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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Wilhelm Imsen

er es sofort, ja er zöge dagegen zu Felde. Vielleicht hat sich einmal ein
Kritiker gegen diese Geschmacksverirrung, als sie zuerst auftauchte, gewandt;
wie unser Friese einmal ist, wäre er dann im Stande, sie nun erst recht
der "Prüderie" zum Trotz und immer wieder bis zur Schablone zu
bringen. Das erscheint sogar als die wahrscheinlichste Erklärung, denn im
"Vorherbst," wo nur wirkliche eigenste Art ist, findet sich, wie gesagt, derlei
überhaupt nicht.

Imsen wird nun aber nicht bestreikn können, daß er durch einzelne
Eigentümlichkeiten oder Äußerlichkeiten seines langen Schaffens für ein paar
Haupttendenzen, mit denen sich das "jüngste Deutschland" oder die "Moderne"
breit macht, mit am meisten Bresche gelegt hat. Natürlich ohne die
Absicht solchen Erfolges. Er steht zur "Moderne" ungefähr in dem Ver¬
hältnis wie der Liberalismus der Bourgeoisie zur Sozialdemokratie; die
Parallele erstreckt sich auch uoch weiter: auf den bittern Gegensatz zwischen
dem "vorurteilsfreien" Vater und dem Töchterlein, das gelehrig der freien
Erziehung gelauscht hat, dann aber eines schönen Tages sagt: "So, nun finde
ich mich allem weiter" und dem händeringenden Erzeuger höhnisch mit einigen
von seinen eignen Doktrinen Autwort giebt. In München lief vor kurzem ein
böses, böses, aber sehr gutes Epigramm um, das die "Dichter von gestern"
und die "von heute" als Erwiderung aus einen in der "Moderne" gehaltenen
Vortrng in Vergleich stellte; das wurde wohl nicht mit Unrecht allgemein ans
Imsen zurückgeführt. Auch in seinem "Vorherbst," der an sich so gar nicht
polemisch ist, steht eine Distichenreihe "Kunst und Naturalismus," und auch
sonst runzelt er verächtlich die Stirn über unsre Zeit, ihre am meisten zu
Tage liegenden litterarischen Bewegungen und Neigungen und das dazu ge¬
hörige Publikum:


Ein letztes, armes Stück begrabner Zeit
Steht heut die Dichtung unter fremder Menge,
Die um sie her zu neuen Göttern schreit.
Es achtet keiner ihrer im Gedränge,
Wie sie im alten, modelosen Kleid
Dahingeht, auf den Lippen leise Klänge,
Die einst an ihrer Wiege noch geklungen;
Nur lachen da und dort die Gassenjungen --

Diese Gedichtsammlung ist, wie gesagt, eine Gabe aus dem innersten
Herzen, ein geheim geführtes Tagebuch, das zum erstenmale den Dichter ganz
erschließt und uns damit vielfach überrascht. Hier zum erstenmale erführe es
der Leser auch deutlicher, wie viele rührende Weichheit und Milde hinter
all der Schroffheit steht, die sich Imsen vor dem Publikum und für dieses
angewöhnt hat, welches tiefe, sast anachoretische Verlangen nach einer trans¬
zendentalen Wel't hinter dem unablässigen Gottesleugner", welche Romantik,
welches Lobpreisen der Vergangenheit, welche Sehnsucht nach den still beschau-


Wilhelm Imsen

er es sofort, ja er zöge dagegen zu Felde. Vielleicht hat sich einmal ein
Kritiker gegen diese Geschmacksverirrung, als sie zuerst auftauchte, gewandt;
wie unser Friese einmal ist, wäre er dann im Stande, sie nun erst recht
der „Prüderie" zum Trotz und immer wieder bis zur Schablone zu
bringen. Das erscheint sogar als die wahrscheinlichste Erklärung, denn im
„Vorherbst," wo nur wirkliche eigenste Art ist, findet sich, wie gesagt, derlei
überhaupt nicht.

Imsen wird nun aber nicht bestreikn können, daß er durch einzelne
Eigentümlichkeiten oder Äußerlichkeiten seines langen Schaffens für ein paar
Haupttendenzen, mit denen sich das „jüngste Deutschland" oder die „Moderne"
breit macht, mit am meisten Bresche gelegt hat. Natürlich ohne die
Absicht solchen Erfolges. Er steht zur „Moderne" ungefähr in dem Ver¬
hältnis wie der Liberalismus der Bourgeoisie zur Sozialdemokratie; die
Parallele erstreckt sich auch uoch weiter: auf den bittern Gegensatz zwischen
dem „vorurteilsfreien" Vater und dem Töchterlein, das gelehrig der freien
Erziehung gelauscht hat, dann aber eines schönen Tages sagt: „So, nun finde
ich mich allem weiter" und dem händeringenden Erzeuger höhnisch mit einigen
von seinen eignen Doktrinen Autwort giebt. In München lief vor kurzem ein
böses, böses, aber sehr gutes Epigramm um, das die „Dichter von gestern"
und die „von heute" als Erwiderung aus einen in der „Moderne" gehaltenen
Vortrng in Vergleich stellte; das wurde wohl nicht mit Unrecht allgemein ans
Imsen zurückgeführt. Auch in seinem „Vorherbst," der an sich so gar nicht
polemisch ist, steht eine Distichenreihe „Kunst und Naturalismus," und auch
sonst runzelt er verächtlich die Stirn über unsre Zeit, ihre am meisten zu
Tage liegenden litterarischen Bewegungen und Neigungen und das dazu ge¬
hörige Publikum:


Ein letztes, armes Stück begrabner Zeit
Steht heut die Dichtung unter fremder Menge,
Die um sie her zu neuen Göttern schreit.
Es achtet keiner ihrer im Gedränge,
Wie sie im alten, modelosen Kleid
Dahingeht, auf den Lippen leise Klänge,
Die einst an ihrer Wiege noch geklungen;
Nur lachen da und dort die Gassenjungen —

Diese Gedichtsammlung ist, wie gesagt, eine Gabe aus dem innersten
Herzen, ein geheim geführtes Tagebuch, das zum erstenmale den Dichter ganz
erschließt und uns damit vielfach überrascht. Hier zum erstenmale erführe es
der Leser auch deutlicher, wie viele rührende Weichheit und Milde hinter
all der Schroffheit steht, die sich Imsen vor dem Publikum und für dieses
angewöhnt hat, welches tiefe, sast anachoretische Verlangen nach einer trans¬
zendentalen Wel't hinter dem unablässigen Gottesleugner«, welche Romantik,
welches Lobpreisen der Vergangenheit, welche Sehnsucht nach den still beschau-


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[0422] Wilhelm Imsen er es sofort, ja er zöge dagegen zu Felde. Vielleicht hat sich einmal ein Kritiker gegen diese Geschmacksverirrung, als sie zuerst auftauchte, gewandt; wie unser Friese einmal ist, wäre er dann im Stande, sie nun erst recht der „Prüderie" zum Trotz und immer wieder bis zur Schablone zu bringen. Das erscheint sogar als die wahrscheinlichste Erklärung, denn im „Vorherbst," wo nur wirkliche eigenste Art ist, findet sich, wie gesagt, derlei überhaupt nicht. Imsen wird nun aber nicht bestreikn können, daß er durch einzelne Eigentümlichkeiten oder Äußerlichkeiten seines langen Schaffens für ein paar Haupttendenzen, mit denen sich das „jüngste Deutschland" oder die „Moderne" breit macht, mit am meisten Bresche gelegt hat. Natürlich ohne die Absicht solchen Erfolges. Er steht zur „Moderne" ungefähr in dem Ver¬ hältnis wie der Liberalismus der Bourgeoisie zur Sozialdemokratie; die Parallele erstreckt sich auch uoch weiter: auf den bittern Gegensatz zwischen dem „vorurteilsfreien" Vater und dem Töchterlein, das gelehrig der freien Erziehung gelauscht hat, dann aber eines schönen Tages sagt: „So, nun finde ich mich allem weiter" und dem händeringenden Erzeuger höhnisch mit einigen von seinen eignen Doktrinen Autwort giebt. In München lief vor kurzem ein böses, böses, aber sehr gutes Epigramm um, das die „Dichter von gestern" und die „von heute" als Erwiderung aus einen in der „Moderne" gehaltenen Vortrng in Vergleich stellte; das wurde wohl nicht mit Unrecht allgemein ans Imsen zurückgeführt. Auch in seinem „Vorherbst," der an sich so gar nicht polemisch ist, steht eine Distichenreihe „Kunst und Naturalismus," und auch sonst runzelt er verächtlich die Stirn über unsre Zeit, ihre am meisten zu Tage liegenden litterarischen Bewegungen und Neigungen und das dazu ge¬ hörige Publikum: Ein letztes, armes Stück begrabner Zeit Steht heut die Dichtung unter fremder Menge, Die um sie her zu neuen Göttern schreit. Es achtet keiner ihrer im Gedränge, Wie sie im alten, modelosen Kleid Dahingeht, auf den Lippen leise Klänge, Die einst an ihrer Wiege noch geklungen; Nur lachen da und dort die Gassenjungen — Diese Gedichtsammlung ist, wie gesagt, eine Gabe aus dem innersten Herzen, ein geheim geführtes Tagebuch, das zum erstenmale den Dichter ganz erschließt und uns damit vielfach überrascht. Hier zum erstenmale erführe es der Leser auch deutlicher, wie viele rührende Weichheit und Milde hinter all der Schroffheit steht, die sich Imsen vor dem Publikum und für dieses angewöhnt hat, welches tiefe, sast anachoretische Verlangen nach einer trans¬ zendentalen Wel't hinter dem unablässigen Gottesleugner«, welche Romantik, welches Lobpreisen der Vergangenheit, welche Sehnsucht nach den still beschau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/422>, abgerufen am 26.08.2024.