschen waren zum größten Teile


Geschichtsphilosophische Gedanke»

mit Fingern zeigte, und daß ihn seine derben Satiren auf die Geistlichkeit
weder die Gunst seines Bischofs, noch die Liebe seiner Gemeinde kosteten, noch
überhaupt irgend welche Belästigung zuzogen.

Und gar die Glaubensfreiheit! Wie elend stand es um die am Eude des
großen Jahrhunderts! Die Inquisition, die sich im Lichte des Humanismus
kaum hervorgewagt hatte, war zu neuem Leben erwacht und wütete in dein
Gebiete jeder der drei Konfessionen gegen die beiden andern. Um 1500 durfte
man jede Meinung ungestraft aussprechen, wofern man nur nichts that, Ums
den materiellen Bestand der Hierarchie zu gefährden geeignet schien. Um 1578
wurden in lutherischen Landen fromme gläubige Prediger von Amt und Brot
gejagt, wenn sie sich weigerten, die ihnen vorgelegte Zwangsformel zu unter¬
schreiben, und die Pfarrersfrauen lagen dem Ehegemahl mit dem Sprüchlein
im Ohr: Schreibt, lieber Herre, schreibt, daß ihr bei der Pfarre bleibt. „Mit
byzantinischem Fanatismus und byzantinischer Gedankenarmut — schreibt
H. von Treitschke in seinem prachtvollen Essay über die Republik der vereinigten
Niederlande — hadern die Theologen über die wie zum Hohne sogenannten
Konkordienfvrmeln der Albertiner, über die dogmatischen Schrullen der erne-
stinischen »Betefürsten,« die Pfaffen der neuen Kirche fluchen einander hinab
in die Tiefen der Hölle um der Frage willen, ob die Erbsünde auch in den
Leibern der selig Verstorbnen fest hafte bis zum jüngsten Tage." Leider wahr!
Wenn er aber im Eingange der genannten Abhandlung sagt: „Reiner, herr¬
licher hat nie eine Umwälzung begonnen, als unsre Kirchenreformation begann.
Alles Eigenste und Höchste unsers Wesens war im Aufruhr, der Ernst deut¬
schen Forschermutes und die Wahrhaftigkeit des deutschen Gewissens. Und
wie Luthers Werk aus den Tiefen der deutschen Volksseele entsprang, so war
es auch die letzte große That, welche die Söhne aller unsrer Stämme zu ge¬
meinsamem Schaffen vereinigte. Deutschland war protestantisch"; und wenn
er gleich darauf beklagt, daß die schöpferische Kraft des Luthertums schon in
der Mitte des Jahrhunderts versiegt gewesen sei, daß sich die Nation unfähig
erwiesen habe, einem Geguer von sehr mäßiger Stärke gegenüber die Selbst-
ständigkeit ihres Glaubens und ihres Staates zu beweisen; wenn er über den
Teil, der nicht unter das Joch des Katholizismus zurückgeführt wurde, mit
schmerzlicher Entrüstung das harte Urteil fällt: ,,Es ist nicht anders, das
Luthertum jener Tage stand nicht nur politisch, sondern auch sittlich tief unter
dem verjüngten Katholizismus" — so giebt das zwar ein Bild von packender
Tragik ab, aber eben die Größe des Gegensatzes zwingt doch zu der kritischen
Frage, ob ein so plötzlicher Verfall einer ganzen großen Nation wohl denkbar
sei? Was Treitschke von der Reinheit und Herrlichkeit des Anfangs sagt, das
gilt ganz gewiß von Luther und einigen ihm verwandten Seelen, aber es gilt
nicht von der „deutschen Volksseele," wenn damit die Gesamtheit der Seelen
der Deutschen gemeint ist. Denn die Deutschen waren zum größten Teile


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[0461] Geschichtsphilosophische Gedanke» mit Fingern zeigte, und daß ihn seine derben Satiren auf die Geistlichkeit weder die Gunst seines Bischofs, noch die Liebe seiner Gemeinde kosteten, noch überhaupt irgend welche Belästigung zuzogen. Und gar die Glaubensfreiheit! Wie elend stand es um die am Eude des großen Jahrhunderts! Die Inquisition, die sich im Lichte des Humanismus kaum hervorgewagt hatte, war zu neuem Leben erwacht und wütete in dein Gebiete jeder der drei Konfessionen gegen die beiden andern. Um 1500 durfte man jede Meinung ungestraft aussprechen, wofern man nur nichts that, Ums den materiellen Bestand der Hierarchie zu gefährden geeignet schien. Um 1578 wurden in lutherischen Landen fromme gläubige Prediger von Amt und Brot gejagt, wenn sie sich weigerten, die ihnen vorgelegte Zwangsformel zu unter¬ schreiben, und die Pfarrersfrauen lagen dem Ehegemahl mit dem Sprüchlein im Ohr: Schreibt, lieber Herre, schreibt, daß ihr bei der Pfarre bleibt. „Mit byzantinischem Fanatismus und byzantinischer Gedankenarmut — schreibt H. von Treitschke in seinem prachtvollen Essay über die Republik der vereinigten Niederlande — hadern die Theologen über die wie zum Hohne sogenannten Konkordienfvrmeln der Albertiner, über die dogmatischen Schrullen der erne- stinischen »Betefürsten,« die Pfaffen der neuen Kirche fluchen einander hinab in die Tiefen der Hölle um der Frage willen, ob die Erbsünde auch in den Leibern der selig Verstorbnen fest hafte bis zum jüngsten Tage." Leider wahr! Wenn er aber im Eingange der genannten Abhandlung sagt: „Reiner, herr¬ licher hat nie eine Umwälzung begonnen, als unsre Kirchenreformation begann. Alles Eigenste und Höchste unsers Wesens war im Aufruhr, der Ernst deut¬ schen Forschermutes und die Wahrhaftigkeit des deutschen Gewissens. Und wie Luthers Werk aus den Tiefen der deutschen Volksseele entsprang, so war es auch die letzte große That, welche die Söhne aller unsrer Stämme zu ge¬ meinsamem Schaffen vereinigte. Deutschland war protestantisch"; und wenn er gleich darauf beklagt, daß die schöpferische Kraft des Luthertums schon in der Mitte des Jahrhunderts versiegt gewesen sei, daß sich die Nation unfähig erwiesen habe, einem Geguer von sehr mäßiger Stärke gegenüber die Selbst- ständigkeit ihres Glaubens und ihres Staates zu beweisen; wenn er über den Teil, der nicht unter das Joch des Katholizismus zurückgeführt wurde, mit schmerzlicher Entrüstung das harte Urteil fällt: ,,Es ist nicht anders, das Luthertum jener Tage stand nicht nur politisch, sondern auch sittlich tief unter dem verjüngten Katholizismus" — so giebt das zwar ein Bild von packender Tragik ab, aber eben die Größe des Gegensatzes zwingt doch zu der kritischen Frage, ob ein so plötzlicher Verfall einer ganzen großen Nation wohl denkbar sei? Was Treitschke von der Reinheit und Herrlichkeit des Anfangs sagt, das gilt ganz gewiß von Luther und einigen ihm verwandten Seelen, aber es gilt nicht von der „deutschen Volksseele," wenn damit die Gesamtheit der Seelen der Deutschen gemeint ist. Denn die Deutschen waren zum größten Teile

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/461>, abgerufen am 26.08.2024.