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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Ein Evangelium des Naturalismus

Luftzug, so gewiß ist augenblicklich die überwiegende Stimmung die, daß man
sehnlichst nach einem Herkules zur Reinigung des Augiasstalles verlangt.

Dieser Wunsch ist nun in ganz unerwarteter Weise erfüllt worden durch
ein Buch, das unter dem Titel: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze
kürzlich in Berlin (bei Jßleib) erschienen ist. Die halbausgewachsenen Litte¬
raten der "Freien Bühne" haben zwar schon zwei Winter lang redlich das
Ihrige gethan, um dein deutschen Publikum den Geschmack an jenem wider¬
lichen Brei von Kot und Fusel, den sie als "Natur" vorsetzten, zu verderben.
Nun aber hat dieses Vues jede Illusion, mis steckte hinter dem Geschrei wenigstens
guter Wille und geistige Kraft, zerstört und deu unumstößlichen Beweis ge¬
liefert, daß es sich bei der ganzen Bewegung um nichts als litterarischen Humbug
handelt. Darin liegt ein großes Verdienst, das dadurch nicht gemindert wird,
daß es ein unfreiwilliges ist. Denn geschrieben hat das Buch Herr Arno
Holz, der eine Verfasser der "Familie Selickc," und gewidmet ist es Herrn
Johannes Schlaf, dem andern Verfasser der "Familie Selicke."

Als schriftstellerische Leistung ist das Buch freilich so ungenügend, daß es an
sich kaum Beachtung verdient. Aber es tritt mit den höchsten Ansprüchen auf.
Herr Holz unternimmt es, auf die Frage nach dem Wesen der Kunst eine
völlig neue Autwort zu geben, und zwar "auf Grund der zeitweilig trium-
Phirenden Weltanschauung." Er hofft damit eine Arbeit zu leisten, die er
als eine "Wohlthat für die gesamte Entwicklung" bezeichnet, als "eine
Brückenbanerin und Wegweiserin, ohne die es langsamer gehen würde."
Demgemäß ist das Werk auch von der jungdeutschen Partcipresse als eine
That der Erlösung gefeiert worden. Und den einen Vorzug hat es wirklich,
den Stand der Dinge in einer Nacktheit und Klarheit zur Anschauung zu
bringen, daß fortan jeder Zweifel ausgeschlossen sein muß. Gerade weil dem
Versasser die Fähigkeit, zu gestalten, jede eigentlich darstellerische Begabung
abgeht, treten die Gedanken und damit das innerste Wesen des Naturalismus
um so schärfer hervor, und dies auf einem Gebiete, wo jeder deu Geguer
zwingen kann, auf dem Gebiete der Kunstphilosophie. Denn gegen die natu¬
ralistischen Theaterstücke ließ sich ja kaum etwas ausrichten, weder durch
Schelten noch durch Schweigen: as guLtibus non ost ÄisxutMÄuur. Aber
sobald sich die Herren an die wissenschaftliche Theorie wagen, kann man ihnen
doch zu Leibe gehen: Gedanken lassen sich bekämpfen nud beseitigen. Insofern
hat das Buch in der That eine Bedeutung, die eine Besprechung wünschens¬
wert macht.

Herr Holz verzichtet allerdings darauf, seine Entdeckungen systematisch
vorzutragen -- notgedrungen oder doch aus guten Gründen; er zieht es vor,
zu erzählen, wie ihm allmählich die Offenbarung der neuen Heilsbotschaft ge¬
kommen ist. Da er überdies der zweifellos richtigen, wenn auch nicht über¬
raschend neuen Ansicht ist, daß "der Wert eines wissenschaftlichen Werkes nicht


Ein Evangelium des Naturalismus

Luftzug, so gewiß ist augenblicklich die überwiegende Stimmung die, daß man
sehnlichst nach einem Herkules zur Reinigung des Augiasstalles verlangt.

Dieser Wunsch ist nun in ganz unerwarteter Weise erfüllt worden durch
ein Buch, das unter dem Titel: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze
kürzlich in Berlin (bei Jßleib) erschienen ist. Die halbausgewachsenen Litte¬
raten der „Freien Bühne" haben zwar schon zwei Winter lang redlich das
Ihrige gethan, um dein deutschen Publikum den Geschmack an jenem wider¬
lichen Brei von Kot und Fusel, den sie als „Natur" vorsetzten, zu verderben.
Nun aber hat dieses Vues jede Illusion, mis steckte hinter dem Geschrei wenigstens
guter Wille und geistige Kraft, zerstört und deu unumstößlichen Beweis ge¬
liefert, daß es sich bei der ganzen Bewegung um nichts als litterarischen Humbug
handelt. Darin liegt ein großes Verdienst, das dadurch nicht gemindert wird,
daß es ein unfreiwilliges ist. Denn geschrieben hat das Buch Herr Arno
Holz, der eine Verfasser der „Familie Selickc," und gewidmet ist es Herrn
Johannes Schlaf, dem andern Verfasser der „Familie Selicke."

Als schriftstellerische Leistung ist das Buch freilich so ungenügend, daß es an
sich kaum Beachtung verdient. Aber es tritt mit den höchsten Ansprüchen auf.
Herr Holz unternimmt es, auf die Frage nach dem Wesen der Kunst eine
völlig neue Autwort zu geben, und zwar „auf Grund der zeitweilig trium-
Phirenden Weltanschauung." Er hofft damit eine Arbeit zu leisten, die er
als eine „Wohlthat für die gesamte Entwicklung" bezeichnet, als „eine
Brückenbanerin und Wegweiserin, ohne die es langsamer gehen würde."
Demgemäß ist das Werk auch von der jungdeutschen Partcipresse als eine
That der Erlösung gefeiert worden. Und den einen Vorzug hat es wirklich,
den Stand der Dinge in einer Nacktheit und Klarheit zur Anschauung zu
bringen, daß fortan jeder Zweifel ausgeschlossen sein muß. Gerade weil dem
Versasser die Fähigkeit, zu gestalten, jede eigentlich darstellerische Begabung
abgeht, treten die Gedanken und damit das innerste Wesen des Naturalismus
um so schärfer hervor, und dies auf einem Gebiete, wo jeder deu Geguer
zwingen kann, auf dem Gebiete der Kunstphilosophie. Denn gegen die natu¬
ralistischen Theaterstücke ließ sich ja kaum etwas ausrichten, weder durch
Schelten noch durch Schweigen: as guLtibus non ost ÄisxutMÄuur. Aber
sobald sich die Herren an die wissenschaftliche Theorie wagen, kann man ihnen
doch zu Leibe gehen: Gedanken lassen sich bekämpfen nud beseitigen. Insofern
hat das Buch in der That eine Bedeutung, die eine Besprechung wünschens¬
wert macht.

Herr Holz verzichtet allerdings darauf, seine Entdeckungen systematisch
vorzutragen — notgedrungen oder doch aus guten Gründen; er zieht es vor,
zu erzählen, wie ihm allmählich die Offenbarung der neuen Heilsbotschaft ge¬
kommen ist. Da er überdies der zweifellos richtigen, wenn auch nicht über¬
raschend neuen Ansicht ist, daß „der Wert eines wissenschaftlichen Werkes nicht


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[0043] Ein Evangelium des Naturalismus Luftzug, so gewiß ist augenblicklich die überwiegende Stimmung die, daß man sehnlichst nach einem Herkules zur Reinigung des Augiasstalles verlangt. Dieser Wunsch ist nun in ganz unerwarteter Weise erfüllt worden durch ein Buch, das unter dem Titel: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze kürzlich in Berlin (bei Jßleib) erschienen ist. Die halbausgewachsenen Litte¬ raten der „Freien Bühne" haben zwar schon zwei Winter lang redlich das Ihrige gethan, um dein deutschen Publikum den Geschmack an jenem wider¬ lichen Brei von Kot und Fusel, den sie als „Natur" vorsetzten, zu verderben. Nun aber hat dieses Vues jede Illusion, mis steckte hinter dem Geschrei wenigstens guter Wille und geistige Kraft, zerstört und deu unumstößlichen Beweis ge¬ liefert, daß es sich bei der ganzen Bewegung um nichts als litterarischen Humbug handelt. Darin liegt ein großes Verdienst, das dadurch nicht gemindert wird, daß es ein unfreiwilliges ist. Denn geschrieben hat das Buch Herr Arno Holz, der eine Verfasser der „Familie Selickc," und gewidmet ist es Herrn Johannes Schlaf, dem andern Verfasser der „Familie Selicke." Als schriftstellerische Leistung ist das Buch freilich so ungenügend, daß es an sich kaum Beachtung verdient. Aber es tritt mit den höchsten Ansprüchen auf. Herr Holz unternimmt es, auf die Frage nach dem Wesen der Kunst eine völlig neue Autwort zu geben, und zwar „auf Grund der zeitweilig trium- Phirenden Weltanschauung." Er hofft damit eine Arbeit zu leisten, die er als eine „Wohlthat für die gesamte Entwicklung" bezeichnet, als „eine Brückenbanerin und Wegweiserin, ohne die es langsamer gehen würde." Demgemäß ist das Werk auch von der jungdeutschen Partcipresse als eine That der Erlösung gefeiert worden. Und den einen Vorzug hat es wirklich, den Stand der Dinge in einer Nacktheit und Klarheit zur Anschauung zu bringen, daß fortan jeder Zweifel ausgeschlossen sein muß. Gerade weil dem Versasser die Fähigkeit, zu gestalten, jede eigentlich darstellerische Begabung abgeht, treten die Gedanken und damit das innerste Wesen des Naturalismus um so schärfer hervor, und dies auf einem Gebiete, wo jeder deu Geguer zwingen kann, auf dem Gebiete der Kunstphilosophie. Denn gegen die natu¬ ralistischen Theaterstücke ließ sich ja kaum etwas ausrichten, weder durch Schelten noch durch Schweigen: as guLtibus non ost ÄisxutMÄuur. Aber sobald sich die Herren an die wissenschaftliche Theorie wagen, kann man ihnen doch zu Leibe gehen: Gedanken lassen sich bekämpfen nud beseitigen. Insofern hat das Buch in der That eine Bedeutung, die eine Besprechung wünschens¬ wert macht. Herr Holz verzichtet allerdings darauf, seine Entdeckungen systematisch vorzutragen — notgedrungen oder doch aus guten Gründen; er zieht es vor, zu erzählen, wie ihm allmählich die Offenbarung der neuen Heilsbotschaft ge¬ kommen ist. Da er überdies der zweifellos richtigen, wenn auch nicht über¬ raschend neuen Ansicht ist, daß „der Wert eines wissenschaftlichen Werkes nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/43>, abgerufen am 23.07.2024.