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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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störend empfunden worden, daß bis auf den heutigen Tag die allerwenigsten
Menschen nur eine Ahnung davon haben. Nun sagt freilich Förster, diese
Zeitverschiebung sei eine wohlbedachte Maßregel gewesen, die in der allgemeinen
Geltung für die ganze Erde ihre gerechtfertigte Grundlage gehabt habe;
während diese Grundlage "den Plänen der neuesten Menschenweisheit" gänzlich
fehle. Wir bestreikn die Berechtigung jener Maßregel nicht im geringsten.
Wir dürfen aber aus den augeführten Thatsachen allein schon folgern, daß
eine Verschiebung der Uhrenzeit im Verhältnis zur Sonnenzeit jedenfalls im
Umfange einer Viertelstunde im bürgerlichen Leben gar nicht empfunden wird.
Und danach würde auch eine solche Verschiebung, wenn sie durch Einführung
der Zonenzeit herbeigeführt würde, jedenfalls da, wo die Verschiebung eine
Viertelstunde nicht übersteigt, also innerhalb eines Bereichs, das sich östlich
durch die Städte Danzig und Thorn, westlich durch die Städte Schwerin,
Halberstadt, Erfurt, Nürnberg und München begrenzte, gar nicht empfunden
werden.

Wenn überhaupt eine Beschwerung stattfände, so würde sie vornehmlich
den Westen von Deutschland, sagen wir kurz die Rheinlande treffen, indem
für diese die Uhreuzeit durchschnittlich um eine halbe Stunde und für manche
Orte noch um einige Minuten darüber hinaus vorgerückt werden würde. Aber
auch daraus würde kein unerträglicher Zustand erwachsen.

Unser ganzes bürgerliches Leben richtet sich schon längst nicht mehr nach
der Sonnenzeit. Wollten wir nach der Sonne leben, so müßten wir, wenn
wir für unsern Schlaf 8 Stunden rechnen, um 8 Uhr abends zu Bette gehen
und um 4 Uhr morgens aufstehen. Wer thut das noch? Es geschieht nicht
einmal mehr auf dem Lande, wo man doch noch am meisten naturgemäß lebt.
Unser bürgerliches Leben spielt sich durchschnittlich innerhalb der Stunden von
6 Uhr morgens bis 10 Uhr abends ab. Es ist also um zwei ganze Stunden
nach der Abendseite hin vorgerückt, und die Neigung, am Schlüsse des Tages
in die Nacht hineinzuleben, hat sich im Laufe der Jahre immer noch gesteigert.
Gesetzt nun auch, die Vorschiebung des Uhrzeigers hätte wirklich die Folge,
daß unser Leben wieder um eine halbe Stunde nach dem Morgen hin zurück¬
geschoben würde: wäre denn das ein Unglück? Wir würden dadurch nur dem
Naturstande wieder näher treten.

Fragen wir, worin die Mißempfindung liegen soll, die sich an die Vor-
schiebung der Uhreuzeit knüpfen würde, so würde sie sicherlich nicht in der
Veränderung des Mittags liegen. Denn für den Mittag als solchen, d. h.
für den höchsten Stand der Sonne haben wir gar keine natürliche Empfin¬
dung. Unmittelbar unsern Sinnen macht sich nur das Hell- und Dunkel¬
werden am Morgen und Abend, also der Auf- und Untergang der Sonne
fühlbar. Niemand würde es aber wohl mißempfinden, daß es am Abend
(scheinbar) eine halbe Stunde länger hell bliebe. Als Gegenstand einer Miß-


störend empfunden worden, daß bis auf den heutigen Tag die allerwenigsten
Menschen nur eine Ahnung davon haben. Nun sagt freilich Förster, diese
Zeitverschiebung sei eine wohlbedachte Maßregel gewesen, die in der allgemeinen
Geltung für die ganze Erde ihre gerechtfertigte Grundlage gehabt habe;
während diese Grundlage „den Plänen der neuesten Menschenweisheit" gänzlich
fehle. Wir bestreikn die Berechtigung jener Maßregel nicht im geringsten.
Wir dürfen aber aus den augeführten Thatsachen allein schon folgern, daß
eine Verschiebung der Uhrenzeit im Verhältnis zur Sonnenzeit jedenfalls im
Umfange einer Viertelstunde im bürgerlichen Leben gar nicht empfunden wird.
Und danach würde auch eine solche Verschiebung, wenn sie durch Einführung
der Zonenzeit herbeigeführt würde, jedenfalls da, wo die Verschiebung eine
Viertelstunde nicht übersteigt, also innerhalb eines Bereichs, das sich östlich
durch die Städte Danzig und Thorn, westlich durch die Städte Schwerin,
Halberstadt, Erfurt, Nürnberg und München begrenzte, gar nicht empfunden
werden.

Wenn überhaupt eine Beschwerung stattfände, so würde sie vornehmlich
den Westen von Deutschland, sagen wir kurz die Rheinlande treffen, indem
für diese die Uhreuzeit durchschnittlich um eine halbe Stunde und für manche
Orte noch um einige Minuten darüber hinaus vorgerückt werden würde. Aber
auch daraus würde kein unerträglicher Zustand erwachsen.

Unser ganzes bürgerliches Leben richtet sich schon längst nicht mehr nach
der Sonnenzeit. Wollten wir nach der Sonne leben, so müßten wir, wenn
wir für unsern Schlaf 8 Stunden rechnen, um 8 Uhr abends zu Bette gehen
und um 4 Uhr morgens aufstehen. Wer thut das noch? Es geschieht nicht
einmal mehr auf dem Lande, wo man doch noch am meisten naturgemäß lebt.
Unser bürgerliches Leben spielt sich durchschnittlich innerhalb der Stunden von
6 Uhr morgens bis 10 Uhr abends ab. Es ist also um zwei ganze Stunden
nach der Abendseite hin vorgerückt, und die Neigung, am Schlüsse des Tages
in die Nacht hineinzuleben, hat sich im Laufe der Jahre immer noch gesteigert.
Gesetzt nun auch, die Vorschiebung des Uhrzeigers hätte wirklich die Folge,
daß unser Leben wieder um eine halbe Stunde nach dem Morgen hin zurück¬
geschoben würde: wäre denn das ein Unglück? Wir würden dadurch nur dem
Naturstande wieder näher treten.

Fragen wir, worin die Mißempfindung liegen soll, die sich an die Vor-
schiebung der Uhreuzeit knüpfen würde, so würde sie sicherlich nicht in der
Veränderung des Mittags liegen. Denn für den Mittag als solchen, d. h.
für den höchsten Stand der Sonne haben wir gar keine natürliche Empfin¬
dung. Unmittelbar unsern Sinnen macht sich nur das Hell- und Dunkel¬
werden am Morgen und Abend, also der Auf- und Untergang der Sonne
fühlbar. Niemand würde es aber wohl mißempfinden, daß es am Abend
(scheinbar) eine halbe Stunde länger hell bliebe. Als Gegenstand einer Miß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/450>, abgerufen am 26.08.2024.